Manfred Lütz, Theologe, Psychoanalytiker und Vatikan-Berater, klärt auf über die Inquisition, über Toleranz, überforderte Bischöfe und die Rolle der katholischen Kirche als negatives Passepartout, gegen das hemmungslos protestiert wird.
Sie sind Psychiater, Psychotherapeut, Theologe und waren Klinikleiter. Was war das genau für eine Klinik?
Manfred Lütz: Eine psychiatrische Klinik. Das Alexianer Krankenhaus in Köln-Porz, ich war für den Irrsinn des Kölner Südens zuständig.
Aber das ist vorbei.
Manfred Lütz: Das ist vorbei, ich berate noch, den Rest macht die neue Klinikleitung jetzt selbst.
Was haben Theologie und Psychologie miteinander zu tun? Inwiefern existiert zwischen diesen Disziplinen eine Verwandtschaft?
Manfred Lütz: Alles ist miteinander verwandt. Beides hat mit dem Logos, dem Sinn zu tun. Die Psychologie erforscht den Sinn der Seele und die Theologie den Sinn des Glaubens an Gott.
Sie sind auch Berater des Vatikans. Wen beraten Sie denn da?
Manfred Lütz: Ja, das haben Sie bei Wikipedia gelesen, die Frage kommt regelmäßig. Ich kann Ihnen sagen, jede Woche ruft der Papst an und will wissen, was er machen soll. Das ist ein Problem. Ich habe ihm schon gesagt, er soll es einfach lassen, er muss das auch mal selbst machen, er ist alt genug. Vatikanberater ist immer so ein Begriff, ich bin zwanzig Jahre lang Mitglied im päpstlichen Rat für die Laien gewesen, dort trifft man den Papst vielleicht ein Mal im Jahr, gibt ihm das Händchen und dann sagt er immer: Ach, Sie sind aus Köln. Das ist meine Kommunikation mit dem Heiligen Vater, viel mehr ist das nicht.
Gut, der Vatikan ist mehr als der Papst. Der päpstliche Rat, von dem Sie sprechen, welche Funktion hat der?
Manfred Lütz: Nach dem zweiten vatikanischen Konzil wurde der päpstliche Rat für die Laien eingerichtet. Immerhin sind 99% aller Mitglieder der Katholischen Kirche Laien. Der Rat war hochrangig besetzt, zum Beispiel mit Karol Wojtyla, dem späteren Papst Johannes Paul II.. Papst Franziskus hat das reformiert, der Rat heißt jetzt Dikasterium, da wurde ich auch wieder ernannt, aber im Moment tagen wir überhaupt nicht wegen Corona.
Sie haben ein wahnsinnig interessantes Buch geschrieben, welches nicht umsonst „Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums“ heißt. In ihrem Buch erwähnen Sie Tertullian, dessen Arbeiten für das gesamte Verständnis des Christentums, wie ich glaube, eine zentrale Rolle spielt. Wer war Tertullian? Was hat Tertullian gesagt?
Manfred Lütz: Tertullian war ein Jurist und einer der frühen Kirchenlehrer des zweiten Jahrhunderts, er ist später etwas auf Abwege gekommen, weil er sehr rigide wurde, aber Tertullian war für die Religionsfreiheit. Tatsächlich hat das Christentum die Toleranz erfunden. Ich sage das immer etwas provozierend, aber es stimmt und das sagen gar nicht die Katholiken, sondern das sagen die Etymologen. Tolerantia hieß im klassischen Latein Lasten tragen, Baumstämme zum Beispiel. Die Christen haben daraus gemacht: Menschen anderer Meinung ertragen. Fragen Sie mal irgendeinen Christen heutzutage, die wissen etwas so Elementares nicht und deswegen habe ich das Buch geschrieben.
Es gibt hier in Frankfurt an der Uni einen Politikwissenschaftler, Rainer Forst, den erwähnen Sie auch und der weist darauf hin, dass das Neue Testament bis in die Neuzeit für den gesamten europäischen Diskurs der Toleranz von zentraler Relevanz war. Mitleid und Toleranz sind auch zentrale Begriffe in Ihrer anderen Disziplin, der Psychologie. Viele Leute glauben, sie kommen mit Toleranz auf die Welt, aber es ist ein Konzept, welches von Generation zu Generation weitergegeben wird, welches immer wieder neu gelernt und eingeübt werden muss, sehe ich das richtig?
