Kunst, Freiheit und Demokratie

Marcel Duchamp, 1917, Fountain, Foto von Alfred Stieglitz, gemeinfrei

 

Kunstfreiheit ist in der Moderne zur Parole geronnen. Es ist aber ebendiese Moderne, die sie auch infrage stellt.

 

Kunst und Freiheit sind zwei Kategorien, die in der Moderne derart miteinander verbandelt worden sind, daß sie im Begriff der Kunstfreiheit nachgerade zur Parole gerannen. Weniger bedeutend ist dabei, daß die Kunstfreiheit rechtlich verbürgt ist, als dass sie ein Losgelöstsein von fremdbestimmten Restriktionen anzeigt, mithin der emanzipativen Sphäre menschlichen Daseins zuzurechnen ist.

Modern ist dabei sowohl der rigorose Anspruch auf Freiheit als auch die realen, historisch entstandenen Bedingungen für dessen Anspruch. Dies wiederum hat mit zweierlei zu tun: zum einen mit der Emanzipation der Kunst von ihren religiösen Fesseln (was Walter Benjamin als der Übergang vom Kultwert zum Ausstellungswert beschrieben hat); zum anderen aber mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die die institutionellen Manifestationen dieser Emanzipation erst eigentlich ermöglicht haben, also der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer politischen Ausrichtung auf Demokratie als ihre politische Form.

Kunstfreiheit gewann so eine doppelte Bedeutung: Kunst wurde eine Autonomie zugeschrieben, die sie gleichsam gegen außerkünstlerische Einflüsse immunisiert. Zugleich aber wurde sie dahingehend demokratisiert, als sie allen zugänglich gemacht werden sollte. Der aristokratische Musiksaal, das Hoftheater und die fürstliche Kunstsammlung verloren ihre Monopolstellung zugunsten des modernen bürgerlichen Konzertsaals, der Nationalgalerie und des Staatstheaters. Das Publikum erweiterte sich von der geschlossenen Adelsgesellschaft zum breiten Massenpublikum des bürgerlich geprägten nationalstaatlichen Zeitalters.

Das moderne Bildungspostulat, im Deutschland des 19. Jahrhunderts zumal, setzte gleichsam eine Norm für die kulturelle Orientierung des Bürgers; ensprechend wurden auch die Institutionen zur Erlangung und Erweiterung von Bildung – von der allgemeinen Schulpflicht, über Gymnasial- und Hochschulbildung bis hin zur offiziellen Öffnung und formellen Zugänglichmachung von Kulturveranstaltungen und Kunstbetrieben – eingerichtet und etabliert.

Besitz und Bildung

Aber schon die bürgerliche Parole „Besitz und Bildung“ in Deutschland sowie das Reden von den „educated classes“ in England zu Beginn des modernen Zeitalters indizierten, dass die abstrakte Idee der demokratisierten Kunstfreiheit und die realen sozialen und politischen Bedingungen zu ihrer Verwirklichung in einem strukturellen Widerspruch zueinander standen. Was als Ideologie proklamiert wurde, setzte sich nicht realiter um. Zwar erlangten mehr Menschen als zuvor Bildung, aber die sozial bestehenden Klassenklüfte und die sich aus ihnen entwickelnden Milieuunterschiede schlugen sich in der Niveaudiskrepanz von Erziehung, Bildung und der mit diesen einhergehenden Öffnung zur Kunst und Kultur nieder.

Die formell ausgerufene Chancengleichheit war gegeben, wurde auch ideologisch gepriesen, aber mitnichten praktiziert. Bourdieu hat u.a. darauf hingewiesen, dass die Erziehung zur Kunst nicht erst in der Schule beginne, sondern bereits in den Lebenswelten des Vorschulalters. Die vermeintlich allen Erstklässlern gegebene Chancengleichheit ist keine, denn die Ungleichheit ist sozial vorgeprägt.

Nicht zuletzt das zeitigt eine spezifische Form des Kulturressentiments. Die „educated classes“ haben ein Interesse daran, die Bildungskluft aufrecht zu erhalten. Die sozial-, mithin bildungsmäßig Benachteiligten aber lassen ihre Kränkung über die Arroganz der kulturell Beschlagenen und Gebildeten in eine ablehnende, zuweilen dezidiert abschätzige Haltung gegenüber der „hohen Kultur“ übergehen, die fälschlicherweise als die Kultur der ökonomisch besser bestellten Klassen identifiziert wird.

