Max Otte: „Wir müssen mehr für die einfachen Leute tun“

Max Otte. Screenshot von YouTube-Video der WerteUnion

Max Otte im ausführlichen Interview mit Marcel Malachowski über die Macht der WerteUnion, die Widersprüche der Klimapolitik, deutschen Größenwahn, wen er wählt und warum sein Herz manchmal links schlägt.


Marcel Malachowski hatte im Juli 2021 mit CDU-Mitglied Max Otte gesprochen, der von der AfD jetzt als Bundespräsidentenkandidat nominiert wurde. Die CDU nominierte keinen eigenen Kandidaten, sondern stellte sich auch wie die Regierungskoalition hinter die Wiederwahl von Frank-Walter Steinmeier (SPD). Die CDU reagierte schnell, schloss Otte vorläufig aus der Partei aus und hat ein Verfahren zum Parteiausschluss eingeleitet. Otte hat als Kandidat ebenso wie der von der Linkspartei aufgestellte Sozialmediziner Gerhard Trabert keine Chance. Dass er die Nominierung als Vorsitzender der WerteUnion annahm, ist ein Zeichen dafür, dass rechtskonservative Teile der CDU eine Annäherung an die AfD befürworten. Allerdings ist Otte ein Quergeist, wie das Interview zeigt.


Prof. Dr. Max Otte ist Vorsitzender der rechtskonservativen WerteUnion. Die WerteUnion (WU) ist eine der einflussreichsten Gruppen von CDU-Mitgliedern mit namhaften Unterstützern.

CDU-Mitglied und Fonds-Manager Otte gehört seit zwei Jahrzehnten zu den meinungsstärksten und anerkanntesten, aber auch umstrittensten Ökonomen. 2017 war er Redner auf einem Attac-Symposium, in den letzten Jahren war er in der Führung der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung tätig. Otte ist Mitglied der Atlantik-Brücke, des American Council on Germany und des German-American Business Club. Im Frühjahr 2020 redete er auf einer Querdenken-Kundgebung.

Der Klimaschutz soll dazu benutzt werden, einen Kontrollstaat einzuführen“

Haben Sie eigentlich auch Angst, dass bald die Welt untergeht, wenn Deutschland die Klimaziele nicht erreicht? Oder überschätzen die Klimaschützer hierzulande ganz einfach ihre eigene Bedeutung für das Weiterbestehen der Welt?

Max Otte: Es besteht kein Zweifel, dass der Mensch übermäßig in die Kreisläufe der Natur eingegriffen hat. Deutschland allein kann hier allerdings nichts ausrichten, wenn es seine Emissionen senkt. Die zusätzlichen Emissionen in den Entwicklungsländern liegen um ein Vielfaches höher. Diese Selbstüberschätzung wurde, wie bereits oftmals erwähnt, in der Zeile von Emanuel Geibel von 1861 trefflich ausgedrückt: „Und es mag am deutschen Wesen / einmal noch die Welt genesen.“

Nun können Sie natürlich argumentieren, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen sollten, damit die anderen irgendwann folgen. Allein zeigt die Erfahrung, dass so etwas nicht funktioniert. Viel besser wäre es, wenn Deutschland aktiv sowohl bi- als auch multilateral Verträge, die deutsche Interessen berücksichtigen und auch den Vertragsparteien etwas bringen. Dazu sind eine selbstbewusste Diplomatie und auch konzentriert geführte Verhandlungen notwendig. Deutschland hat viel zu bieten. Immerhin waren und sind wir in der Umwelttechnologie führend.

Sehr erschreckend für mich ist, wie der Klimaschutz dazu benutzt werden soll, einen totalitären und autoritären Kontrollstaat einzuführen. Unsere Bildungsministerin spekuliert sogar schon über ein Sozialpunktesystem nach chinesischem Vorbild. Unfassbar.

