Israel: Gedenken und Flaggenschwenkerei

Proteste am 22. April mit einer Kopie der Unabhängigkeitserklärung. Bild: Oren Rozen/CC BY-SA-4.0

Die Israelfahne hat in der zur Zeit in Israel mit großer Verve vollführten Protestbewegung eine gesteigerte Popularität errungen. Was bedeutet die “Wiederaneignung” des nationalen Emblems?

 

In Israel liegen der Gefallenen-Gedenktag und der Unabhängigkeitstag beieinander. Der Abend des ausgehenden Gefallenen-Gedenktages ist der Vorabend des Unabhängigkeitstages. Es mutet stets ein wenig merkwürdig an, dass man von der kollektiven Trauer so “leicht” zur freudigen Feier übergehen kann. Das ist gleichwohl keine israelische Sonderheit; Kulturgeschichte und Anthropologie wiesen dies schon relativ früh auf als Grundmuster kollektiven Bewusstseins. Freuds “Totem und Tabu” erwähnt einige beredte Beispiele dafür. Man denke auch in diesem Zusammenhang an die Verschwisterung von Fastnacht und Aschermittwoch – beeindruckend in Pieter Bruegels “Der Kampf zwischen Karneval und Fasten” dargestellt.

Der Gedenktag, an dem sich Angehörige und Freunde an den Gräbern der Gefallenen in den Friedhöfen versammeln, ließ diesmal Übles vermuten. Man befürchtete, dass der Gedenkakt durch Proteste “kontaminiert” werden könnte, wenn Politiker sich einfinden würden, die darauf insistieren, auch eine Rede zu halten. Bei der jetztigen Regierung wollten das viele Familien auf keinen Fall zulassen. Das war neu.

Es gab dann in der Tat wütende Proteste, besonders als Israels Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, ein faschistischer Kahanist, nach Beer-Sheva kam und seine Rede hielt. Aber es muss registriert werden, dass neben der präzedenzlosen Attacke auf den Politiker bei dieser Gelegenheit (in Israel gilt dieser Gedenktag als “heilig”) nach seiner Rede auch einen massiven Beifall zu hören war, der die Protestbekundungen lautstärkenmäßig sogar überstieg. Es gab auch an anderen Friedhöfen vereinzelte Demonstrationen, aber im großen Ganzen wahrte man die “Würde des Tages”; das Befürchtete trat nicht ein. Nicht an diesem besonders sensiblen Tag, bei dem man sich weitgehend an den Gepflogenheiten des althergebrachten Nationalkonsenses hielt, und jedenfalls nicht in der gemutmaßten Vehemenz.

Israel feiert dieses Jahr das 75. Jubiläum seiner Gründung. Zu fragen gilt es diesmal, mehr als jemals zuvor, was genau gefeiert wird. Eine Antwort darauf versuchte der Leitartikel der linksliberalen Tageszeitung Haaretz zum Unabhängigkeitstag zu geben: Nach Jahren melancholischer Mutlosigkeit habe das liberal-demokratische Lager Israels bzw. die aus ihm in den letzten Monaten erwachsene Protestbewegung das Unglaubliche geschafft:

“Sie hat den Versuch des Staatsstreichs vorläufig aufgehalten, und nicht nur dies, sondern sie hat es auch fertiggebracht, sich wieder die Staatsfahne anzueignen. Dieses Jahr repräsentiert die Fahne das freie, friedenswillige und normale Israel, und unzählige Menschen, die sich von ihr distanziert und ihr gegenüber eine zunehmende Entfremdung empfunden hatten, werden sie jetzt mit großem Stolz schwingen.”

Mehr noch: “Die Wiederaneignung der Israelfahne ist eine der größten Errungenschaften des Protestes, und sie symbolisiert viel mehr, als was die Fahne selbst symbolisiert. Im Grunde kündet die Aneignung der Fahne das oberste Ziel der Protestbewegung: den jüdischen Nationalchauvinisten die Gestaltung des Staates und des israelischen Schicksals nach ihrem Selbstverständnis zu verwehren. Die Passivität aufzugeben. Zu verstehen, dass es hier noch Millionen von Bürgern gibt, die Ohnmacht empfinden, wenn sie sehen, dass alles, woran sie geglaubt haben, zugrunde geht. Sich zu vereinigen und zusammen um den Charakter Israels zu kämpfen.”

