Israel – Deutschland – Palästina

Feldendom in Jerusalem. Bild: Berthold Werner/gemeinfrei

Das Beziehungsgeflecht zwischen Israel, Deutschland und Palästina ist komplex, gerade weil seine historischen Koordinaten augenscheinlich einfach zu erklären sind. ja auf der Hand liegen.

Dass Deutsche an Juden im 20. Jahrhundert Monströses verbrochen, und Juden die israelische Staatsgründung auf dem Rücken der Palästinenser vollzogen haben, ist evident, lässt aber zugleich die Frage der Kausalbeziehung zwischen beiden geschichtlichen Ereignissen und ihre Relevanz für das gegenwärtige Beziehungsgeflecht aufkommen. Denn insofern die Gründung des zionistischen Staates durch die Dringlichkeit einer Zufluchtsstätte für Juden infolge der Shoah mit internationalem Einverständnis beschleunigt wurde, stellt sich die Verbindung von Shoah und Israel von selbst her, somit aber auch mutatis mutandis die Verbindung der Palästinenser zu Deutschland: Denn insofern die Gründung Israels (mit) eine Folge der von den Deutschen verursachten Shoah war, ist damit auch das mit dieser Staatsgründung von Juden an den Palästinensern begangene historische Unrecht impliziert.

Israel und der Holocaust

Selbst wenn man sich darauf berufen möchte, dass die zionistische Emphase als eine von der Shoah getrennte zu denken sei, kann man kaum in Abrede stellen, dass der Holocaust den zionistischen Staatsgründungsakt mit einer welthistorischen Bedeutung auflud, die bald zur Wahrnehmungsmatrix der Etablierung Israels als Judenstaat sowohl in dessen eigenen politischen Kultur samt der ihr zugrunde liegenden Staatsideologie als auch in Zugang und Haltung großer Teile „der Welt“ zu Israel avancieren sollte. Aber eben darin lag auch der Grund für die allseitige ideologische Einfärbung dieser historischen Konstellation, welche den realen politisch-territorialen Konflikt zwischen den Arabern/Palästinensern und den Juden Israels zu dem von Gilbert Achcar postulierten „War of Narratives“ hat werden lassen.

Nicht von ungefähr unternahm es Azmi Bishara bereits in den frühen 1990er Jahren, die dem Topos „Die Araber und die Shoah“ implizite Konjunktion zu problematisieren, indem er darauf hinwies, dass sich die arabische Wahrnehmung des Holocaust grundlegend von der der „Deutschen“ und der der „Juden“ unterscheide. Denn weder seien die Araber selbst Opfer des Holocaust gewesen, noch blickten sie auf die Vernichtung der Juden mit Schuldgefühlen.

Dabei liegen die Dinge, genau besehen, auch im innerjüdischen Kontext ganz und gar nicht klar auf der Hand. Denn nicht nur hatte sich der monströse Völkermord ereignet, bevor es den israelischen Staat überhaupt gegeben hat; nicht nur fand er in einer vom heutigen Israel fernen Region statt und widerfuhr Menschen, die weder israelische Staatsbürger sein konnten noch unbedingt eine Affinität zum künftig zu errichtenden Judenstaat aufwiesen; sondern bis zum heutigen Tag lebt ein Großteil des jüdischen Volkes außerhalb der Grenzen des Staates Israel, und viele der Shoah-Überlebenden kamen nach Gründung des Staates nicht nach Israel, sahen mithin im Staat der Juden nicht unbedingt den Ort, in dem sie sich bei ihrem Neuanfang nach der Katastrophe einrichten, ihre Lebenswelt etablieren wollten.

Schon daran erweist sich, dass die Verbindung von Israel und der Shoah eine eher ideelle ist und im Ideellen – bereits von Anbeginn – sehr stark von einer ideologischen Dimension heteronomer Vereinnahmung durchwirkt war. Denn wenn die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Nexus von Israel und der Shoah darauf beruht, dass die Errichtung des Staates Israel gleichsam die „Antwort“ des jüdischen Volkes auf die ihm widerfahrene Katastrophe darstellt, dann setzt eine solche Kausalverbindung das Hauptgewicht auf die Staatsgründung, womit die Geschichtskatastrophe der Shoah zum Epiphänomen eines ihr Nachfolgenden, quasi zum Argument gerät.

