Mordfall Lübcke: BGH überprüft fragwürdigen Freispruch des möglichen zweiten Täters Markus H.

 

BGH in Karlsruhe. Bild: ComQuat/CC BY-SA-3.0

Die zentrale offen gebliebene Frage zum Mord an Walter Lübcke ist die: War neben Stephan Ernst, der gestanden hat, den CDU-Politiker und Regierungspräsidenten von Kassel erschossen zu haben, auch dessen Freund und Neonazi-Kamerad Markus H. bei dem Attentat dabei?

Ernst sagt: Ja, Markus H. war dabei. Die Bundesanwaltschaft (BAW) und das Oberlandesgericht in Frankfurt/M. sagten: Nein. Für die BAW handelte es sich erneut um die Tat eines Einzeltäters – so wie beim LKW-Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin, bei der Oktoberfest-Bombe in München, oder bei den NSU-Morden, die von zwei (Einzel-) Tätern verübt worden sein sollen.

Walter Lübcke wurde in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha durch einen Schuss in den Kopf getötet. Auf seinem Hemd wurde die DNA von Stephan Ernst gesichert. Er gestand die Tat, widerrief dann sein Geständnis und erklärte, Markus H. sei dabei gewesen. Der habe Lübcke versehentlich getroffen, als sich ein Schuss aus der Waffe löste. In einer dritten Version sagte Ernst dann aus, H. habe Lübcke abgelenkt und er, Ernst, sei der Schütze gewesen. Bei dieser Version blieb er.

Von Juni 2020 bis Januar 2021 verhandelte das Oberlandesgericht Frankfurt/M. den Mord sowie einen Messerangriff auf einen irakischen Asylsuchenden, für den Ernst ebenfalls beschuldigt wurde. Am 28. Januar 2021 ergingen die Urteile: Ernst wurde für den Mord an Lübcke zu lebenslanger Haft verurteilt, für den Messerangriff wurde er freigesprochen. Markus H. wurde für den Mord an Lübcke freigesprochen, wobei ihm durch die Bundesanwaltschaft sowieso nur eine unbestimmte „Beihilfe“ vorgeworfen worden war. Wegen illegalen Waffenbesitzes wurde H. zu einer 18-monatigen Haftstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ernst wandert also lebenslang in den Knast, sein Kamerad ist ein freier Mann.

Sämtliche Prozessparteien legten gegen die Urteile Revision ein. Ernsts Verteidigung sieht in der Tat keinen Mord, sondern lediglich einen Totschlag und verneint die Mordmerkmale Heimtücke und niedere Beweggründe. Sie verlangt die Aufhebung des Urteils und einen neuen Prozess. Die Verteidigung von Markus H. will seine Verurteilung auf Bewährung wegen des Waffendeliktes aufgehoben haben. Die als Nebenkläger auftretende Familie Lübcke will den Freispruch für Markus H. bezüglich des Mordes an ihrem Ehemann und Vater aufgehoben wissen und verlangt einen neuen Prozess gegen H. Die Bundesanwaltschaft greift ebenfalls den Freispruch von H. an und will einen neuen Prozess gegen ihn, aber nicht wegen Mittäterschaft, sondern erneut nur wegen Beihilfe. Wegen der Messerattacke auf den irakischen Flüchtling Ahmed I. fordert die BAW ebenfalls einen neuen Prozess, räumt gleichzeitig aber ein, dass der nicht zwingend zu einem anderen Urteil gegen Ernst, also Freispruch, führe. Die Verteidigung des Opfers und Nebenklägers sieht es ähnlich wie die BAW und beantragte die Aufhebung des Freispruchs von Ernst.

Insgesamt sechs Revisionsanträge also, Urteilssprüche, die von allen Prozessparteien angefochten werden: Ausdruck der vielen Ungelöstheiten in dem Tatkomplex. Offensichtlich sollte in dem Prozess vor dem OLG Frankfurt/M. nicht alles rückhaltlos aufgeklärt werden. Das wäre eine Parallele zum NSU-Prozess von München. Für den Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel war die Urteilsverkündung zugleich seine letzte Amtshandlung. Danach ging er mit 64 in den Ruhestand.

Im Zentrum der Gemengelage dieses Verfahrens steht vor allem der Angeklagte Markus H. und die Frage, welche Rolle er bei dem Mord spielte. Die Familie Lübcke ist überzeugt, dass er bei der Tat am 1. Juni 2019 dabei war. Sollte das stimmen, wofür es Indizien gibt, dann wäre die Freisprechung von H. dramatisch und müsste zu grundlegenden Fragen zu seiner Person führen.

