Kommt nach Israel?

Benjamin Netanjahu und Reuven Rivlin, Präsident von Israel, bei einer Trauerfeier im Mai 2021 in Erinnerung an ästhiopische Juden, die auf ihrem Weg nach Israel gestorben waren. Bild: Haim Tzach / GPO.

Was hat es damit auf sich, dass das zionistische Israel stets Juden, die außerhalb Israels leben, auffordert, nach Israel zu ziehen?

Die mörderischen Anschläge auf jüdische Institutionen in Frankreich (2014) und Dänemark (2015) haben in Israel Erwartbares gezeitigt: „Spontan“ rief der damalige Premierminister Benjamin Netanjahu die Juden in diesen Ländern auf, nach Israel auszuwandern; Israel sei ihr Heim. „Die Juden sind wieder auf europäischem Boden ermordet worden, nur weil sie Juden sind“, deklarierte er. „Den Juden Europas und den Juden in der Welt sage ich, dass Israel euch mit offenen Armen erwartet.“

Abgesehen davon, dass führende Politiker in beiden Ländern von der Manipulation, die der israelische Premier auf Bürger ihres Landes ausüben zu sollen meinte, nicht gerade begeistert waren, mag man sich fragen, was es mit dieser Rhetorik Netanjahus auf sich hatte. Dass Juden als Juden „auf europäischem Boden“ mörderischer Gewalt ausgesetzt waren, lässt in der politischen Kultur Israels unweigerlich die Shoah assoziieren, und entsprechend wird Israel als das einzige Land begriffen, in welchem Juden sich in Sicherheit wiegen dürfen.

Nun stelle man sich vor, die Anschläge hätten im April oder Mai 2014 stattgefunden, woraufhin, dem Aufruf Netanjahus folgend, Juden aus Frankreich und Dänemark massenweise nach Israel ausgewandert wären, um dann im Juli und August in einen rund fünfzig Tage währenden Krieg zu geraten, in welchem ihr „Heim“ nicht nur den Tod unzähliger palästinensischer Kinder und Frauen verursacht hat, und bei dem auch siebzig Israelis ums Leben kamen, sondern selbst die in der Landesmitte gelegene Stadt Tel Aviv (ganz zu schweigen von Orten im Süden des Landes) von täglichen Luftalarmsirenen gebeutelt war. Rund zwei Monate war der Alltag des Judenstaates wie lahmgelegt, Menschen fürchteten sich, auf die Straße zu gehen – von Sicherheit konnte nicht die Rede sein.

Nicht nur durften also die Politiker Dänemarks und Frankreichs auf Benjamin Netanjahus fremdbestimmte Ideologisierung des Unglücks in ihrem Land indigniert reagieren, sondern in der Sache selbst war das Postulat des israelischen Premiers von einer objektiven Lüge getragen: Nicht zuletzt wegen der von israelischen Politikern betriebenen Politik ist das Leben von Juden schon seit Jahrzehnten gerade in Israel wie nirgendwo sonst gefährdet. Dies zuzugeben, würde allerdings die Einsicht erfordern, dass der Zionismus bis zum heutigen Tag sein zentrales Versprechen nicht einzulösen vermochte – den Juden ein Leben in Frieden und Sicherheit in ihrem eigenen Land zu garantieren.

Das will wohlverstanden sein: Israel ist in seiner Existenz durch keines seiner Nachbarländer bedroht, auch nicht durch den Iran und schon gar nicht durch die Palästinenser. Jedes Land der Region, dass Israel in seiner Existenz zu bedrohen trachtete, würde (aus bekannten Gründen) unweigerlich seinen eigenen Untergang mit festschreiben.

Darum geht es aber nicht. Es geht um die Fähigkeit, mittel- und langfristig ein Leben zu gewährleisten, das man als ein zivilgesellschaftlich akzeptables Leben ohne Angst, Misstrauen und ewigen Hass aufs geopolitische Umfeld, ohne Rassismus, keimenden Faschismus und entsprechend „notwendigen“ Militarismus, ansehen könnte. In der gegenwärtigen historischen Phase erweist sich dies als ein Ding der Unmöglichkeit. Israel strebt den für eine solche Lebensrealität unabdingbaren Frieden nicht an, weil es diesen Frieden nicht will.