Nimmt man aber die zurecht hervorgehobene Unsäglichkeit der Shoah ernst, begreift man sie als eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte, als einen „Zivilisationsbruch“, dann verbietet sich die sinnstiftende Dimension der israelischen Staatsgründung; sie kann nichts zur Deutung der Shoah beitragen. Der Versuch, die Shoah zu begreifen, gar zu erklären, unterwirft sich somit unweigerlich ihrem sui generis. Dieses Postulat ruht in sich selbst, wahrt indes seine genuine Bedeutung auch bei der Aushebung müßiger historiographischer Grabenkämpfe.

Israel und Deutschland

Wie liegen nun die Dinge im Verhältnis von Deutschland und Israel? Die schiere Erwähnung der Namen beider Länder in einem Atemzug lässt sofort aufhorchen. Ein leises Unbehagen schleicht sich ein, das sich aus dem mitschwingenden Gefühl einer geschichtlichen Katastrophenverschwisterung speist: Das historisch schuldbeladene Deutschland ist dabei als Täterland, Israel – nicht nur, aber eben auch nachmaliges Erzeugnis der Shoah – als Land der Opfer kodiert. Es mag hier unerörtert bleiben, wie es dazu kam, dass Israel nach der großen Katastrophe des jüdischen Volkes das staatliche Monopol auf die Shoah-Erinnerung beanspruchen und sehr bald nach seiner Gründung auch materialisieren durfte. Israel begriff sich nun einmal als Zufluchtsstätte der Überlebenden und wurde von vielen Überlebenden in der Tat auch als solche wahrgenommen.

Klar dürfte freilich eins sein: Von Anbeginn gestalteten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel als das prekäre, durch eine höchst problematische, wenn auch nachvollziehbare Vermengung von Schuldgefühlen, praktischen Interessen und interessengeleiteter Schuldabtilgungs-Ideologie gekennzeichnete Verhältnis, als welches es sich bis zum heutigen Tage manifestiert.

Nun wurde der Staat Israel nicht im geschichtslosen Raum gegründet, sondern es wählte sich schon in seiner zionistischen Vorgeschichte ganz bewusst das Territorium zu seiner Errichtung aus, welches es ihm ermöglichte, geschichtliche Kontinuität durch Anknüpfung an biblische Zeiten vorzugeben. Da aber dieses Territorium, trotz aller nachhaltigen ideologischen Bekundungen des Zionismus, mitnichten unbevölkert war, als man es zu kolonisieren begann, zeitigte das, was sich als Schuldabtragung „der Welt“ gegenüber dem jüdischen Volk ausnehmen mochte, ein großes, an den Palästinensern begangenes historisches Unrecht, mithin den bis heute währenden Nahostkonflikt.

Man muss nicht mit dem moralisierend pathosgeschwängerten Spruch, dass die (jüdischen) Opfer zu Tätern geworden seien, aufwarten, um dennoch die Tragik der Konstellation zu erkennen (und anzuerkennen), dass die Notwendigkeit, nach der Shoah einen Staat für die Juden zu errichten, mit der Katastrophe des palästinensischen Volkes bezahlt wurde. Wer dies bewusst ignoriert oder vorbewusst verkennt, mag sich mit dem guten Gefühl herumtragen, seiner (schuldbeladenen) Verantwortung „den Juden“ gegenüber Genüge zu tun, darf indes nicht beanspruchen, die Logik des blutigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern angemessen begriffen, geschweige denn, beurteilt zu haben.

Israel und Palästina

Dies gilt umso nachhaltiger seit 1967. Denn nicht nur betreibt Israel seit über fünfzig Jahren ein gewalt- und repressionsdurchwirktes Okkupationsregime in den von ihm im „Sechstagekrieg“ eroberten Gebieten, allen voran im Westjordanland, sondern das von ihm in diesen Territorien über Jahrzehnte errichtete Siedlungswerk, das mittlerweile zu einer Art Staat im Staat herangewachsen ist, treibt Israel in eine Sackgasse, die es ihm weder ermöglicht, eine emanzipative Friedenpolitik im Sinne der Zwei-Staaten-Lösung zu betreiben, noch in perspektivloser Stagnation zu verharren, wenn es nicht den binationalen Staat, der das Ende des Zionismus zur Folge haben müsste, objektiv befördern möchte.