Nicht ausgeschlossen, dass der phänomenale Siegeszug der Kulturindustrie im 20. und 21. Jahrhundert nicht nur im abhanden gekommenen Kulturkapital großer Teile der Gesellschaft, sondern – sozialpsychisch betrachtet – gerade in diesem Ressentiment seine Wurzeln hat. In der manipulativ schmeichelnden kommerziellen Massenkultur fühlt man sich eher „daheim“ als in der fremdgewordenen Kultur der Höhergestellten in der sozialen Hierarchie.

Von selbst versteht sich, dass die hier vorgelegte Sichtweise der Dinge selbst als elitär und überheblich abqualifiziert werden mag. Aber dieser Vorwurf erweist sich als zutiefst ideologisch. Er kommt demokratisch daher, verteidigt mithin das Recht der Menschen, selbst zu bestimmen, was ihre Kultur zu sein hat und welche Kunst sie als die ihre akzeptieren wollen. Aber man vergisst darüber zweierlei: Erstens, dass das „reiche“ Angebot der Kulturindustrie ein aus Profitmotiven „von oben“ fürs „unten“ Verfertigtes darstellt (und mitnichten eine von unten authentisch gewachsene Kultur). Zweitens, dass mit dieser vermeintlichen Zuvorkommenheit die strukturell bereits bestehende soziale Kluft nur reproduziert wird, die als demokratische Wohltat kaschierte Profitmache also nichts Anderes beabsichtigt, als die Affirmation des Bestehenden samt des ihm spezifisch eignenden Ressentiment gegen Kunst und Kultur.

Was ideologisch als Selbstbestimmung der Bürger ausgegeben wird, ist in Wahrheit die strukturell verfestigte Verhinderung der Aneignung dessen, was sich ihnen in einer anders geformten Gesellschaftsordnung an Kunst und Kultur öffnen könnte.

Kunstfreiheit und Kulturdemokratie

Diese immanenten, von der hierarchischen Staffelung der Gesellschaft ausgehenden Strukturdiskrepanzen werden in den letzten Jahrzehnten durch Migrationsprozesse zwischen Staaten und Kontinenten aufgewichtet. Im hier erörterten Zusammenhang stellt sich das daraus sich ergebende Problem der Kunstfreiheit und Kulturdemokratie gleich zweifach.

Zum einen fragt sich, wie mit der Heterogenität verschiedener Kulturen umzugehen sei. Zwar wird die Pluralität lippenbekenntnishaft als bereichernd gespriesen, aber nur bis zur Grenze der Bedrohung ausgehalten, wenn sich etwa herausstellt, dass die kulturellen Praktiken weder inhaltlich noch formal miteinander vereinbar sind. Nicht von ungefähr kam in Deutschland im letzten Jahrzehnt der Begriff der Leitkultur auf, ein Begriff, der sich zwar liberale Toleranz zugutehalten darf, letztlich aber auch die dezidierte Bestrebung nach kultureller Hegemonie zu erkennen gibt.

Zwar gibt es Bereiche, in denen das ehemals frivol propagierte Multikulti sich erhalten hat, im Kulinarischen etwa oder in der Sphäre der Populärmusik. Prekär wird es aber dann, wenn es um primär auseinanderdriftende Lebenswelten, Gesinnungen und Gepflogenheiten geht; wenn also Demokratie auch als soziale Realtät gefordert wäre. Zu untersuchen wäre, wie sich Islamophobie nicht nur aus bekannten politischen Motiven, sondern auch aus dieser ethnisch-kulturellen Dimension der Koexistenz in Migrationsgesellschaften speist.

Zum anderen – damit freilich in engem Zusammenhang stehend – stellt sich heraus, dass die im Ursprung sozialen Klüfte ideologisch zunehmend ins Kulturelle umschlagen, und zwar als sogenannte Identitätsdiskurse. Der ideologische Aspekt dieses Umschlags drückt sich darin aus, dass der Begriff der Gesellschaft durch den der Kultur ersetzt worden ist, was zwangsläufig dazu führt, dass es nicht mehr um soziale Veränderung, mithin um die Überwindung von Ungleichheit, Diskriminierung und Ausbeutung geht, sondern um identitäre Anerkennung bzw. um kulturell eingefärbten ethnischen Kampf. So bedeutend diese Diskurse für sich genommen sein mögen – zweifellos spiegelt sich ihnen ein reales Strukturproblem der Gesellschaft – laufen sie stets Gefahr den eigentlichen gesellschaftlichen Kampf aus den Augen zu verlieren, letztlich also zu einer Affirmation des schlecht Bestehenden, welche Kunst und Kultur anzuprangern hätten, zu verkommen.

Gesondert wäre zu erörtern, wie Kunst selbst mit den Kategorien von Freiheit und Demokratie umzugehen vermag. Freiheit als Thema und Freiheit als Anspruch von Kunst sind nicht zwangsläufig zusammenzudenken.

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