Mehrheitsverhältnisse in Israel

Mauer im Westjordanland. Bild: Hagai Agmon-Snir/CC BY-SA-4.0

 

Letzten Untersuchungen zufolge bilden bereits heute Juden eine Minorität in dem von Israel direkt oder indirekt behrrschten Territorium. Was bedeutet das für die Zukunft des Landes?

Der emeritierte israelische Geographieprofessor Arnon Sofer veröffentlichte am 29.8.2022 in der Tageszeitung Haaretz einen Artikel, in welchem er die demographischen Verhältnisse zwischen Juden und Arabern in “Eretz Israel” darlegt. Statt “Eretz Israel” mag man, wenn man den ideologisch konnotierten hebräischen Begriff vermeiden möchte, Israel/Palästina verwenden, das Territorium also, das Israel, das Westjordanland, West- und Ostjerusalem, den Gazastreifen und (weniger relevant in diesem Zusammenhang) die Golanhöhen umfasst.

Die Gesamtbevölkerung in diesem Territorium (“vom Meer bis zum Jordanfluss”) beläuft sich auf 14.957.000 Menschen, von denen 7.454.000 Juden und “Andere” (49,84%) und 7.503.000 Araber (50,16%) ausmachen, wobei sich diese in 2.256.000 im Gazastreifen, 3.244.000 im Westjordanland und 3.003.000 in Israel lebende Araber aufteilen. Unter “Andere” subsumiert Sofer in Israel lebende Nichtjuden (zumeist ohne Aufenthaltsgenehmigung); zieht man diese von der ersten Kategorie (Juden und “Andere”) ab, so beläuft sich der Anteil der Juden im besagten Gesamtterritorium auf 46-47%.

Wer einwenden möchte, dass der Gazastreifen nicht dem von Israel beherrschten Territorium zugezählt werden könne, da sich ja Israel im Jahr 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen und seine dortigen Siedlungen aufgelöst habe, dem sei erklärt, dass das de jure vielleicht der Fall ist, aber de facto wird der Gazastreifen wirtschaftlich und militärisch nicht nur von Israel beherrscht, sondern als das, was als “das größte Gefängnis der Welt” bezeichnet worden ist, am Leben erhalten. Dass Israel ein Interesse an der Hamas im Gazastreifen hat, ist bekannt. Als Ariel Sharon im Jahre 2005 den Auszug Israels aus dem Gazastreifen vollzog, tat er das im Hinblick auf das “demographische Problem” und unter der (inoffiziellen) Erklärung, dass er dafür “Ruhe” im Westjordanland “in den kommenden 50 Jahren” erreicht haben möchte.

Für Zionisten sind Arnon Sofers Daten alarmierend. Denn es galt dem Zionismus seit jeher als unantastbares Postulat, dass Juden eine deutliche Mehrheit im zionistischen Staat zu bilden hätten. Das ist nun aber nicht mehr der Fall, und wird es auch kaum wieder sein können. Dafür hat der Zionismus selbst gesorgt, als er mit der systematischen Besiedlung der von Israel im 1967er Krieg eroberten Gebiete begann, ein Prozess, der sich als Ariel Sharons Lebenswerk erweisen und mit der religiösen Fundierung dieses Prozesses Israel in die Sackgasse führen sollte, in der es sich heute historisch befindet.

Es war vor allem Israel, das die über Jahre hochgehaltene Zweistaatenlösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel unterwanderte, bis sie heute zur leeren Worthülse verkommen ist. Unter den strukturell entstandenen Siedlungsbedingungen im Westjordanland ist kein homogenes Territorium für die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates mehr denkbar. Und da sich das Kontingent der jüdischen Siedler im Westjordanland auf rund 600,000 Menschen beläuft, ist jeder Versuch, den Abzug der Israelis aus diesem Territorium zu betreiben, nicht nur von vornherein realpolitisch zum Scheitern verurteilt, sondern müsste, wenn es dennoch zum Vollzug käme, zwangläufig in einem innerjüdischen Bürgerkrieg münden.