Manfred Lütz: Sie haben recht. Toleranz ist völlig unplausibel, das sehen Sie bei kleinen Kindern, wenn da einer irgendetwas kriegt, was der andere nicht hat, dann will er das natürlich auch haben und es gibt Raufereien, wo die Eltern einschreiten müssen. Die Eltern erklären dann jahrelang ihren Kindern, dass sie bitte tolerant sein sollen. Wir hoffen dann, dass das im Erwachsenenalter auch weiterfunktioniert.
Früher war es so, dass nur der eigene Stamm schützenswert war, der Ausdruck Mensch wurde nur für die Stammesangehörigen verwendet, Menschen anderer Stämme konnte man daher zum eigenen Vorteil ohne weiteres töten, das wurde nicht bestraft. Das bedeutet, anderen Menschen anderer Stämme auch ein Lebensrecht zuzubilligen, war im Grunde tatsächlich eine christliche Erfindung, denn die Christen glaubten nur an einen Gott, der alle Menschen und alle Völker gleichermaßen erschaffen hatte. Es ist eigentlich eine Frage der Allgemeinbildung, so etwas zu wissen und damit die Wertegrundlagen unserer Gesellschaft zu verstehen. Auch Atheisten sollten das wenigstens wissen.
Damit hat das Christentum auch die Internationalität erfunden. In den Stammesreligionen gab es nur den eigenen Stamm. Die Christen glaubten aber eben an einen Gott, der alle Stämme geschaffen hat, alle Menschen geschaffen hat und deswegen sind vor dem einen Gott, alle Menschen und alle Völker, zunächst einmal gleich. Jürgen Habermas, der sich selbst als religiös unmusikalisch bezeichnet, hat gesagt, das Christentum gehört zur Genealogie der Menschenrechte, da es dafür gesorgt hat, dass jeder Mensch in gewissem Maße gleiche Rechte hat. Diese Idee ist angelegt im Christentum, sie ist nicht sofort völlig umgesetzt worden, das hat zum Teil Jahrhunderte gedauert.
Sie haben eben auch das Mitleid genannt, Mitleid ist auch eine christliche Erfindung. Gregor Gysi hat einmal gesagt, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil die Solidarität abhandenkommen könne. Denn die Heiden, die Römer, die Griechen, die waren nicht mitleidig. Behinderte und Kranke waren für sie Menschen, die von den Göttern geschlagen waren, und deswegen mied man sie besser, damit man nicht auch von den Göttern geschlagen wurde. Die Christen verkehrten das ins Gegenteil, Menschen mit Behinderung, Menschen in Not, in diesen Menschen konnte man nach christlicher Überzeugung Gott, Jesus Christus begegnen, im Gefangenen, im Armen, im Obdachlosen. Das war revolutionär. Für uns ist das heute selbstverständlich, auch für Atheisten. Ich habe viele atheistische Freunde, die sind in diesem Sinne viel christlicher als ich.
Der Islam, das muss ich an der Stelle fragen, weil Sie ihn in Ihrem Buch erwähnen, ist eine jüngere Religion, es gibt aber auch eine Sure ähnlichen Inhaltes, Sie erwähnen sie: 10.99, die auch auf das Tolerieren pocht. Haben die anderen beiden Buchreligionen auch ihren Anteil an dem Toleranzkonzept, oder muss man sagen, das war wirklich eine urchristliche Veranstaltung und die anderen sind gefolgt?
Manfred Lütz: Nein, nein gar nicht, das Christentum ist gefolgt. Das Judentum hat zunächst mal den Monotheismus im eigentlichen Sinne in die Welt gebracht. Das heißt wir haben diese Dinge vom Judentum geerbt, auch das „Liebe deinen Nächsten“, das kann man alles schon im Alten Testament lesen. Das Judentum hatte jedoch eben noch die Vorstellung des auserwählten Volkes.