Insofern ist in Netanjahus damaliger Rhetorik auch mehr indiziert als nur hohle Phrasendrescherei, wie sie ein gewievter Politiker in Wahlkampfzeiten vom Stapel lassen mag. Sie spiegelt vielmehr ein Grundmuster zionistischer Ideologie wider, das sich in die politische Kultur Israels über Jahrzehnte eingefräst hat. So musste das historische Projekt des Zionismus letztlich unvollendet bleiben, da ja ein Großteil der Juden in der Welt sich für ein Leben außerhalb Israels entschieden hat, mithin dem Postulat der Alijah, der Einwanderung in Israel, nicht nachgekommen ist.

Entsprechend musste der Zionismus sich immer schon eingestehen, dass sein Erfolg sich primär aus der Verneinung der Diaspora und weniger aus der Attraktivität Israels für die in der „Diaspora“ lebenden Juden speiste. So gerann das reaktive Moment auf das verabscheute diasporische Dasein zu seinem ideologischen Raison d’être. Und gerade weil er dies Ideologische immer wieder zum Faktor der Selbstvergewisserung erhob, mithin „Beweise“ zur Rechtfertigung des von ihm begangenen historischen Wegs suchte, musste er den Antisemitismus gleichsam als ideologischen Odem seiner Existenzberechtigung stets am Leben erhalten. Israel hat den Antisemitismus nie bekämpft, auch nie bekämpfen wollen, sondern vielmehr zum Argument erhoben, ja war nachgerade immer schon daran interessiert, dass es ihn gebe, um eben mit dem Angebot der historischen Alternative für die Juden, dem Zionismus, aufwarten zu können.

Zu diesem Zweck ist auch das Shoah-Andenken von Anbeginn ideologisch instrumentalisiert und die „Sicherheitsfrage“ – ungeachtet ihrer realen Dimension – zum nationalen Fetisch erhoben worden. Die Möglichkeit, das Sicherheitsproblem mit einem realen Frieden zu lösen, ist von der israelischen Politik nie ernsthaft erwogen worden. Der einzige, der diesen historischen Weg möglicherweise hatte beschreiten wollen, ist nicht von ungefähr umgebracht worden.

Die Varianten der Verwendung dieses ideologischen Grundmusters sind Legion. Sie reichen von der Apostrophierung jeglicher Kritik an Israel, besonders wenn sie aus Europa kommt, als antisemitisch, über das Postulat einer ewigen Bedrohung der israelischen Sicherheit, bis hin eben zur Befeierung Israels als Zufluchtsstätte „für Juden“. Die eklatanten Widersprüche, die dieser ideologischen Praxis innewohnen, stören die propagandistischen Platzhalter dieses Grundmusters kaum: Denn nicht nur lässt sich fragen, warum Juden in der Welt nach Israel auswandern sollen, wo doch Israel nach eigenem Bekunden stets in seiner Existenz bedroht ist; zu reflektieren wäre auch, wie es um den Kausalnexus bestellt ist zwischen dem in der Welt grassierenden Antisemitismus und der von Israel praktizierten völkerrechtswidrigen Okkupationspolitik, die ihrerseits gar nicht für eine solche erachtet wird, weil das besetzte Land (in der religiösen Version) Juden von Gott verheißen wurde, beziehungsweise (in der säkularen Version) jüdischer Oberhoheit notwendig unterstellt bleiben muss, um sich der Gefahr der „Auschwitz-Grenzen“ des alten Kernlands Israel entwinden zu können, als welche sie schon seit Jahrzehnten der israelischen Politrhetorik gelten.

Netanjahus Aufforderung der Juden Frankreichs und Dänemarks, nach Israel, ihrem „Heim“, auszuwandern, weiß sich also einer traditionsreichen Ideologie verschwistert. Die Juden dieser (und vieler anderer) Länder werden sich reiflich überlegen müssen, ob sie in dieses Israel real einwandern sollten. Vorerst sind sie bis zum heutigen Tag lediglich Gegenstand verlogener Phrasenpolitik.

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