Die linke Hand Gottes – weshalb Maradona ein Mythos bleibt

Bild: Jack Hunter / Unsplash

Es gibt Menschen, deren Tod besonders ist. Dabei spielt es keine Rolle, auf welche Art und Weise sie sterben, ob ruhig einschlafend, durch einen Autounfall oder auf andere tragische Weise. Die Nachricht ihres Todes hat eine eigentümliche Wirkung. Für Stunden oder Tage scheint in diesem Moment die Welt innezuhalten, stillzustehen. Als hätten diese Menschen etwas mitgenommen. Etwas, was über unsere Alltagsexistenz und Sorgen hinausgeht, uns Hoffnung gab oder uns zusammenhielt.

In diesen Momenten kommt in der verwaltenden Welt die Metaphysik wie eine Naturgewalt. Neben der Trauer beschleicht uns ein Gefühl, als hätten sie etwas mitgenommen, was uns allen gehört. Der unerwartete Tod des Weltfußballers Diego Maradona erzählt davon.

Wenige Stunden nach der Nachricht versammelten sich trotz schärfster Coronaeinschränkungen Tausende auf den Straßen und Plätzen in Argentinien. Eine dreitägige Staatstrauer wurde ausgerufen, ohne dass jemand eine Sekunde darüber diskutierte. In Europa, Südamerika, auf der ganzen Welt zeigten sich Linke erschüttert, als hätte soeben die Konterrevolution obsiegt.

Eine gute Freundin und kritische Professorin sendete mir eine Nachricht. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb diese Nachricht auch Linke so aufwühlt. Galt für die kritische Theorie doch die Erkenntnis des „Verdikts“ Adornos über den Fußball.

„Wird eine Fußballweltmeisterschaft vom Radio übertragen, deren jeweiligen Stand die gesamte Bevölkerung aus allen Fenstern und durch die dünnen Wände der Neubauten hindurch zur Kenntnis zu nehmen gezwungen ist, so mögen selbst spektakulär verschlampte Gammler und wohlsituierte Bürger in ihren Sakkos einträchtig um Kofferradios auf dem Bürgersteig sich scharen. Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen. Der kaum verdeckte Nationalismus solcher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärkt den Verdacht ihres destruktiven Wesens.“ (Soziologische Schriften I). Natürlich hat der große Denker recht.

Holt man sich die Bilder des WM-Titels der Deutschen Nationalelf 2014 vor dem Brandenburger Tor hervor, trifft die Analyse zu. Überhebliche, chauvinistische Gesänge und Gebärden, die den „Gauchos“ noch einmal ihre Unterlegenheit demonstrierten und den „klassenlosen“, übersteigerten Nationalismus zelebrierten.

Doch 1986, beim Titelgewinn der Argentinier, gab es etwas, was Adorno übersah. Auch hier feierte eine Nation ausgelassen. Aber in dem Moment, als der junge Maradona den Weltpokal in die Höhe reckte, wurde eine andere Sehnsucht gestillt. Er war die Verkörperung der Wünsche, Hoffnungen und Emotionen der Arbeiterklasse. Dieser Pokal gehörte ihr, nicht den Funktionären, den Mächtigen, den Herrschenden.

Denn dieser geniale Fußballer hatte die Mannschaft nicht nur fast im Alleingang zum Titel geführt; mit der (linken) „Hand Gottes“ die verhassten Engländer besiegt. Diego war einer der ihren, ein armes Arbeiterkind, das den sozialen Aufstieg in einer Branche schaffte, die tatsächlich Leistung belohnt. Einer, der die unerfüllbare Hoffnung seines Vaters erfüllte, als er bei den Boca Juniors, dem Arbeiterverein von Buenos Aires, zum Helden wurde. Und der schon zu diesem Zeitpunkt mehr war als ein nonkonformistischer Star, auf den ihn die bürgerliche Presse zu reduzieren versuchte. Es war der Beginn eines großen Märchens, einer nationalen wie internationalen Erzählung, die wie ein Zufall erscheint und doch keiner war.