Das Christentum hat, gerade mit Paulus, alle Völker als Völker Gottes gesehen, die vor Gott gleich sind. Aber auch der jüdische Monotheismus ging davon aus, dass alle Menschen von einem Gott geschaffen wurden, insofern sind sie auch schon vorher den Schritt in Richtung Internationalität gegangen. Schon für die Juden gibt im eigentlichen Sinn keine Stammesgötter mehr. Der Islam hat vom Judentum und vom Christentum dann diese Vorstellungen übernommen. Navid Kermani beschreibt das sehr eindrucksvoll in seinen Büchern.
In meinem Buch geht es nicht darum zu sagen, das Christentum ist die beste Religion, es geht darum, die falschen Vorstellungen vom Christentum und die Klischees, die in den Köpfen der Leute sind, durch Aufklärung und durch Wissenschaft zu korrigieren. Viele Menschen glauben heute immer noch das, was die Hitlers und die Honeckers vom Christentum Falsches behauptet haben. Fragen Sie mal Leute nach den Hexenverfolgungen, die sagen Ihnen exakt das, was Heinrich Himmler damals behauptet hat, nämlich dass 9 Millionen germanische blonde Frauen von bösen, finsteren, christlichen Priestern ermordet worden sind. Alles kompletter Nonsens, der aber immer noch geglaubt wird.
Die Hexenverbrennungen waren nicht im Mittelalter und die Katholische Kirche hat, wenn ich Ihr Buch richtig gelesen habe, mitgemacht, war aber nicht der Treiber der Hexenverbrennungen, ganz im Gegenteil, am Ende waren sie sogar diejenigen, die dem Ganzen den Garaus gemacht haben. Wann waren denn überhaupt die Hexenverbrennungen und wer waren die Verantwortlichen?
Manfred Lütz: Erstmal muss festgehalten werden, dass das Christentum die erste große Religion war, die nicht an Hexen glaubte. Im Jahre 785 hat die Synode von Paderborn beschlossen, dass dann, wenn jemand behauptete, jemand anders sei eine Hexe, es dem Ankläger an den Kragen gehen müsse, denn Hexenglaube sei ein germanischer Aberglaube. Erst in der beginnenden Neuzeit, im 15. Jahrhundert, beginnen die Hexenverbrennungen, die letzte fand 1793 in Posen, im Preußen Friedrichs des Großen, statt, sieben Jahre nach dessen Tod.
Dass die Hexenverfolgung vor allem von weltlichen Richtern und den modernen Eliten betrieben wurde und die Kirche versucht hat, immer mal wieder dagegen anzugehen, weiß niemand. Natürlich haben auch manche Priester und Bischöfe da mitgemacht, das darf nicht bestritten werden, aber die römische Inquisition war zum Beispiel entsetzt über den deutschen Hexenwahn. Es gibt heute eine sehr seriöse Hexenforschung, die diese ganzen Dinge akribisch erforscht hat. Für meine Begriffe ist es einfach wichtig, dass hier aufgeklärt wird.
Mein Buch ist keine Hobbystudie, im Gegenteil, es stützt sich auf ein Werk eines berühmten Kirchenhistorikers, Arnold Angenendt. Der ist leider letzte Woche verstorben, aber er hat ein wirklich großartiges Werk hinterlassen: „Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“. Das hat 800 Seiten und 3000 Anmerkungen. So ein Buch lesen eher Fachleute. Und da habe ich mir überlegt, das Ganze einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, weil die Leute immer noch über all diese Dinge falsche Informationen haben. Zusammen mit Angenendt habe ich dann diese Kurzfassung gemacht „Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums“, um auf ungefähr 300 Seiten, die wahre Geschichte des Christentums darzustellen.
Es ist, wenn ich das richtig gelesen habe bei Ihnen, auch so, dass es eigentlich das Christentum war, welches so eine Art moderne, humane, man könnte auch sagen christliche Herangehensweise an einen solchen Prozess erfand. Das heißt, es musste eine Art Anklage geben, man konnte sich verteidigen und es wurden Beweise vorgeführt. Kann man sagen, dass dadurch der Grundstein für die moderne Jurisprudenz gelegt wurde?
Manfred Lütz: Das kann man so sagen. Für Rechtshistoriker war die Inquisition in gewissem Sinne ein Fortschritt. Gleichzeitig war die Inquisition auch ein Skandal.
Jetzt noch mal, Inquisition, Hexenverbrennung, wie hängt das zusammen?