Die Grünen sind eine Partei der Beschneidung der Freiheitsrechte“

Sehen Sie die CDU denn tatsächlich immer noch als zu SPD- und Grüne-ähnlich an? Wenn man sich die reale Politik von CDU, SPD und Grünen so ansieht, sind ja aber alle alles andere als links, vor allem sozialpolitisch …

Max Otte: Die CDU hat sich unter Angela Merkel, was den Zeitgeist angeht, erfolgreich zunächst in Richtung Sozialdemokratie und dann in Richtung Grüne bewegt. Es ist Merkel dabei gelungen, die Sozialdemokratie zu pulverisieren. Bei den Grünen wird das nicht gelingen, sondern diesmal wird es die CDU stark schwächen.

Die Grünen sind eine Partei der Großkonzerne, der Beschneidung der Freiheitsrechte und der Kriegseinsätze. Da sehe ich wenig von dem, was Sie als „links“ bezeichnen. Ich selber habe ja die Neue Soziale Frage – den Abstieg der Mittelschicht und den Aufstieg eines neuen Geldadels der Supereichen – in meinen Büchern und Vorträgen vielfach thematisiert. Genauso wie in jüngerer Zeit viel über die Beschneidung der Bürgerrechte schreibe. Winfried Kretschmann und andere stellen immer unverhohlener die klassischen Bürger- und Freiheitsrechte in Frage.

Aber hat man denn eigentlich bei der CDU Angst vor Ihnen?

Max Otte: Ich denke schon. Wir sind das Gewissen der CDU. Und auf das hört man nicht immer gerne.

Zudem sind wir in der WerteUnion zwar nur 4.000 Mitglieder, was in etwa einem Prozent der CDU-Mitglieder entspricht. Aber wir vertreten wahrscheinlich die Meinung von viel mehr Parteifreunden, die sich aufgrund offener und versteckter Repressionsmaßnahmen nicht trauen, ihre Meinung zu sagen. Ich kenne Fälle, da werden Mitgliedsanträge in der CDA, der christlich-demokratischen Arbeiterschaft,  abgelehnt, wenn jemand in der WerteUnion ist. Oder es gibt in Kreisverbänden Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit der WerteUnion. Absurd. Grotesk. Und beängstigend. Unsere Positionen wären ohne diese Repressionen durch dem Apparat bei der CDU-Basis wahrscheinlich sogar wettbewerbsfähig.

Welche Bilanz ziehen Sie denn zum Ende der Merkel-Ära? Gibt es nicht auch Positives? Würden Sie sich bei ihr für ihre Leistungen bedanken?

Max Otte: Nein. Sie hat Deutschland durch massive Fehlentscheidungen zweifelhafter demokratischer Qualität am Parlament vorbei massiv geschadet, teilweise vielleicht irreparabel. Da wären 1. die Energiewende, 2. die Rettung der Großbanken und Vermögenden, fälschlicherweise als „Eurorettung“ bezeichnet, 3. die unkontrollierte Massenmigration und 4. der Umgang mit Corona und die Beschneidung der Bürgerrechte.

Angela Merkel ist aus meiner Sicht eine eiskalte, in einem totalitären System sozialisierte Machtpolitikerin, der letztlich ihr Land und ihre Partei egal sind. Ersteres hat sie massiv verändert, aus Sicht der WerteUnion zu dessen Schaden und teilweise irreparabel, zweite inhaltlich entkernt und zu einer Funktionärspartei umgestaltet.

Schwarz-Grün wäre der GAU für dieses Land“

Rally round the Prez, heißt es in den USA. Ist Ihnen im Moment die Einigkeit in der CDU unter Laschet zu groß?

Max Otte: Nun, er hat das Rennen gemacht. Zudem ist mir ein Vertreter des rheinischen Kapitalismus und der rheinischen Lebensweise lieber als der Ex-Cheflobbyist eines unheimlichen und mächtigen US-Konzerns, dessen Gebaren ich früher auch mehrfach in ard-Dokus kommentieren und kritisieren durfte oder auch als ein bayerischer Ministerpräsident, der die Grünen anscheinend überholen will und bei der Beschneidung von Bürgerrechten ganz vorne mit dabei ist.