Er wird vor allem von seinem langjährigen Kumpel Stephan Ernst belastet, der ausgesagt hat, H. habe sich vor Walter Lübcke aufgebaut und ihn angesprochen. Er, Ernst, sei neben dem Opfer gestanden und habe ihm dann einige Augenblicke später in den Kopf geschossen. Der Anwalt der Familie Lübcke sieht daneben forensische Indizien, die diese Tatversion stützten. Lübcke war durch H. abgelenkt und schaute geradeaus zu ihm und nicht zum Schützen rechts von sich, was den Schusskanal im Kopf der Opfers erkläre. Hinzu komme die DNA von Ernst auf dem Hemd von Lübcke. Die Bundesanwaltschaft war der Meinung, Ernst habe nach dem Schuss das auf dem Boden liegende Opfer noch angefasst, um zu prüfen, ob es tot ist. Ernst hingegen sagt, er habe Lübcke angefasst und in seinen Stuhl gedrückt, als der aufstehen wollte, weil H. auf ihn zuging.

Nebenbei belastet sich Ernst damit selber maximal. Denn dadurch ist, entgegen der Ansicht von Ernsts Verteidiger, das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Lübcke hatte keine Chance sich zu wehren. Die Tat war also kein Totschlag und Ernst selber will sie auch nicht als Totschlag gewertet wissen. Er ist im Prinzip sein eigener Belastungszeuge und schont sich mit seinen Angaben am wenigsten.

Für den Lübcke-Anwalt Holger Matt wiederum erklärt die Aussage von Ernst, er habe Lübcke in seinen Stuhl zurückgedrückt, warum sich dessen DNA überhaupt am Opfer fand. Diese Berührung von Lübcke mache nur Sinn, weil ihn eine andere Person konfrontiert. Hätte Ernst alleine gehandelt, wäre eine solche Bewegung überflüssig gewesen, er hätte direkt geschossen.

Sollte Markus H. verschont werden?

Man könnte die Frage nach Ernsts DNA auf dem Hemd von Lübcke aber noch weiter zuspitzen. Ist es Zufall, dass sie sichergestellt wurde oder ist es Standard, dass ein Opfer komplett nach fremder DNA abgesucht wird, selbst nach einer Distanztat? Oder hat es möglicherweise einen Hinweis eines Zeugen gegeben? Der wäre, sollte Ernsts Darstellung der Tat stimmen: Markus H. Tatsächlich soll sich der Kasseler Neonazi Mike S., der sowohl Ernst als auch H. kannte, nach dem Mord beim LKA gemeldet und Angaben über Ernst gemacht haben. Welcher Art die waren, ist nicht bekannt.

Eine weitere Kontaktperson von Mike S. war übrigens der Verfassungsschutz-Spitzel Benjamin G., der vom VS-Beamten Andreas Temme einst als Quelle geführt wurde. Temme wiederum hielt sich am Tatort auf, als im April 2006 in Kassel der Deutsch-Türke Halit Yozgat erschossen wurde – der neunte NSU-Mord. In diesem Gesamtkontext scheint sich auch der Lübcke-Mord zu bewegen.

Die Anklagebehörde Bundesanwaltschaft spielte von Anfang an eine entscheidende Rolle bei der prozessualen (Sonder-)Behandlung von Markus H. Indem sie ihn nur wegen des „Verdachts auf Beihilfe zum Mord“ anklagte, hielt sie seinen Tatbeitrag klein. Für sie war H. weder am Tatort noch in den Tatplan eingeweiht. Er habe Ernst lediglich allgemein in seinem Entschluss bestärkt. Gleichzeitig war damit auch eine Verurteilung etwa wegen „Mittäterschaft“ ausgeschlossen. Verurteilt kann nur werden, was auch angeklagt ist. Allerdings kann ein Gericht, wenn es will, selber Beweise erheben und andere Anklagevorwürfen formulieren, die es dann dem Angeklagten mitteilt. Tatsächlich kam es in der Hauptverhandlung in Frankfurt/M. unter anderem durch die Aussagen von Stephan Ernst zu weiteren Tatindizien. Bemerkenswerterweise erweiterte das Gericht die Anklage aber nicht auf Anstiftung, Mitwisser- oder gar Mittäterschaft, sondern stellte sogar die unbestimmt gehaltene Beihilfe in Frage und entließ H. aus der Untersuchungshaft.

Man könnte sagen: Die Bundesanwaltschaft hat durch die Art ihrer Ermittlungen und den relativ schwachen Tatvorwurf der Beihilfe die Voraussetzung geschaffen, dass das Gericht Markus H. freisprechen konnte. Ihr Lamento ist nicht besonders überzeugend, sondern wirkt eher wie taktisches Manöver. Denn, wenn H. wegen Beihilfe verurteilt wird, ist er zumindest verurteilt und kommt nicht mehr als Mittäter in Frage.