Manfred Lütz: Die Inquisition ist die Institution, die es in Rom gab, die es auch als Spanische Inquisition gab, wo zum Beispiel Irrlehrer angeklagt wurden. Es gab allerdings verhältnismäßig wenige Todesurteile. Das ist auch etwas, das ich aus Angenendts Buch „Toleranz und Gewalt“ gelernt habe. Da war ich sogar als diplomierter Theologe baff. Ich habe mich intensiv mit Kirchengeschichte beschäftigt und hatte dennoch von dem, was ich da las, noch nie etwas gehört. Auch der Umstand, dass das Christentum die erste Religion war, die eben Häretiker nicht getötet hat, war mir unbekannt. Alle anderen Religionen haben es getan, die Christen nicht, und zwar wegen des Unkraut-Weizen-Gleichnisses.
Jesus beschreibt dort, wie die Knechte zum Herrn kamen und sagten: Der Teufel hat Unkraut in den Weizen gesät, deswegen müssen wir es doch ausreißen. Doch der Herr sagt im Gleichnis: Nein, reißt es nicht aus, sondern lasst es wachsen bis zum Jüngsten Tag und dann wird der liebe Gott schon selbst sehen, wer rechtgläubig ist und wer nicht. Mit Hinweis auf dieses Gleichnis haben die Bischöfe sich immer wieder geweigert Ketzer zu töten, wenn das Volk das ungestüm verlangte, damit endlich Hagelschlag und Missernten aufhörten. Mit solchem Aberglauben wollte die Kirche Schluss machen.
Tausend Jahre lang hat das mehr oder weniger funktioniert. Die ersten Ketzertötungen fanden erst im Jahre 1022 statt, schlimm genug, denn es widersprach einer ausdrücklichen Weisung Jesu, auch die Inquisition hat sich hier schuldig gemacht. Andererseits aber geht die Behauptung, die man mitunter im Spiegel lesen konnte, dass die Inquisition Millionen Todesopfer gefordert hat, völlig am heutigen Forschungsstand vorbei. Dort kann man nachlesen, dass die berüchtigte Spanische Inquisition in 160 Jahren im gesamten Spanischen Weltreich 829 Todesopfer forderte.. Das sind natürlich 829 zu viel und das ist ein Skandal, denn es widerspricht dem Unkraut-Weizen-Gleichnis. Es war ein Abfall vom Ursprung des Christentums, aber es waren eben keine Millionen, das sollte den Leuten bewusst sein.
Könnte man sagen, dass die Aufklärung ein Kind des Christentums ist, dass das intellektuelle Rüstzeug aus den Klöstern in das Volk getragen wurde, zum Beispiel durch die Scholastiker?
Manfred Lütz: Es muss differenziert werden, natürlich hat die Kirche zum Teil auch Aufklärungsbemühungen unterbunden. Sie haben aber ganz Recht, die moderne Wissenschaft geht auf das Christentum zurück und damit später auch die Aufklärung. Die Christen glaubten nicht mehr, wie die Naturreligionen, dass in der Natur überall böse Geister ihr Unwesen trieben, vor denen die Menschen Angst haben mussten. Sie glaubten an nur einen allmächtigen Gott, der die Natur geschaffen hatte und diese Natur konnten sie sich untertan machen und sie erforschen. Niemand brauchte mehr Angst vor ihr zu haben, „Heidenangst“, daher kommt der Ausdruck.
Die ersten Forscher waren, wie Sie das eben schon erwähnt haben, scholastische Priester, zum Beispiel Albert der Große, er durchstreifte die Wälder, hat sich mit Botanik und Zoologie beschäftigt. Das Volk hatte den Eindruck, der Albert, das ist vielleicht ein Hexenmeister, denn dieser Forscherdrang verwunderte die einfachen Leute.
Das Christentum stand für Rationalität, für Wissenschaft. Die ersten Aufklärer waren alles fromme Katholiken, zum Beispiel Descartes und Galileo, beide sind als fromme Katholiken gestorben.