Israel fügt also nicht nur den Palästinensern unermessliches Leid zu, sondern es erstickt mittlerweile an der eigenen Politik, weiß mithin selbst nicht mehr, wie es mit den selbsterzeugten Zuständen umgehen soll. Wer Israels Politik heutzutage kritisiert, darf sich also nicht nur als Parteigänger der unterdrückten Palästinenser begreifen, sondern sich nicht minder auch als besorgter Sachwalter wirklicher israelischer Interessen fühlen. Schon lange treibt nicht wenige Bürger Israels die Ahnung um, dass Israel vor sich selbst gerettet werden müsse, wenn es historisch überdauern soll.

Die hohe israelische Politik und die von ihr mitbestimmte öffentlichen Debattenkultur des Landes wollen davon für gewöhnlich freilich nichts wissen. Kritik an Israels Politik, auch dort, wo sie sich gegen offensichtliches Unrecht und eklatante Völkerrechtsverletzungen richtet, werden immer schon, besonders aber in den letzten Jahren rechter Regierungskoalitionen, als Antisemitismus abgeschmettert. Das Ideologische dieser Reaktion erweist sich an den unhaltbaren Verknüpfungen, die dabei gemacht werden: Der sich aus dem Nahostkonflikt speisende Antizionismus arabischer Länder wird auch denen, die Israels Politik kritisieren (und sich somit wie von selbst auf die palästinensische Seite schlagen), automatisch zugeschrieben, vor allem, wenn die israelkritischen Stimmen aus Europa kommen. Denn Europa als Kontinent der Shoah kodiert sich vielen Israelis immer noch als antisemitisch.

Was also den Arabern/Palästinensern als Resultat des politischen Territorialkonflikts mit Israel zugeschrieben wird – nämlich Antizionismus –, wird im Zusammenhang mit Europäern von vornherein als tendenziell antisemitisch eingestuft. Antizionismus und Antisemitismus gerinnen somit vielen Israelis und nichtisraelischen Juden zu einem Einheitsbrei, den sie nun instrumentalisieren, um die in der Sache berechtigte Kritik an Israels Politik abzuwehren, wobei der Vorwurf des Antisemitismus zumeist wenig mit dem realen Antisemitismus zu tun hat.

„Lehren aus Auschwitz“

Dieses Grundverhältnis sollte über Jahrzehnte, letztlich bis zum heutigen Tag, zur Matrix der Beziehungen zwischen Deutschen und Juden, mithin zwischen Israel und Deutschland gerinnen. Die tiefere Wahrheit des vom israelischen Psychoanalytiker Zvi Rix einst (wohl halbironisch) geäußerten Diktums, die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen, liegt darin, dass der kollektive Narzissmus von Deutschen durch die Monstrosität der von Deutschen verbrochenen Geschichte für Generationen gekränkt bleiben muss. Die damit einhergehende Aggression gegenüber den Urhebern solcher Belastung, den „Juden“, muss aber zugleich auch kanalisiert werden. Man darf ja den Opfern des eigenen Tuns nicht anlasten, womit man nicht fertig wird, obgleich man ihnen vor- bzw. unbewusst grollt, dass sie weiterhin „da“ sind. Da man aber die „Lehren aus Auschwitz“ gezogen, den Antisemitismus mithin in die Sphäre des moralisch Verworfenen verwiesen hat, bedarf es des sublimierten Umgangs mit der in der Latenz verharrenden Unbehagen an den „Juden“.

Mehrerlei Strategien sind dabei im Laufe der Jahre verwendet worden: Neonazis ergingen sich bereits in den 1960er Jahren in unverhohlenem Antisemitismus, der sich vor allem am Staate Israel bzw. an der zionistischen Bewegung austobte. Diese Randerscheinungen der politischen Kultur Nachkriegsdeutschlands wurden aber früh schon nicht nur durch linke Kritik und performative Bekämpfung, sondern auch durch eine organisierte Sühneaktivität konterkariert, welche zumeist an und nach Israel gerichtet wurde. Aus diesen ursprünglich ganz und gar aus genuinem Entsetzen und ehrlich empfundener Reue hervorgegangenen Praktiken erwuchs indes nach und nach ein Komplementäres zum antijüdischen Ressentiment, namentlich eine Überidentifizierung mit „Juden“, eine davon abgeleitete unverbrüchliche Solidarität mit „Israel“ und eine politisch sich umsetzende Positionierung gegen alles, was auch nur im Ansatz als gegen die Objekte eigener projektiver Identifizierungsbedürfnisse und Solidaritätsfetischismen gerichtet gedeutet werden kann.