Festtägliches verlangt stets nach Optimismus. Wo jubiliert wird, bedarf es immer auch der Beschönigung. Selbst bei einer renommierten Zeitung wie Haaretz. Und dennoch wundert man sich, was wohl dabei gedacht worden sei, gerade die “Rückeroberung” der Fahne als Paradigma der erfolgreichen Protestbewegung herauszustellen. Nicht von ungefähr distanzierten sich über Jahre linke Israelis von der enthusiasmierten Fahnenschwenkerei, weil sie eben als das Kennzeichen von nationalistischen Gesinnungsgegnern wahrgenommen wurde, erst recht, wenn es sich um jene handelte, die die Fahne als herrschaftlichen Anspruch in den besetzten Gebieten hochhoben – das erste, wofür die Siedler bei jedem neuen illegal “eroberten” Hügel im Westjordanland sorgten, war die Aufpflanzung der Israelfahne.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Da Israel seit Jahrzehnten eine menschen- und völkerrechtsfeindliche Besatzungsrealität betreibt, sind die israelischen Staatsembleme, allen voran die Nationalflagge, mit ihr zwangsläufig assoziiert. Was die Fahne symbolisiert, bestimmt sich zunächst und vor allem durch das, was ihre nationalen Träger realiter betreiben – wenn man sich schon auf die Symbolebene als game changer versteifen will, muss man sich auch klarmachen, dass die “Wiederaneignung der Israelfahne” unabdingbar die Mitaneignung des aus dem israelischen Konsensbewusstsein verdrängten Okkupationsregimes bedeutet.

Wenn also die Haaretz-Redaktion erklärt: “Dieses Jahr repräsentiert die Fahne das freie, friedenswillige und normale Israel”, dann handelt es sich im besten Fall um eine zutiefst unreflektierte Behauptung, im wahrscheinlicheren Fall aber um eine Ideologie des linksliberalen Lagers, das sich zwar redlich um die strukturelle Verhinderung des Staatsstreichs bemüht (ob erfolgreich oder nicht, wird sich erst erweisen müssen), dies aber unter dezidierter Ausblendung dessen, was auf dem Spiel steht, tut: Israel kann nicht frei und friedenswillig sein, solange es die Okkupation weiterhin hinnimmt und alle Wege, die zu ihrer Aufhebung führen könnten, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln systematisch untergräbt. Haaretz bedenkt schlechterdings nicht, dass das “das normale Israel” ist.

Die Gedenk- und Unabhängigkeitstage sind nun vorbei. Diese Zeilen werden zu einem Zeitpunkt geschrieben, an dem die für den Donnerstagabend anberaumte rechte Riesendemonstration zur Unterstützung der Regierung und der “Justizreform”, mithin des Staatstreichs, vor der Knesset noch aussteht. Angestrebt ist die Teilnahm von “einer Million” Anhängern Netanjahus und seiner Regierungskoalition. Ob es eine Million sein werden, muss abgewartet werden. Gewiss ist aber, dass man eine Riesenmenge Israelfahnen “mit großem Stolz schwingen” wird.

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3 Kommentare

  1. Netanjahu und sein Sohn – Biden und sein Sohn ein krimineller Verein. Und so etwas wird auch noch gewählt.

    Beck/Bock hierzulande – was ist aus dieser Menschheit geworden???

    Sogenannte “Klimaterroristen” gehen Straflos aus – bezahlt von den größten Umweltsündern.

    Aber bei der heutigen Generation ersetzt das Handy auch das Hirn !!

  2. Die nicht gewählte Korrupte fr vdl, leistet Vorschub, indem sie den israelischen Staat lobt:
    Aus einer Wüste blühende Landschaften hervorgebracht zu haben.
    Diese Äußerung wurde gleich durch Israels Nachbarn kritisiert…
    Unbedacht oder gewollt, eines ist sicher, der mehr Fronten ‘Krieg’ Israels wird durch Fahnen wedeln nicht geringer.
    Der Ausgangspunkt, war die religiöse Moschee in Jerusalem und das im Ramadan.
    Die mehr Frontenauseinandersetzung hat durch die christliche Note vdl nochmal an Schwung hinzu gewonnen.

  3. Korruption ist nicht systemfremd sondern die Weise wie das System funktioniert.

    Bürgerliche Ideologie glaubt das System durch den Willen Einzelner erklären zu können,
    deren Wille aus unerforschlicher persönlicher Püschologie oder gleich gar Höheren Mächten herrührt.

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