Jürgen Habermas sagt heute, wir brauchten rettende Übersetzungen der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, um den Menschenwürdebegriff zu begründen. Denn er weiß sehr gut, dass sonst der Unterschied zwischen einem späten Alzheimer-Patienten und einem Schimpansen vielen Menschen nicht mehr plausibel zu machen wäre. Dagegen bindet der australische Philosoph Peter Singer den Wert eines Menschen an seine aktuell abrufbare Intellektualität. Vergleicht man einen Alzheimer-Patienten im Endstadium mit einem Schimpansen, ist der Schimpanse kognitiv dem Alzheimerpatienten überlegen.
Wenn wir die Menschenwürde an die Intellektualität binden, wäre der Schimpanse schützenswerter als der Alzheimer-Patient. Ohne die Gottesebenbildlichkeit des Menschen im Gegensatz zum Tier als Begründung der Menschenwürde, könnte die Basis unserer Gesellschaftsordnung baden gehen. Vor allem wenn sich das Christentum langsam verabschiedet, besteht die Gefahr, dass uns das Fundament unserer Gesellschaftsordnung, die Menschenwürde, als Grundlage abhandenkommt, für die man eintreten und sogar kämpfen muss. Die Menschenwürde hinge sozusagen in der Luft.
Stattdessen freuen sich die Leute über Kirchenaustritte und reden abfällig über den Vatikan, verdammen Bischöfe wie Kardinäle in die Irrelevanz. Wenn die Gesellschaft sich von der Kirche verabschiedet, besteht dann nicht die Gefahr, dass wir diese Errungenschaften, über die wir eben gesprochen haben, die Konzepte von Toleranz, Mitleid und Würde über Bord werfen?
Manfred Lütz: Natürlich, das wäre nur konsequent. Es geht mir in dem Buch gar nicht darum, das Christentum zu verteidigen, ich möchte die Leute schlicht nur auf den aktuellen Stand der Forschung bringen, sei es in Sachen Inquisition oder zum Beispiel, was die Kreuzzüge betrifft. Die Leute verstehen oft nicht, dass es mir um Allgemeinbildung geht. Mir persönlich kann es egal sein, ob es viele gläubige Christen gibt. Ich mache das also nicht, um Reklame für die Kirche zu machen, nach dem Motto: Wenn sich das Buch gut verkauft und die Eintrittszahlen wieder steigen, ist es ein Erfolg.
In der Bibel heißt es ja ganz im Gegenteil, dass die Leute am Ende fast alle vom Glauben abfallen werden. Ziel des Christentums war nie, dass alle Christen werden müssten. Aber selbst bekannte Atheisten in Deutschland wie Gysi oder Habermas wissen, dass mit dem Christentum etwas verloren geht, was ein Teil des Fundaments unserer Wertordnung ist. Ich stimme Ihnen zu, die Gefahr besteht, dass mit dem Abschied vom Christentum, auch unser Werte-Fundament abhandenkommt.
Der dilettantische Umgang der Bischöfe mit der Missbrauchskrise hat zu einer schweren Krise des Images der Kirche geführt. Sogar atheistische Journalisten bekommen inzwischen eine Beißhemmung, weil sie offenbar merken, dass die Situation desolat ist. Es muss natürlich festgehalten werden, dass es innerhalb des Christentums Gruppen und Sekten gibt, die gar nicht im Sinne dieses ursprünglichen Christentums, von dem ich jetzt rede, handeln. Irgendwann müssen wir uns aber fragen, was tritt denn an die Stelle des Christentums, der christlichen Werte? Übernimmt ein Donald Trump und seine Mentalität diesen Platz, der sagt, nur die Erfolgreichen sind gut und der Rest weniger wert. Ist es erstrebenswert, dass der Stärkere sich unbedingt durchsetzt, dass derjenige, der wirtschaftlichen Erfolg hat, derjenige ist, der mehr anerkannt wird? Heute schon reden viele mit einem Millionär anders als mit einem Obdachlosen, obwohl beide die gleiche Würde besitzen. Das ist im ursprünglichen Sinne nicht christlich. Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass hohe Intellektualität, großer Erfolg und Reichtum, wenn man so sagen soll, mehr Menschenwürde bedeutet, als wenn man das nicht hat. Das ist zwar theoretisch Unsinn, aber hat bereits praktisch Auswirkungen.
Jetzt die Frage an den Psychotherapeuten, wie konnte es passieren, dass dieses christliche Fundament unseres gegenseitigen Umgangs so in Misskredit geraten ist? Gab es da einen Auslöser?