Zum „Antisemiten“ kann dabei schon der werden, der sich nicht der vorgegebenen Obödienzordnung des Solidaritätsritus mit „Juden“, „Israel“ und „Zionismus“ unterordnet. Da man ja selbst gerne mal Opfer wäre, identifiziert man sich mit dem Juden als Opfer; da man aber auch gerne mal das ausleben würde, was sich durch das Andenken an Deutschlands verbrecherischer Geschichte verbietet, solidarisiert man sich mit dem Israeli als Besatzungssoldat.

Deutsche Befindlichkeiten

Das Prekäre daran ist, dass es Deutschen kaum je möglich wird, objektiv zu bleiben. Genuine Kritik an Israels Politik muss eben stets in Kauf nehmen, als antisemitisch apostrophiert zu werden. Desgleichen die schlichte Anerkennung der historischen wie aktuellen Leiderfahrung der Palästinenser und erst recht die Solidarität mit ihnen. Aber auch schon die schiere Unterstützung von Friedensbestrebungen im Nahostkonflikt mag zur politischen Bedrohlichkeit geraten, wenn sie nicht mit dem korrespondiert, was in Jerusalem für „israelische Interessen“ ausgegeben wird bzw. nicht das Placet der israelischen Botschaft in Deutschland oder gar das des Zentralrats der Juden zu erlangen vermag.

Von Bedeutung ist dabei, dass sich die Matrix solch ideologischer Ausrichtung nicht nur in der Agitation gewisser außerparlamentarischer Gruppen manifestiert, sondern die Koordinaten der hohen Politik Deutschlands sowie die des politischen Diskurses eines Großteils der hegemonialen Medien bestimmt. Es ist schon bemerkenswert, wie sehr sich jene, die einst als außerparlamentarische Opposition die staatsoffizielle Innen- wie Außenpolitik Deutschlands anzufechten und zu bekämpfen trachteten, heute im nationalen Konsens und dem augenzwinkernden Wohlwollen des politischen Establishments wiegen dürfen.

Deutsche Solidarität mit Israel – kann es, fragt man sich spontan, ein Muss geben, das weniger hinterfragbar wäre? Ist, so die unwillkürlich aufkommende Assoziation, eine solche Solidarität nicht ganz und gar selbstverständlich, eine gleichsam zur Maxime geronnene, an jede/n anständige/n Deutsche/n zu stellende Forderung? Aufgrund des von Deutschen an Juden verbrochenen Völkermords kann doch die Solidarität mit Israel weder moralisch noch politisch-zweckhaft ernstem Zweifel unterstellt werden, und wenn dies dennoch geschieht, so die auf unabdingbare Solidarität pochende Vermutung, darf davon ausgegangen werden, dass solcher Zweifel antisemitischen Impulsen, gar ausgewachsenem Antisemitismus geschuldet sei.

Diese Auffassung beruht gleichwohl auf einem fundamentalen Missverständnis. Denn es wird hier ein weder rein begrifflich noch vom Selbstverständnis vieler Juden her zulässiger Konnex hergestellt. Juden schlichtweg mit Israel und mit der israelischen Staatsideologie des Zionismus identifizieren zu wollen, mag dem psychologischen Bedürfnis nachkommen, Kollketivitäten in lapidaren Begriffsbildungen zu fassen und deren Heterogenität unter leicht handhabbaren Ordnungsvorstellungen zu subsumieren, geht jedoch an der Vielfalt innerjüdischer Diskurse über das jüdisch Kollektive und an den divergenten Richtungskämpfen um den Anspruch auf eine allgemein „verbindliche“ jüdische Identität vollkommen vorbei. Und wenn dies schon einen Verrat am Judentum darstellt, muss man sich erst die Ausmaße des Verrats dieser Analogisierungsideologie an den Palästinensern vorstellen.  In vielerlei Hinsicht ist da Hitlers verlängerter Arm am Werk.

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Ein Kommentar

  1. …eine sehr treffende, tief greifende Analyse der historischen wie aktuellen Thematik !
    Da verwundert es nicht mehr, wie vehement aufgrund der letzten Ereignisse v.a. von CDU-
    Politikern sogar eine undifferenzierte „Antisemitismus-Gesetzgebung“ vorangetrieben wird.
    Dieser „ANTISEMITISMUS-KOMPLEX“ trifft eben keine ursächliche Unterscheidung und
    speist sich aus psychologische Ursachen und

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