Konzeptkunst: Wenn die Idee ihrer Verwirklichung für ebenbürtig erachtet wird

Mirror von Michael Baldwin. Bild: Art & Language/CC BY-SA-4.0

 

Bedeutet Kozeptkunst, eine der radikalisten Entwicklungen in der westlichen Kunstmoderne, den Tod von Kunst? Oder handelt es sich lediglich um eine Umdeutung des traditionellen Kunstbegriffs?

Als eine der radikalsten Entwicklungen der Formüberbietung in der westlichen Kunstmoderne darf die Heraufkunft und Verbreitung der Konzeptkunst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Ihre Radikalität geht in der Tat an die Wurzel. Denn wie immer entschieden sich das Postulat der Formüberbietung in den unterschiedlichen Kunstbereichen des 19. und 20. Jahrhunderts auswirkte, hat es doch nie das Pardigma der Form verlassen, vor allem nicht die Bestrebung, sie in ein materiell erfaßbares Kunstobjekt umzusetzen.

Es ist nun dieses Wesensmerkmal der Kunstpraxis, gegen das sich die Konzeptkunst erhob, als sie begann ein Grundprinzip der bildenden Kunst zu untergraben: das ihrer Visualität. Die Subversion geht ans Eingemachte: Die dem Kunstwerk zugrundeliegende Idee, ihr begriffliches Konzept (daher der englische Name Conceptual Art), soll nicht weniger als seine materielle Verwirklichung ersetzen, und zwar nicht etwa, weil es an Finanzierungsmitteln oder technischen Möglichkeiten mangelt, das Kunstobjekt herzustellen, sondern weil die Idee nunmehr ihrer Verwirklichung für ebenbürtig erachtet wird.

Der Betrachter des Werks ist nicht mehr auf seine sensuelle Wahrnehmung beschränkt, sondern ist gefordert, die vollends aufgelöste Form zu reflektieren und das Werk kontemplativ zu erfassen. Das bedeutet, dass das Kunstwerk der Sphäre seiner Vollendung entschlagen wird, um dem Prozess seiner unbegrenzten individuellen Rezeption durch den Betrachter untergeordnet zu werden.

Es lässt sich sagen, dass die Konzeptkunst sich ihrer Tendenz nach durch Entmaterialisierung des Kunstaktes und die Reduktion der Mittel, die ihn konstituieren, kennzeichnet. Sie begnügt sich praktisch mit der Vergegenwärtigung der Planung des Werks, präsentiert dem Rezipienten Entwürfe als etwas Endliches, schriftliche Handlungsanweisungen für etwas, das nicht vollzogen werden soll, Ideen für unrealisiert bleibende Projekte, Beschreibungen, Skizzen, Photos etc. Mehr noch: Obgleich Werke der Konzeptkunst im Laufe der Jahre ihren Platz in großen Museen für moderne Kunst fanden, lehnten viele ihrer Schöpfer diese konventionelle Ausstellungspraxis ab und mieteten z.B. ganze Zeitungsseiten als alternativen „Ausstellungsraum“. 1969 gründeten gar die britischen Künstler Terry Atkinson und Michael Baldwin die Zeitschrift „Art Language“ als offizielles Organ der Konzeptkunst-Bewegung, welches sie selbst für ein Kunstwerk erklärten.

Undeutung des Kunstbegriffs

Diese Reflexion über den Kunstakt, über die Entstehungswege von Kunst, die im Kunstfeld wirkenden Mechanismen und die Wahrnehmungsweisen durch die Rezipienten sollten in erster Linie den Betrachter dazu animieren, sich auf die Kontemplation des Kontexts einzulassen, die gedankliche Auseinandersetzung mit der Herstellungspraxis des Werks. Erhofft wurde eine Neudefinition von Kunst, die sich nicht mehr auf physische Objekte bezieht, sondern auf Ideen und mentale Konzepte, die sich zwar prinzipiell realisieren lassen, die Realisierung aber nicht als notwendig ansieht.

