Konterrevolution

Schoenberg string quartet quartal chord. Bild: public domain

Politisch meint Konterrevolution, die Errungenschaften einer gelungenen Revolution aufzuheben, um eine Restauration des vor der Revolution Bestehenden zu starten. Welche Bedeutung hat dieser Begriff im Zusammenhang mit der Kunst?

Konterrevolution ist ein relationaler Begriff, er bezieht sich auf den der Revolution. Im Politischen und Gesellschaftlichen meint er für gewöhnlich die Praxis der dezidierten Bekämpfung einer Revolution, den Versuch, diese zu besiegen und ihre Auswirkungen aufzuheben. Konterrevolutionär war etwa der während der großen Französischen Revolution von Royalisten in der Vendée entfachte Bürgerkrieg. Aber auch von monarchistischen europäischen Staaten gegen das revolutionäre Frankreich ausgerufene Kriege waren insofern konterrevolutionär, als sie das von der Revolution Bewirkte – die Idee der Republik und die neue Legitimationsform der Herrschaft – zu bekämpfen trachteten, mithin die „alte Ordnung“ wieder instandsetzen wollten.

Konterrevolution in der Kunst

Wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit der Kunst? Sprach man in der Prämoderne im politischen Diskurs von Empörung und Umsturz im pejorativen Sinne (ehe man den modernen positiven Begriff der Revolution übernahm), so war dies im Bereich der Künste nicht nur nicht üblich, sondern letztlich auch undenkbar. Denn die Künstler selbst, mochten sie sich noch so radikaler Formüberbietungen befleißigen und Neuerungen in ihr Werk einbringen, begriffen sich gemeinhin selbst nicht als revolutionär in irgendeinem bewußt artikulierten Sinne. Sie konnten sich allenfalls als Protagonisten einer „neuen Zeit“ sehen, Vertreter eines ohnehin neu Bestehenden, etwa in der italienischen Renaissance.

Ein Raffael, Leonardo, Caravaggio oder Rembrandt praktizierten Revolutionäres in der Kunstgeschichte, verstanden sich aber selbst nicht als Revolutionäre. Zu gefestigt waren dafür die außerkünstlerischen Umstände des Kunstfeldes, noch unausgereift die autonome Stellung des Künstlers in der Gesellschaft. Die immanenten Umbrüche in der Kunst und die mit ihnen verbundenen Periodisierungen und Einteilungen in Kunstepochen wurden erst in der Moderne registriert und begrifflich konstruiert. Also im nachhinein.

Setzt man aber die westliche Moderne mit der im auslaufenden 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich revolutionär durchsetzenden und etablierenden bürgerlichen Gesellschaft an, so stellt sich heraus, dass in ihr das Bewusstsein des Revolutionären seinen Eingang auch in die Bereiche der Kunst fand. Der von Hegel apostrophierte „Zeitgeist“ diente nicht nur als Chiffre der Avanciertheit, sondern bezeichnete auch ein Bestreben, „auf der Höhe der Zeit“ zu sein, ein Postulat, das im Kunstbereich die fortwährende Formüberbietung zu einer Art Pflicht erhob und das Kunstneue zur Forderung gerinnen ließ.

Dies ging mit einer merklichen Veränderung der sozialen Stellung des Künstlers einher: Bach besucht Friedrich den Großen noch als (geschätzter) Untertan, der seine Improvisations-, nicht seine Kompositionskunst dem monarchischen Herrscher zum amüsierten Erstaunen darbietet; Haydn schafft noch ganz im Zeichen seiner Position als Hofkomponist beim Fürsten Esterházy. Wie anders bereits Beethoven, der als Anhänger der Französischen Revolution Napoleon bewundert, es ihm aber nicht verzeihen kann, als dieser sich selbst zum Kaiser krönt. Beethoven ist sowohl in seinem revolutionärem künstlerischen Schaffen als auch in seiner gesellschaftlichen Stellung als freier Künstler bereits ein selbstbewusster, von freiheitlichem Willen beseelter bürgerlicher Kunstheros.

Revolutionierung der Musik

Das Revolutionäre als bewusste Formveränderung und Schaffung neuer Formen zeichnet den gesamten Verlauf der Musikentwicklung im 19. Jahrhundert aus. Was man schon zu damaliger Zeit als den Übergang von der Klassik zum romantischen Zeitalter ansah, manifestierte sich sowohl in allmählichen Formmetamorphosen des jeweiligen Oeuvres als auch im manifesthaftem Bestreben, das völlig Neue erst eigentlich in die Welt zu bringen. Allein die Entfaltung der sich über neun grandiose Werke erstreckenden Symphonik Beethovens nimmt sich aus wie eine durchgängige Revolution-in-the-making aus.

Die Schlussbemerkung Joseph Haydns im britischen Fernsehfilm „Eroica – The day that changed music forever“ (2003) ist bezeichnend: Nach der von Beethoven dirigierten Generalprobe seiner dritten Symphonie im Palast von Fürst Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz in Wien, sagt Haydn, nach seinem Eindruck gefragt, die Musik sei zu laut, aber von nun an werde alles anders sein. Bedenkt man, was dann mit der fünften, siebten, vor allem aber mit der alle Maßstäbe sprengenden neunten Symphonie entstand, darf man Haydns Worte als durchaus prophetisch bewerten.