Jetzt geht es nach vorne. Wobei es nicht Aufgabe der WerteUnion ist, Wahlkampf für die CDU zu machen, sondern die CDU für konservativ-bürgerliche Wähler wählbar zu machen. Wir werden also weiterhin unsere Position verlauten lassen.

Eigentlich steht ja die nächste Koalition schon fest: Schwarz mit Grün und/oder Gelb. Das linke Lager steht ja vor dem Untergang … Was erwarten Sie von der nächsten Regierung – und was erhoffen Sie sich?

Max Otte: Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz wären für mich der GAU für dieses Land. Bei Schwarz-Grün würden die Grünen dennoch einen großen Teil ihrer totalitär-ökosozialistischen und menschenverachtenden Ziele durchbekommen. Wenn umgekehrt die Grünen die meisten Stimmen bekommen, dann würde ich mir als Koalitionspartner auch Schwarz suchen, um damit meiner Agenda einen bürgerlichen Anstrich zu geben.

Also – ich hoffe sehr auf Schwarz-Gelb, ja, zur Not auch mit Duldung der AfD. Wir sind schließlich eine parlamentarischen Demokratie. Wenn das nicht geht, wäre Grün-Rot-Rot die bessere Variante. Sie würde es den konservativen Kräften erlauben, sich zu formieren.

Die Gender-Ideologie hat gar nichts mit Toleranz zu tun“

Die WerteUnion nimmt ja für sich traditionelle Werte in Anspruch? Aber mal schlicht gefragt: Wozu braucht man eigentlich traditionelle Werte? Zu den Anfängen der Schwulenbewegung zum Beispiel dachten ja Konservative in den 70ern noch, das könnte der Untergang des Abendlandes sein, das hat sich aber nicht bewahrheitet … Der Vordenker der kritischen und nicht-konformistischen Linken, Wolfgang Pohrt, verlachte schon in den 1980ern die ach so rebellische Hausbesetzer-Bewegung als nur spiegelverkehrte Wiederkehr der schwäbischen Häuslebauer … Und Marianne Rosenberg urteilte schon vor etlichen Jahren in der „Zeit“ anklagend über die Linke, was deren allgemeine Aufgeschlossenheit für die Welt und wirkliche Toleranz für Andersartiges betrifft: „Sind eben auch nur Spießer!“ … Würden Sie sich denn als rechts bezeichnen oder als wertekonservativ oder strukturkonservativ? Oder als etwas anderes?

Max Otte: Die Welt verändert sich. Permanent. Im Gegensatz zu vielen linken Ideologien sehen Konservative den Menschen als ein kognitiv und verhaltenstechnisch begrenztes und oftmals schwaches Wesen an, das sowohl Gut (Altruismus) als auch Böse (überzogenen Egoismus und Aggression) in sich trägt. Wir sind Teil der Spezies Sapiens. Yuval Noah Harari beschreibt in seinem großartigen Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ viele dieser Muster. Es hängt von jedem Einzelnen und von der konkreten Situation ab, ob sich eine Sache zum Guten oder Bösen wendet.

Konservative glauben auch, dass alle Versuche, den Menschen zu verbessern, in die Hölle führen. Das war beim „neuen Menschen“ im Kommunismus so, das war auch bei den Nazis so, die den „Herrenmenschen“ züchten wollen, und das sehe ich in Ansätzen auch bei der Gender-Ideologie, die unsere natürlichen biologischen Strickmuster nicht anerkennt. Das hat nichts mit Toleranz für alternative Lebensformen zu tun, mit der sich auch die meisten Konservativen anfreunden können, sondern mit der Indoktrination der Gender-Ideologie in Kindergarten und Schule, die ganz klar auf „Umerziehung“ zielt.