Doch warum sollte Markus H. mittels solcher Winkelzüge verschont werden? Die Frage führt unmittelbar zu der ebenso auffälligen wie ungeklärten Rolle, die der Angeklagte ganz offensichtlich spielt. So gibt es eine Reihe ernstzunehmender Hinweise darauf, dass H. in Verbindung mit einer Sicherheitsbehörde gewesen sein könnte oder es sogar noch ist. Mehrere Berührungspunkte H.s mit dem hessischen Verfassungsschutz (VS), wie Anwerbeversuche, oder das Zurückhalten von Informationen des VS über den Rechtsextremisten H. gegenüber der Waffenbehörde, sind bekannt geworden. Auf einer Fotografie, aufgenommen im Juni 2011 auf dem Anwesen des Neonazis Thorsten Heise im Harz, ist auch Stephan Ernst zu sehen. Das Besondere: Die Aufnahme befindet sich in der Ermittlungsakte des LKA zu Markus H. Das LKA wiederum hat das Foto vom hessischen Verfassungsschutz zur Verfügung gestellt bekommen. Markus H. also ein V-Mann?

Auch vor Gericht legte der 46-Jährige ein ziemlich auffälliges Verhalten an den Tag.

Er agierte in gewisser Weise anwaltsunabhängig. Ohne Rücksprache mit seinen beiden Verteidigern meldete sich H. immer wieder zu Wort. Dabei äußerte er Sätze wie: „Ich muss jetzt auch noch mal eingreifen.“ Der Angeklagte trat dann in inhaltliche Auseinandersetzungen mit LKA-Beamten und dem Vorsitzenden Richter etwa um seinen Computer und was darauf gespeichert war, oder um die Technik von Schusswaffen. Es kam sogar vor, dass sich H. von seinem Platz erhob und nach vorne zum Richtertisch ging, wo ein Waffentechniker des LKA stand, um sich dann an der Erörterung mittels einer an die Wand projizierten Skizze zu einer Schreckschusswaffe zu beteiligen. Ein so ungewöhnliches wie riskantes Verhalten, weil ein Angeklagter dadurch unfreiwillig prozessrelevante Informationen preisgeben kann. H. legte zum Beispiel offen, dass er über bestimmte Kenntnisse in Waffentechnik verfügt.

Jedenfalls erschien der Neonazi wie jemand, der keine Verteidigung brauche, der andere Schutzgarantien genieße. Und auch sein Stand als Neonazi erscheint einigermaßen ungewöhnlich. Bei der Hausdurchsuchung fand die Polizei nicht nur NS-Material, das umfangreicher als bei Ernst war, Militaria, Büsten von Hitler und Göring, NSDAP-Schriften beispielsweise, sondern auch Devotionalien aus der DDR: Eine DDR-Fahne, NVA-Spielzeug-Soldaten, ein Bild mit Markus H. in einer DDR-Uniform.

Markus H. war es, der jene Videosequenz von Lübckes Auftreten bei einer Bürgerversammlung im Oktober 2015, als der die Aufnahme von Flüchtlingen verteidigte, ins Netz stellte. Er soll Ernst in seinem Tatwillen bestärkt haben, so die BAW.

Stephan Ernst, der Mörder von Walter Lübcke, wirkte im Prozess immer wieder wie seltsam ferngesteuert, als ob er nicht richtig realisiere, was geschieht. Unter anderem sagte er einmal, er wisse gar nicht, wie er zu seinen anfänglichen Anwälten gekommen sei. Dabei handelt es sich um die rechten Szeneanwälte Dirk Waldschmidt und Frank Hannig. Auf ihre Initiative gingen die beiden ersten Geständnisversionen von Ernst (siehe oben) zurück. Von ihrer Seite kam der fragwürdige Vorstoß, Markus H. aus der eigentlichen Tat rauszuhalten. Dieses Verhalten war für den Angeklagten im Endeffekt verheerend, weil das Gericht damit begründen konnte, warum es Ernst zwar sein Geständnis glaubt, aber nicht dessen Beschuldigung von H. Zu der dritten und finalen Geständnisversion von Ernst kam es erst, als er mit Mustafa Kaplan einen neuen Verteidiger erhielt. Kaplan hatte im Münchner Zschäpe-Prozess ein NSU-Opfer vertreten.

Gab es noch mehr Täter?