Bei Wagner wird später das „die alten Formen“ über Bord werfende Von-Grund-auf-Neue zum erklärten Programm. Nicht von ungefähr redet er von „Zukunftsmusik“ und revolutioniert mit seinem Konzept des Gesamtkunstwerks die traditionelle Form der Oper, die althergebrachte Auffassung einer Scheidung der einzelnen Kunstbereiche, mithin auch die Musiksprache selbst. Sein sogenannter Tristan-Akkord verweist in der Tat auf die sich bereits zu seiner Zeit anbahnende radikale Revolutionierug der klassischen-romantischen Harmonik, welche Jahrzehnte später in Arnold Schönbergs atonale Zwölftontechnik münden wird.

Im Wirken der Kunstavantgarde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts manifestierte sich die dezidiert proklamierte Revolutionierung aller Kunstbereiche. Eine Fülle von pathoserfüllten Manifesten überschwemmte die Kulturwelt – das dadaistische, das surrealistische, das futuristische, das expressionistische Manifest wie auch etwa das Bauhaus-Manifest –, womit sich ein Auftragsbewusstsein in der Moderne artikulierte.

Alle Kunstbereiche verzeichneten radikale (Um)Brüche: die bildende Kunst den Übergang vom Figurativen zur Abstraktion (Picasso, Kandinsky, Malewitsch); die Literatur die Überschreitung des linearen Erzählens hin zur Technik des Bewußtseinsstroms (Proust, Woolf); das Theater die Aufgabe des traditionellen Dramas zugunsten des epischen Theaters (Brecht) oder des absurden (Beckett, Ionesco); vor allem aber die Musik, die mit der Schönbergschen Zwölftontechnik die Sphären der Tonalität verließ, mithin den traditionellen Normen, Regeln und Gesetzen der klassisch-romantischen Musik (bzw. dem, was das Ohr der Musikrezipienten im Okzident für „natürlich“ erachtete) eine Absage erteilte.

Spaltung der Musikavantgarde

Aber schon im Verlauf dieser Revolution bildeten sich sehr bald Spaltungen. Trotz des Skandals, den die Uraufführung von Strawinskys Ballettmusik „Le sacre du printemps“ im Jahr 1913 verursachte, ließ es sich Adorno nicht nehmen, die Musik Strawinskys dem Vergleich mit der Schönbergs zu unterziehen, um ersteren letztlich des Reaktionären zu zeihen. Ähnliches widerfuhr auch Sibelius aus Adornos Feder, wobei freilich Sibelius seine spätromantische Musiksprache in der Tat nicht zu überschreiten vermochte bzw. es vorzog, in seinen letzten Lebensjahrzehnten künstlerisch zu verstummen.

Aber auch die Musik Bartoks oder etwa zuvor die von Debussy und Ravel, ganz zu schweigen von Janaceks musikalischem Ansatz, allesamt Künstler, die sich zwar dem Neuen verschrieben, zugleich jedoch den Rubikon der Tonalität nie rigoros überschritten haben (Schostakowitsch wollte vielleicht, durfte aber nicht; Prokofieff befand sich in einer ähnlichen Lage, wollte aber wohl auch nie wirklich) bildeten einen bedeutenden Bestandteil im recht heterogenen Musikmosaik der Moderne.

Wenn Schönberg das Maßstab fürs radikal Revolutionäre bildete, waren dann seine künstlerischen Zeitgonossen konterrevolutionär? Mehr noch: War Richard Strauß in seinen Opern „Salome“ und „Elektra“ bis an die Grenzen der Tonalität gelangt – wie soll man dann seine folgende, beliebteste Oper „Der Rosenkavalier“, die wieder ganz die Musiksprache der Spätromantik annahm, bewerten? Als Regression? Als eine Art Konterrevolution von Strauß gegen sich selbst?

Wohl kaum. Denn zum einen waren dies ja souveräne Entscheidungen der Künstler, die man nicht weniger zu respektieren hat, als die rigorose Konsequenz, mit der Berio, Boulez, Nono, Ligetti oder Stockhausen die Schönbergsche Revolution weitertrieben. Zum anderen darf man aber vielleicht postulieren, daß die Logik der Musikrevolution Schönbergs objektiv nicht nur eine Möglichkeit der Entfaltung in sich barg, sondern eben viele Möglichkeiten unterschiedlicher Couleur. Entgegen den Vorhaltungen des Postmodernismus zeichnete sich die Moderne stets durch eine heterogene Vieltfalt und eine bunte Pluralität.

Zu fragen bliebe entsprechend, wo das Konterrevolutionäre in der Moderne gelegen habe, wenn es denn eine gegeben hat. Die Antwort darauf scheint eindeutig zu sein: Gegen die revolutionäre Kunstmusik, die einen Gegenentwurf zum Bestehenden anzeigte und in Form brachte, richteten sich nicht ihre diversen Verzweigungen, sondern zunächst und vor allem die von Adorno beschriebenen und analysierten, aus der kommerziellen Logik des Kapitalismus erwachsenen und warenförmig vertriebenen Erzeugnisse der Kulturindustrie. Dass man beide Bereiche gar nicht erst vergleichen möge, ist eine zu kurzsichtige Forderung. Denn die eigentliche Konterrevolution vollzieht sich dann, wenn die Kulturindustrie sich anschickt, die Sphären der revolutionären Kunstautonomie zu kolonisieren. Und sie praktiziert dies schon seit geraumer Zeit.

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