Manfred Lütz: Alexander Mitscherlich hat vor fünfzig Jahren mal ein Buch geschrieben „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, er hatte darauf hingewiesen, dass die Väterlichkeit sich in der Krise befindet, die Väter würden zunehmend ihre Rolle nicht mehr einnehmen und man hat den Eindruck, dass wir am Ende dieses Weges angelangt sind. Väter vermeiden, ihren Kindern gegenüber als Autorität wahrgenommen zu werden. Noch nicht einmal einen Vater Staat gibt es noch, gegen den man protestieren könnte, am liebsten schließen sich Politiker Demonstrationen gegen sie selbst gleich selber an. Im Grunde gibt es nichts und niemand mehr, gegen den man wirksam protestieren kann – außer einer einzigen Institution, und das ist die Katholische Kirche, nicht etwa die Evangelische, die immer so ausgewogen reagiert, dass man da gar nicht gegen sein kann.
Und dass an der Spitze dieser Kirche auch noch ein Heiliger Vater steht, das lässt wirklich jedem Psychoanalytiker das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sozialpsychologisch habe ich den Eindruck, dass der ganze nicht gelebte Protest in unserer Gesellschaft, die ganze nicht gelebte Pubertät, der ganze Ärger gegen die Politesse und gegen all das, was der Staat sonst noch mit einem anstellt, wunderbar bei der Katholische Kirche ausgelassen werden kann. Wenn allerdings dann diese Institution zusammenklappt und somit in jeder Hinsicht ausfällt, auch mit ihren sozialen Institutionen, dann wird es eiskalt in unserer Gesellschaft und das wollen die Menschen nun auch nicht.
Man könnte dann sagen: Gnade uns Gott.
Manfred Lütz: Könnte man sagen.
Herr Lütz, wir können leider nur am Lack kratzen, aber ich finde es fantastisch mit jemanden wie Ihnen zu reden, man gibt ein Stichwort und Sie eröffnen ganze Horizonte, die dahinterstehen. Eigentlich wollte ich nicht direkt mit Ihnen über die heutige katholische Kirche sprechen, jetzt habe ich doch noch eine Frage zum Schluss. Die Neue Zürcher Zeitung titelte, dass die Katholische Kirche, besonders das Episkopat, einen Nachholbedarf in Deutschland in Sachen Digitalisierung sehe. Wie wurde dieser Bedarf festgestellt , und woran macht das Episkopat das fest? Ich weiß gar nicht, was damit gemeint ist. Haben Sie eine Ahnung?
Manfred Lütz: Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich bin nicht als „Digital-Native“ aufgewachsen. Fehlende Digitalisierung mag ein Problem sein, aber das größte Problem der Bischöfe ist eine Überforderung mit der jetzigen Situation. Was müssen Bischöfe heute nicht alles sein und können: medial gut zu vermarkten, großartige Kommunikatoren, nicht nur theologisch, sondern auch betriebswirtschaftlich gebildet und in öffentlichen Debatten müssen sie auch noch punkten, all das kann man doch nicht von einer einzelnen Person verlangen. Das bedeutet chronische Überforderung, dazu kam die Missbrauchskrise, die die Bischöfe noch mehr überforderte. Ich habe mich dafür stark gemacht, mehr Wissenschaft in den Aufarbeitungsprozess zu holen, aber die medialen Angriffe haben das erschwert. Denn die Kirche hat jetzt auch versucht, vor allem medial zu punkten, was aber zum großen Teil missglückt ist.
Die vielen Fehler machen die Überforderung des Systems noch sichtbarer.
Eine letzte Sache noch, es geht um die soziale Frage, die uns hier im Verlag auch in besonderem Maße umtreibt. Es gibt die berühmte Sozialenzyklika von Leo XIII., in der er sich mit dem Thema beschäftigt. Auch Johannes Paul II., der unter Unwissenden als erzkonservativ gilt, beschäftigt sich in seinen Enzykliken mit der sozialen Frage, wenn er den Kapitalismus und seine neoliberalen Auswüchse kritisiert. Warum wird von der Kirche in Deutschland oder weltweit nicht lautere Kritik geübt, warum schweigt die Kirche darüber, dass in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut lebt, dass weite Teile der Bevölkerung von Bildung abgeschnitten sind? Im Prinzip würde es darum gehen, das zu tun, was den Kern katholischer Soziallehre ausmacht. Stattdessen wird der Internetkonsum von Jugendlichen gefeiert, das ist doch Irrsinn.