Es hatte seinen Grund, dass einer der teuersten Spieler der Welt beim großen FC Barcelona ein Missverständnis war, aber in Napoli das Unmögliche schaffte. Dafür haben die armen Süditaliener sofort gespürt, dass er einer von ihnen war. Beim ersten Training mit Maradona kamen 80.000 Zuschauer*innen. Der SSC Napoli holte zwei Meistertitel und den UEFA Cup. Diego, dessen Ahnen aus dem Süden Italiens nach Argentinien auswanderten, wurde in Lebzeiten zum Denkmal. Es kam zusammen, was zusammengehört. Im katholischsten aller europäischen Länder war er praktisch ein Heiliger. Nur so ist zu erklären, dass er es bei einem Stau in der Innenstadt schaffte, diesen als selbsternannter Verkehrspolizist wieder aufzulösen.

Natürlich gab es Schattenseiten. Wie auch nicht. Das überforderte Arbeiterkind lieferte sich zwielichtigen Beratern und Drogen aus. Sein Leben war ein ständiges Drama und damit der sozialen Wirklichkeit der Unterdrückten und Armen in gewisser Art näher, als die PR kondensierte Wirklichkeit des zeitgenössischen Fußballs.

Einen solchen Spieler, der das Spiel seines linken Trainers Menotti zur Perfektion brachte und liebte, wird es wahrscheinlich nicht mehr geben können in der modernen Fußballwelt der Echtzeit-Laptops-Taktiken, Laktasetests und Konzepttrainer.

Schon gar nicht wird es einen geben, der sich politisch so klar links positioniert. Einer, der ein Freund Fidel Castros war, mit Hugo Chávez und geballter Faust auf der Tribüne saß und bis zu seinem Tode den lateinamerikanischen Sozialismus unterstützte. Oder gegen den Imperialismus der USA auf die Straße ging. Das nimmt man ihm bis heute krumm. Selbst, wenn die Kommentare in den bürgerlichen Medien nicht an seiner fußballerischen Genialität vorbeikommen.

Maradona war der Sohn des „linken“ Fußballs. Dessen Trainervater, der legendäre César Luis Menotti, philosophisch vorgab, was Maradona auf dem Platz umsetzte. Beim Titelgewinn der WM 1978 war Maradona noch nicht dabei. Der Erzählung nach verweigerte Menotti der Militärdiktatur unter General Videla den Handschlag. Das ist nicht erwiesen. Aber sein autorisiertes Zitat sagt alles: „Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt.“ Maradona wurde der erfolgreiche Revolutionär dieser Vorgabe. Die Idee eines „linken Fußballs“ war in der Welt und eroberte die Herzen.

Natürlich kann man mit allerhand Statistiken, die ihren Wesenskern verfehlen, das Gegenteil beweisen. Doch selbst im deutschen Fußball gab es einen linken Vormärz. Die Vereinsmannschaft der Gladbacher Fohlen und die EM Meistermannschaft von 1972 erzählen davon. Als ein Netzer noch die Pässe aus der „Tiefe des Raumes“ schlug. Ein Paul Breitner vom FC Bayern München (!) die Mao Bibel las und mit Uli Hoeneß in einer WG wohnte.

Als Deutschland einen schönen Offensivfußball spielte, der mit einem historischen 3:1 im Wembley Stadion seinen ersten Höhepunkt fand. Und in München ein Olympiastadion gebaut wurde, dessen Architektur den Geist von „mehr Demokratie wagen“ atmete. Das Olympiastadion ist heute bezeichnenderweise eine Sportruine, dessen weitläufige Anlagen und Hallen nur selten genutzt werden. Dabei wäre ein saniertes Olympiastadion das beste Zuhause für Münchens wahre Liebe: den Löwen vom TSV 1860.

Ja, es gab und gibt ihn, den linken Fußball. Und wenn die Guten gewinnen, zeigt er, was die bürgerliche Gesellschaft dem Einzelnen versagt:

Sinnlichkeit, Schönheit, Herz und Emotion. An seinen besten Tagen schenkt er uns ein wenig Gerechtigkeit.

¡Que tengas un buen viaje, amigo Diego!


Anmerkung: Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit dem weltbesten Trainer Klaus-Dieter (Kall) Stork.

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