Wenn das aber die reale Situation Israels ist, kann man sich politisch nichts mehr vormachen. Denn wenn Israel zweierlei Justizsysteme unterhält, ein im Kernland Israel gültiges und ein militärisches Justizsystem im Westjordanland; wenn Israel die brutale Schikane gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten, die permanente Gewaltanwendung gegen sie, deren Ausbeutung, Beraubung und Unterdrückung praktiziert; wenn Israel darüber hinaus auch die in Israel lebenden Palästinenser als Bürger zweite Klasse behandelt, und zwar so sehr, dass die Wahlbeteiligung der Araber an den Knesset-Wahlen aus lauter Verzweiflung ständig zurückgeht – dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass Israel zu einem Apartheidstaat verkommen ist. Und dieses Grundverhältnis dürfte sich nur noch brutalisieren, je klarer es wird, dass Juden zur Minorität in dem von ihnen beherrschten Land geronnen sind. Da kann man die Nomenklatur noch so drehen und wenden wollen.

Bedenkt man zudem, dass bei den kommenden Knesset-Wahlen Itamar Ben-Gvir, der Erbe Meir Kahanes (von dem in diesem Blog bereits die Rede war), nach den letzten Erhebungen so viele Mandate einfahren kann, dass Netanjahu ihm einen wichtigen Ministerposten (Innen- oder gar Justizminister) wird antragen müssen, um selbst Premier zu werden und somit seinen eigenen Prozess potentiell annullieren zu können, darf man sich vorstellen, was das für das israelische Apartheidsystem real bedeuten wird.

Zu fragen bleibt, wie diese Faschisten das von Arnon Sofer aufgezeigte Problem zu lösen gedenken. Kein Problem, sagen sie, wenn es so weit ist, wird man alle Araber aus dem Judenland verjagen müssen, wenn es sein muss – mit Gewalt. “Transfer” nennt sich das euphemistisch in Israels politischer Kultur. Ethnische Säuberung ist dafür der in Deutschland gebräuchliche Begriff.

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8 Kommentare

  1. Wer möchte gibt in die Suchmaschine ein:
    Tote durch Impfungen in Israel.
    Israel hat mit die höchste Impfquote und wie sich das demographisch entwickeln wird, bleibt abzuwarten…

    1. Zitat aus dem Text in der Berliner Zeitung:
      „Jüdischsein in Deutschland bringt ein bestimmtes gesellschaftliches Kapital mit sich.“
      O ja. Man wählt die Premium-Religion mit eingebauter Moralvorfahrt.
      Wenn auf der Documenta ein Wandbild mit spöttelnden Karikaturen über Israelis auftaucht, wird in SA-Manier die entartete Kunst geortet – und rasch entfernt.
      Wenn dagegen ein dänischer Kritzelfritze debile Pennälerschmierereien in Form der Mohamed-Karikaturen aufs Blatt rotzt, kriegt er Preise.

  2. Moshe Zuckermann hat hier in Overton mehrere Texte veröffentlicht, die ein geschichtlich entstandenes Konglomerat von Religion, Rasse und Nation behandeln, das in dieser Form aus meiner Sicht unsinnig ist. Es verknüpft Gedankengänge, die zwar historisch in einem Zusammenhang stehen, aber nicht zusammenhängen. Zurückschauend kann man trotzdem manches verstehen. Das vorhandene Konglomerat lässt aber keine „jüdische“ Politik zu, die z. B. den Einflussmöglichkeiten der katholischen Kirche vergleichbar wäre. (Nicht vergessen: Der „Heilige Stuhl“ darf in Europa immer seinen Senf dazugeben. In welchem Umfang er das tut, weiß ich nicht.)
    Es gibt keine allgemein anerkannte Leitlinie, wer ein Jude sei. Sich als ein solcher zu definieren kann nicht als „Beitritt“ im Sinne des Erwerbs einer Mitgliedschaft angesehen werden. Daher die allgemeine Konfusion. Nichts ist politisch so leicht zu instrumentalisieren, wie ein richtiges Durcheinander!

      1. Genau das ist mein Problem: Geschichtliches und Formalrechtliches ist zu finden. Aber wie und in welchem Umfang nehmen die Malteser gegenwärtig real an Entscheidungsprozessen teil? Wer ist da politisch aktiv und mit welchen Zielen? Deshalb das „In welchem Umfang er das tut, weiß ich nicht.“ Hast du Lektüre-Tipps?

        1. Ich hatte zwei links angegeben, aber sind wech!
          Versuche es mal beim Vatikan Nachrichtenkanal, der andere Artikel wurde am letzten Samstag publiziert. Eine Adresse die in D unter Zensur ist.
          Pope Francis reformed the order of Maltese, so als Eingabefeld…

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