Manfred Lütz: Ja, da stimme ich Ihnen völlig zu. Es gibt Leute wie meinen Freund Franz Meurer in Köln, der sehr engagiert im sozialen Bereich ist, er ist ein Sozialpfarrer in Köln, es gibt noch viele Initiativen, auch in anderen Städten, aber das sind mehr Graswurzelbewegungen.
Die Bischofskonferenz produziert gute Erklärungen zu diesen Fragen, aber das gelangt selten in die Öffentlichkeit. Das hat den sozialpsychologischen Grund, den ich Ihnen eben nannte, dass eben die Katholische Kirche herhalten muss als ein negatives Passepartout, gegen das man hemmungslos protestieren kann.
In meinen Augen ist ein Wandel nur durch Aufklärung herbeizuführen. Darum bemühe ich mich in diesem Buch, die Leute aufzuklären, über die wahre Geschichte des Christentums, auf dem neusten Stand der Wissenschaft, nicht wie der Vatikan sie sieht, selbst der weiß da manchmal nicht alles. Johannes Paul II. zum Beispiel war sozialpolitisch durchaus links, das heißt, wie Sie richtig gesagt haben, Centesimus Annus, die berühmte Enzyklika von ihm, hundert Jahre nach der ersten Sozialenzyklika Leos XIII. ist eigentlich eine radikale Absage an den Neoliberalismus.
… mit scharfen Formulierungen.
Manfred Lütz: … mit scharfen Formulierungen, die manchmal fast marxistisch klingen, aber er ist natürlich zweifellos ein Gegner des Marxismus gewesen, er hat ja sogar den real-existierenden Sozialismus zum Einsturz gebracht, aber es ist durchaus nicht so gewesen, dass Johannes Paul II. dann 1990 triumphierend durch Europa gezogen ist und gesagt hat, jetzt schaffen wir diesen ganzen sozialistischen Mist ab, jetzt machen wir hemmungslos Markt, so ist das eben nicht gewesen. Diese Enzyklika Centesimus Annus hat versucht den sozialen Aspekt besonders in den Vordergrund zu stellen. Das betrifft ja auch eine wichtige Funktion der Kirchen, nach wie vor.
Übrigens als Johannes Paul II. 1980 Deutschland besuchte, wurde in der Tagesschau neun Minuten über den Besuch berichtet. Ist das heute undenkbar?
Manfred Lütz: Es kommt drauf an. Die katholische Kirche hat einiges an Spektakel zu bieten, weitaus mehr als die evangelische Kirche. Zum Beispiel Sakralität ist in dieser Gesellschaft eigentlich nur durch die Katholische Kirche repräsentiert und das ist rein medial gesehen sehr interessant, und wenn Sakralität und Sexualität sich mischen, wie zum Beispiel im Missbrauchsbereich, führt das medial zu besonders großer Aufmerksamkeit. Die Opferverbände sagen, es gibt in der Evangelischen Kirche genauso viel Missbrauch wie in der Katholischen Kirche, ich kann das jetzt gar nicht genau beurteilen, aber die Aufmerksamkeit auf die katholische Kirche ist da einfach größer.
Meiner Meinung nach sollte übrigens der Staat die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals übernehmen, die Kirche ist daran gescheitert, und dann sollte man gleichzeitig die evangelische Kirche und den Deutschen Olympischen Sportbund unter die Lupe nehmen, das wäre auch wissenschaftlich viel interessanter, weil man Vergleiche hätte und es wäre gerechter für die Opfer.
Herr Lütz, haben Sie ganz, ganz vielen Dank.
Manfred Lütz: Ich danke Ihnen. Tschüss und auf Wiedersehen.
Im Doppelsinn merkwürdig, diese eitle Selbstdarstellung des prominenten rheinischen Psychokatholen, Exklinikleiters & Bestsellerautors in Interviewform. Der weiland mal gründlich kritisiert wurde http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/IRRE.pdf Aber das scheint hier nicht zu interessieren. Oder sollte Herr Lütz Autor des Westendverlags werden?