Konservative stehen daher etablierten Institutionen wie Familie, Kirche und Nation erst einmal grundsätzlich positiv gegenüber und sind vorsichtig, wenn jemand etwas grundlegend Neues und Besseres verspricht. Sie sind der Auffassung, dass das schwache Wesen Mensch „Außenstützen“ durch Institutionen und Organisationen braucht, wie es der verstorbene Soziologe Jost Bauch formuliert hat. Ich kann da den Vorlesungen des kanadischen Psychologen Jordan B. Peterson viel abgewinnen.

Zudem sind Konservative, weil sie um die Begrenztheit unserer Urteilsfähigkeit wissen, gegen Extreme und für „Maß und Mitte“. So haben es der während des Naziregimes emigrierte Ökonom Wilhelm Röpke und 165 Jahre früher der Begründer des Konservatismus, der irische Abgeordnete und Intellektuelle Edmund Burke formuliert.

Wie sehen Sie die Entwicklung in der AfD? Dort haben sich die völkischen Tendenzen anscheinend durchgesetzt …

Max Otte: Die Entwicklungen in der AfD möchte ich nicht kommentieren.

Man wirft Ihnen und der WerteUnion aber eine gewisse Nähe zur AfD vor. Stimmen diese Vermutungen?

Max Otte: Bei der WerteUnion gibt es die „Frankfurter Erklärung“ – keine Zusammenarbeit mit AfD und Linken -, die gültige Beschlusslage ist. Und dennoch gibt es in CDU-Ortsverbänden bereits teilweise Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit der WerteUnion. Mitgliedschaftsanträge in der CDA, der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft, werden teilweise abgelehnt, wenn jemand Mitglied in der WerteUnion ist. An Groteskheit ist das nicht mehr zu überbieten.

Ich persönlich bevorzuge es, klar durchdachte Positionen zu beziehen. Dann ist es mir egal, wer sonst auch solche Positionen hat. In einem viel beachteten Video habe ich vor etwas mehr als einem Jahr versucht, die Unterschiede der Positionen der Mainstream-CDU, der WerteUnion und der AfD nüchtern herauszuarbeiten.

Wenn die WerteUnion gegen die Energiewende in dieser Form, gegen die Gender-Ideologie, gegen die Schuldenunion, für eine sinnvolle Steuerung der Migration, für ein klassisches Familienbild und für eine Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes ist, dann ist mir zunächst einmal egal, wer das vielleicht ebenfalls vertritt.

Die `Tyrannei der Mehrheit´ ist eine Gefahr“

Sie waren ja immer ein liberaler Meinungspluralist und diskutierten im Gegensatz zu vielen anderen auch mit Menschen ganz anderer politischer Lager, waren auch häufiger zu Gast bei der Linkspartei. Würden Sie das heute immer noch machen?

Max Otte: Aber selbstverständlich! Es kommen nur derzeit wenige Einladungen, selbst seitens der Gesprächspartner im Bereich Finanzen, bei denen ich immer ein gern gesehener Gast war. In den Mainstreammedien, wo ich früher sehr häufig war, komme ich so gut wie nicht mehr zu Wort. Und wenn, dann sind es sehr geframte und diffamierende Aussagen über mich. Selber äußern kann ich mich dazu nicht. Eine Ausnahme war das Interview im Deutschlandfunk nach meiner Wahl zum Vorsitzenden der WerteUnion.

Diese Kultur der Ausgrenzung, des „Nicht-Sprechens“, die von der Mehrheit, vom Mainstream ausgeht, ist beängstigend. Der französische Adlige Alexis de Tocqueville nannte es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die „Tyrannei der Mehrheit“, die er als Gefahr für die amerikanische Demokratie dargestellt hat. Seine Warnungen haben sich bewahrheitet.