Jedenfalls steht die Frage groß im Raum, ob der Mord von zwei Tätern verübt wurde. Zeugen haben in der Tatnacht auch zwei Autos gesehen, die vom Tatschauplatz weggefahren sind. Möglicherweise waren aber sogar noch mehr Täter im Spiel. Zum Beispiel der Waffenbeschaffer Elmar J., der im Juni 2019 ebenfalls festgenommen worden war. Doch dann trennte die Bundesanwaltschaft dessen Verfahren ab und gab es an die Staatsanwaltschaft Paderborn. Damit fehlte für die Einstufung der mutmaßlichen Täter als „Terroristische Vereinigung“ die dazu notwendige dritte Person.

Zu dieser Fragwürdigkeit passt der bemerkenswerte Auftritt eines Ermittlungsrichters am Bundesgerichtshof in dem Frankfurter Prozess. Er hatte Ende Juni 2019 die Haftbefehle gegen Markus H. und Elmar J. ausgesprochen. Der Haftantrag der BAW für H. lautete „Verdacht auf Beihilfe zum Mord“. Als der BGH-Richter diesen Beschluss gegenüber H. verkündete, habe der nachgefragt: „Nur Beihilfe zum Mord?“ Und: „Was ist mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung?“ Das verneinte der Richter, wie er als Zeuge vor Gericht erklärte. Er fand die Fragen des Beschuldigten aber derart auffällig, dass er dazu einen Vermerk schrieb. Offensichtlich ging H. also sowohl von einem Tat- und Täterzusammenhang von mindestens drei Personen aus, inklusive seiner eigenen Person.

Sollte es den vermuteten Hintergrund von Markus H. tatsächlich geben, stellen sich beim Mord an dem CDU-Politiker und Repräsentanten der politischen Ordnung der BRD, Walter Lübcke, noch ganz andere Fragen, zum Beispiel die nach dem wirklichen Motiv. Bisher konnten man den Eindruck gewinnen, dass lediglich die Familie Lübcke an schonungsloser Wahrheit interessiert ist. „Für uns ist es wichtig, die volle Wahrheit zu erfahren“, sagte Lübckes Ehefrau Irmgard Braun-Lübcke jetzt in der Revisionsverhandlung an die Richter des BGH gewandt. Das Urteil des OLG in Frankfurt lasse einige Fragen offen, die sie gerne geklärt hätten. Ob ihr der oberste Gerichtshof eine Hilfe sein wird, bleibt abzuwarten. Denn so, wie die BAW, die Staatsanwaltschaft am BGH, eine politische Behörde ist, die sich dem Staatsschutz verpflichtet sieht, ist der BGH ein politisches Gericht, das politisch entscheidet.

Die Urteile werden am 25. August 2022 verkündet.

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4 Kommentare

  1. Eine Zentralfrage ist doch : „Warum wurde Walter Lübke erschossen“ – wem war der im Wege oder wen störte er ?!
    Allein diese mysteriöse Sache mit dem DNA Beweis – das glaubt doch nur einer, der zu viele billige Krimis sieht.

    1. Nein, die Zentrale Frage ist doch wohl eher: Warum soll man seine Zeit an solche Themen verschwenden, wenn die Wahrscheinlichkeit irgendwann die Wahrheit zu dem Thema zu erfahren, eindeutig gegen NULL geht?

      Selbstverständlich sind Geheimdiente verwickelt, wie viel und wer genau was getan hat, werden wir nie erfahren…

      Einfach mal zurückdenken. Letztes Jahr gab es einen „ähnlichen“ Fall und auch nach dem Urteil war nicht recht viel mehr bekannt. Erinnert ihr euch? Die Aktien werden laut Urteil so lange unter Vreschluss gehalten, dass sie keiner von uns jemals lesen wird!

      Staaten sind Verbrecher Organisationen, daran lässt sich nichts ändern. Letzte Zweifel daran, was DE angeht, wurden in den letzten zwei Jahren durch diverse Urteile des obersten deutschen Gerichtes beseitigt!
      Die Machtverteilung ist eindeutig festgelegt. Der sogenante Souverän darf sich zwar so nennen, aber nur Vollidioten können sowas auch glauben… Und das wirkliche Problem ist, dass leider gerade diese eine unfassbar grosse Mehrheit sind und auch immer bleiben werden.

  2. Grosse Worte :“Nein, die Zentrale Frage ist doch wohl eher: Warum soll man seine Zeit an solche Themen verschwenden, wenn die Wahrscheinlichkeit irgendwann die Wahrheit zu dem Thema zu erfahren, eindeutig gegen NULL geht?“
    Warum verschwenden Sie ihre Zeit?
    Im Grunde diskreditieren Herr Moser und seine Arbeit, was führen Sie im Schilde? Und

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