Und insofern sich die Konzeptkunst dennoch mit einer Materialanordnung befasste, zielte der kompositorische Akt nicht auf die Erzeugung ästhetischer Werte, sondern auf das reflektierte Denken über den Konnex zwischen dem wahrnehmbaren Objekt, seiner alternativen Dar- und Ausstellungsweisen und seiner verbalen Definition (wobei letztere, wie gesagt, selbst als Kunstobjekte verstanden werden).

So enthielt „One and Three Chairs“, das Werk von Joseph Kosuth, einem der Pioniere der Konzeptkunst, neben einem realen Stuhl auch die Photographie eines Stuhls sowie einen Lexikontext über „Stuhl“. Erörtert wurden dabei auch Fragen der Authetizität des Werks und der Autorität des „Autors“: Was im Zusammenhang moderner Reproduktionstechnik (Photographie) als Problem aufgegriffen und bereits von Walter Benjamin weitgehend anlysiert worden war, diente gleichsam als „Lösung“ bei der Konzeptkunst – zu den Herstellungsanweisungen von Objekten (die man gar nicht herzustellen gedachte) fügte man Anweisungen über die (beschränkte) Anzahl von herzustellenden Exemplaren hinzu, die der Künstler „genehmigte“, wodurch das Objekt die Autorisierung durch seinen Schöpfer erhielt. So dienten auch Signatur, Nummerierung und Betitelung der Objekte als Praktiken zur Wahrung der Autorität des Künstlers, wo doch gerade diese eigentlich untergraben werden sollte.

Die Grenzen zwischen der Herstellung des Werks und seiner Rezeption waren es, die es unkenntlich zu machen galt. Nicht von ungefähr versteht man heute diese Kunstpraxis als historischen Ursprung der sogenannten interaktiven Kunst.

Nun kann man aber kein Kunstwerk, in welchem Bereich auch immer, durch die Lektüre von (realen oder imaginierten) Beschreibungen des Werks erleben oder sich in einem genuinen Sinne zueigen machen; wenn dieses wichtige Element ästhetischer Erfahrung als Teil der Kunstwahrnehmung wegfällt, handelt es sich nicht mehr nur um eine Umdefinition von Kunst (also um einen Nomenklaturstreit), sondern um ein willentliches Verlassen des Kunstterrains, mithin um etwas außerhalb der Kunst als solcher Liegendes.

Es gibt, so besehen, keinen Grund anzunehmen, dass die innerhalb der Konzeptkunst verhandelte Begriffswelt an sich schon einen Kunstakt darstellt. Sie befasst sich lediglich begrifflich mit Konzepten über Kunst, wobei sie bewusst auf ein Kunstschaffen verzichtet, das auf Materialanordnung, Verwendung von spezifischen Ausdrucksmitteln, stilistischer Kreation von Formen und Aktivierung der Sinne als Grundlage eines ästhetisch-sensuell-geisteigen Erlebnisses basiert.

Verhüllung des Reichstags

Es gibt gleichwohl eine andere Möglichkeit, einen Weg, der nicht danach trachtet, den kompositorischen Kunstakt im Namen einer die ästhetische Materialgestaltung untergrabende Konzepthegemonie zu eliminieren. Dabei soll die konzeptuelle Dimension mitnichten vernachlässigt werden, sondern ganz im Gegenteil durch die künstlerische Gestaltung noch herausgestellt und vertieft werden.

Als vorbildliches Beispiel dafür darf die „Verhüllung des Reichstags“ des Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude gelten. 1971 hegten sie die Idee, das Reichstagsgebäude in Berlin – ein historisch wie politisch befrachtetes Bauwerk, das als Ruine im Ostteil der infolge des Zweiten Weltkriegs und des darauffolgenden Kalten Krieges geteilten Stadt stand – zu verhüllen. Da die Verwirklichung der Idee damals aus politischen Gründen nicht möglich war, begann das Künstlerehepaar die Idee planend umzusetzen: Es entstanden tausende Skizzen, Zeichnungen, Gemälde des Gebäudes im enthüllten und verdeckten Zustand, Modelle von ihm in diversen Größen und irgendwann (als die nötige Technologie dafür zur Verfügung stand) auch Computersimulationen des Verhüllungsaktes.