Denken Sie eigentlich als Marktwirtschaftler, der Kapitalismus könnte alle sozialen Probleme auf der Welt lösen? Ohne den angelsächsisch und jüdisch geprägten Keynesianismus gäbe es doch heute gar keinen Wohlstand in Deutschland, oder?

Max Otte: Ich bin Unternehmer, aber kein „Marktwirtschaftler“, sondern dezidierter Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft und damit einer bewussten Ordnungspolitik. Markt und Staat haben beide ihre wichtigen Rollen, ja, in gewisser Weise ist der Staat sogar wichtiger als der Markt, weil er den Ordnungsrahmen schafft.

Ich finde, dass Keynes eine faszinierende Persönlichkeit mit vielen Facetten war, über die sich viel sagen ließe. Unter vielem anderen war er auch ein hervorragender Aktieninvestor. In Deutschland waren wir aber im Kaiserreicht viel weiter mit der Gestaltung eines sozialen Kapitalismus als die Engländer und Amerikaner. Die haben den erst nach dem Ersten Weltkrieg entdeckt. Keynes spielte dabei eine maßgebliche Rolle.

Ich habe viel über das deutsche Wirtschaftsmodell und seine historischen Ursprünge geschrieben, den Mittelstand, die Genossenschaften, das vorbildliche dezentrale Banksystem, die Kranken- und Rentenversicherung. In all dem waren wir führend. Nun verlieren wir es im angelsächsisch geprägten Finanz- und Plattformkapitalismus.

Christian Lindner stellte vor kurzem fest, dem rot-grünen Lager ginge es weniger um ökologische und soziale Politik als vor allem darum, einen „bestimmten Lebensstil durchzusetzen“ für eine bestimmte Klientel … Diese Klientel ist wohl die, welche Sahra Wagenknecht als „Lifestyle-Linke“ bezeichnet und die mit Sozialpolitik ja gar nichts mehr zu tun hat … Oder sehen Sie in der Partei der Linken wirklich noch eine sozialistische Gefahr?

Max Otte: Die Depolitisierung der Politik zu einem „Lifestyle“-Geschehen, bei dem auch eigentlich gebildete Menschen nur noch aus rein emotionalen Erwägungen und nicht mehr aufgrund von Sachüberlegungen wählen oder sich politisch engagieren, besorgt mich. Sinnvolle Debatten finden immer weniger statt.

Können Sie klassischen linken Positionen, wie es sie früher gab, etwas Gutes abgewinnen? Wagenknecht bezeichnet sich ja selber als linkskonservativ …

Max Otte: Aber selbstverständlich! Wir müssen mehr für die einfachen Leute und die Mittelschicht tun, zum Beispiel die kalte Progression im Steuersystem abschaffen. Das geht aber nur, wenn wir zum Beispiel Kapitaleinkünfte höher besteuert werden.

Wir müssen die öffentlichen Güter innere und äußere Sicherheit, Kranken- und Altersversorgung, Schulen und Bildung und unsere Infrastruktur wiederherstellen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnte sehr gelitten haben. Mit Linken hätte ich da wahrscheinlich Differenzen bei den Themen innere und äußere Sicherheit. Aber auch die die gehören für mich dazu, also innere, äußere, wirtschaftliche und soziale Sicherheit. Hier muss der Staat den Ordnungsrahmen schaffen.

Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Meinung zu sagen“

Eine zur Zeit viel diskutierte Frage: Gibt es in Deutschland Meinungsfreiheit?

Max Otte: Nein. Wenn Sie eine gewisse Bedeutung als Multiplikator haben, werden sie radikal unter Druck gesetzt, ausgegrenzt, diffamiert und ökonomisch beschädigt, bei vielen die Existenz vernichtet.

Bereits von zwei Jahren hatten laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts zwei Drittel der Deutschen Angst, in der Öffentlichkeit ihre politische Meinung zu sagen. Mittlerweile ist die Meinungsfreiheit zu 80 bis 90% ausgehebelt. Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Meinung zu sagen. You-Tube-Plattformen, wie zum Beispiel die von KenFM, werden gelöscht, unabhängigen Medienmachern Konten gekündigt. Mittlerweile trifft es sogar Boris Reitschuster.