Nach dem Mauerfall und der Vereinigung beider deutscher Staaten bekam die Bestrebung, die Idee zu verwirklichen, neuen Aufwind. Die Künstler wollten ihren Plan umsetzen, bevor das Bauwerk, welches künftig das Parlament der Berliner Republik beherbergen sollte, restauriert wird – kein einfaches Unterfangen, es bedurfte großer Überredungskunst, um dessen Annahme zu erzielen. Mit Hilfe der damaligen Präsidentin des Bundestags, Rita Süssmuth, wandte sich das Künstlerpaar an alle Bundestagsmitglieder mit der Bitte, das Projekt zu genehmigen.

Nach langen, teils polemischen und emotionalen Debatten wurde der Beschluss gefasst, und das Verhüllungswerk begann im Juni 1995. Über 100,000 m2 feuerfesten, synthetischen, mit Aluminium beschichteten Stoffs und etwa 15,600 m von Stricken zur Anbindung und Befestifung des Verhüllungsmaterials wurden hierfür hergestellt. Die riesigen Stofflächen wurden in einer speziellen Fabrik zusammengenäht. Die dann folgende Verhüllungsaktion, an der professionelle Wandkletterer und viele Helfer partizipierten, dauerte eine Woche. Zwei Wochen nach Beendigung der Aktion wurde der Stoff vom Gebäude abgenommen. Während der drei Wochen der Verhüllung und Enthüllung des Gebäudes als Kunstakt sahen es etwa 5 Millionen Besucher aus aller Welt am Ort.

Die Idee der Verhüllung des Reichstags sollte die öffentliche Aufmerksamkeit auf die während des Kalten Krieges zwischen Ost und West herrschenden Beziehungen lenken. Diese Intention verlor indes ihre Relevanz, als sich die Verwirklichung des Projekts nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und der Vereinigung beider deutscher Staaten endlich ermöglichte. Man konnte sich gleichwohl mit der Erörterung der begrifflich-philosophischen Aspekte des Verhüllungsakts als eine Dialektik der Vergegenwärtigung durch Verdeckung, der plastischen Präsentation (des Gegenstands) durch Verstecken etc. befassen – konzeptuelle Elemente, von denen ja das gesamte künstlerische Werk Christos durchwirkt ist.

Dies soll hier aber unerörtert bleiben. Stattdessen darf gefragt werden: Wie steht es um die diversen Stationen der „Verhüllung des Reichstags“ vom Moment ihrer ideellen Imagination bis zum Abschluss nach ihrer Verwirklichung? Ist der Status der begrifflich-abstrakten Idee dem der nachfolgenden Skizzen, Zeichnungen, Gemälden, Modelle und Computersimulationen gleichzusetzen; und der Status all dieser dem des realen Verhüllungsaktes bis zur Abnahme des Stoffes vom Gebäude vergleichbar; und der Status des realen Verhüllungsaktes wie der seiner live-Übertragungen im Fernsehen zu bewerten; und der Status der TV-Sendungen mit dem des danach entstandenen großen Dokumentationsbuches und Videofilms über das grandiose Kunstprojekt zu vergleichen? Kann jemand allen Ernstes behaupten, dass die Idee der Reichtagsverhüllung dem realen Verhüllungsakt des Gebäudes – mit all seinen konzeptuellen Aspekten und den ästhetischen Bildern, die ihnen folgten, mit all den Debatten über das Kunstwerk und dem auratischen Erlebnis angesichts des Schöpfungsaktes, mit dem Gefühl der Begeisterung sowie der intellektuellen Kontemplation, die das Projekt insgesamt während seiner materiellen Verwirklichung bewirkte – ebenbürtig sei? Kaum.

Wer aber so denkt, wer denkt, dass man die „Verhüllung des Reichstags“ als abstrakte, ihrer möglichen Verwirklichung im Wesen widerstrebenden Idee hätte belassen können, muss in Kauf nehmen, dass diese Idee vermutlich sehr bald erstickt und als totgeborene Kunst übriggeblieben wäre.

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