Sie kritisieren oft die US-Wirtschaft … Aber was schätzen Sie an Amerika?

Max Otte: Den Experimentiergeist, die Kraft und – immer noch – die vielfältigen Möglichkeiten. Auch die Lockerheit, die natürlich mit einer gewissen Unverbindlichkeit einhergeht.

Ich bin tief in dieser Kultur eingetaucht und wollte ja mal eine Zeitlang auswandern. Am Samstag hatte ich virtuelles 30jähriges Kurstreffen mit 60 anderen Masterstudenten der Princeton University. Das hat viel Spaß gemacht. Und wir haben uns fast alle wiedererkannt und waren in den alten Rollen, obwohl drei Jahrzehnte vergangen sind!

Eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung brachte gerade zu Tage, dass bis zu 40% der Deutschen meinen, Juden hätten zu viel Macht in der Welt. Was entgegnen Sie solchen Menschen, die es sowohl rechts als auch links gibt?

Max Otte: Das ist Unfug, schockierend und gefährlich. Gerade wir Deutschen sollen da extrem sensibel sein.

Da gehen Themen durcheinander. Ich glaube, die Menschen merken, dass etwas falsch läuft und suchen sich wieder einmal eine einfache Erklärung und Projektionsfläche. Wir leben in einer Ära des Hyperkapitalismus, in dem die Reichen tatsächlich viel zu viel Macht haben. Und dann fallen manche erschreckenderweise in alte Erklärungsmuster zurück.

Der Begriff „Antisemitismus“ wird heute allerdings leichtfertig und manchmal in bösartiger Absicht gebraucht. Wer die Macht der Finanzelite an der amerikanischen Ostküste kritisiert, wird schon einmal gerne als Antisemit diffamiert. So hat es zum Beispiel der Handelsblatt-Journalist Norbert Häring erfahren müssen. Dabei war zum Beispiel die Wall Street bis weit in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Goldman Sachs) eine angelsächsische Veranstaltung, bei der Juden nur eingeschränkt Zutritt hatten. „Angelsächsischer“ als Bill Gates (William H. Gates III.) geht wohl kaum. In jüngerer Zeit wird sogar Hans-Georg Maaßen als Antisemit diffamiert. Absurd. Solche unsäglichen Diffamierungspraktiken wendet leider zum Beispiel Michael Blume an, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg. Ich weiß nicht, was in solchen Hirnen vorgeht.

Grundsätzlich muss es erlaubt sein, die Macht der Finanzelite und der Superreichen (und neuerdings auch von Silicon Valley) zu kritisieren, ohne sofort als Antisemit diffamiert zu werden.

Es gibt aber Fraktionen der Kapitalismuskritiker, die gerne Synonyme wie „Rothschild“ oder andere zweideutige Codes und Chiffren benutzen, das ist eindeutig antisemitisch … Apropos Kapitalismuskritik … Was halten Sie denn von Fridays for Future?

Max Otte: Junge Menschen demonstrieren ja vor allem, wenn es Ihnen gut – vielleicht zu gut – geht. So war es bei den 68ern und so ist es jetzt bei FFF. Ich nehme vielen dort dennoch ihre guten Absichten ab. Luisa Neubauer allerdings nicht.

Es wäre trotzdem besser, die jungen Leute würde sich auf die Schule konzentrieren und sich Wissen aneignen, damit sie später mal wirklich einen Unterschied machen können.

obwohl man ja oft „nicht durch die Schule lernt, sondern trotz der Schule“, wie der Ex-Neuköllner SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky einmal süffisant wie richtig anmerkte …

Max Otte: Zudem macht es mich traurig, dass solche „Bewegungen“ wie auch BLM und Extinction Rebellion missbraucht werden, um Länder zu spalten. Extinction Rebellion scheint mir dabei geradezu eine „Bewegung“ aus dem Designlabor.

Sie selber würden sich wahrscheinlich als Patrioten bezeichnen, oder? Aber gibt es nicht auch Sachen, die die Deutschen noch von den Italienern oder den Griechen lernen könnten? Im Hafenviertel von Neapel einen Kaffee zu trinken macht ja schon mehr Spaß …

Max Otte: Aber selbstverständlich! Ich bin sehr gerne in anderen Ländern. Einblicke in deren Kultur bereichern ja sehr und helfen, das Eigene zu erkennen. Die USA, England und die spanischsprachigen Länder kenne ich besser, da ich die jeweilige Sprache beherrsche. Mit Japan habe ich mich viel beschäftigt, allerdings ohne die Sprache zu sprechen.

Was mich sehr traurig macht, ist, dass die Pflege der eigenen deutschen Kultur, Geschichte und Traditionen sehr schnell als „Nationalismus“ abgestempelt wird. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Welt ein besserer Platz ist, wenn wir unterschiedliche Kulturen und Wahlmöglichkeiten haben, statt eines konzerngesteuerten globalen Einheitskapitalismus. In meinem neuen Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Deutschland“ habe ich meine eigene Sozialisierung im Deutschland der siebziger Jahre nachgezeichnet und damit auch eine soziokulturelle Spurensuche betrieben.

Die jungen Leute aus Südeuropa gehen oft aus purer Not in den Norden“

Ist es aber nicht die ökonomische Wahrheit, dass Deutschland realiter von der Griechenland-Krise profitiert hat?

Max Otte: Nein. Deutschland und die Deutschen haben genauso wenig profitiert wie Griechenland und die Griechen. Es waren in beiden Ländern die Vermögenden und die politische Klasse.

Durch den für uns zu niedrigen Eurokurs ist die deutsche Wirtschaft einseitig exportlastig und krisenanfällig und wir haben wichtige Infrastrukturinvestitionen versäumt. Zudem konnten sich ausländische Investoren große Teile der deutschen Wirtschaft sichern. Nicht zu vergessen: die Deutschen sind beim Haushaltsvermögen Schlusslicht in der Eurozone. Wo hat Deutschland profitiert.

im Sinne pars pro toto …

Max Otte: Im Frühjahr 1998 hielt ich meinen Probevortrag an der Boston University und sagte ein baldiges Scheitern des Euro voraus, weil von den drei notwendigen Bedingungen einer Währungsunion – Mobilität von 1. Waren und Dienstleistungen, 2. Kapital und 3. Arbeitskräften – zumindest die dritte nicht gegeben war.

Ich hatte nicht mit den extremen Staatseingriffen und der Zwangsmaßnahmen zugunsten der politischen Klasse und der großen Vermögen gerechnet. Nun haben wir im Süden Europas nach wie vor eine Große Depression und 30, 40, 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Die jungen Leute gehen oft aus purer Not in den Norden. Wir schaffen uns also auch die dritte Voraussetzung für eine Währungsunion. Allerdings auf eine sehr zynische und menschenverachtende Art und Weise.

Wählen Sie denn nun am 26. September die CDU? Oder wie wäre es mal mit der Partei DIE PARTEI?

Max Otte: Es gibt in Deutschland immer noch das Wahlgeheimnis. Dafür bin ich dankbar.

 

 

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2 Kommentare

  1. Otto plädiert, ohne es offen auszusprechen, für eine Klassengesellschaft. Auch nach dem Motto „nur wenn es den Oberen gut geht können die Unteren auch etwas davon abhaben“, z.B. in Form von Sozialleistungen.
    Was er verschweigt, die grosszügige Gewährung von Sozialleistungen wird sofort von den Machteliten und deren Helfershelfer in Politik, Medien in Frage gestellt wenn deren Profitaussichten stagnieren.

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