In Afghanistan droht der Kollaps

Allein im Jahr 2021 wurden mehr als eine halbe Million Menschen vertrieben – und die Zahl der Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, steigt weiter an. Flüchtlingslager in Afghanistan. Screenshot von UNHCR-Video

Seit der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der internationalen Truppen befindet sich Afghanistan in einer wirtschaftlichen Krise, immer mehr Afghanen stürzen in die Armut und sind auf Hilfe angewiesen.

 

„Wir stehen nicht vor einer Katastrophe, sondern befinden uns bereits in einer“, sagt Ahmad Zia, ein Arzt aus der nordafghanischen Provinz Mazar-e Sharif. In seiner Praxis tummeln sich in diesen Tagen viele Patienten, denen das Geld fehlt. „Viele leiden an den Folgen schlechter Ernährung oder an psychischen Problemen. Ihre Existenzängste treiben sie in die Depression“, meint der Arzt.

Seit der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der internationalen Truppen befindet sich Afghanistan in einer wirtschaftlichen Krise. Vor kurzem meldete der Internationale Währungsfonds, dass die afghanische Wirtschaft in diesem Jahr um dreißig Prozent schrumpfen könnte. Nachdem die Taliban in Kabul zurückgekehrt waren, fror die US-Regierung die afghanischen Staatsreserven, rund neun Milliarden US-Dollar, ein. Zeitgleich wurden von zahlreichen Staaten auch die Entwicklungszahlungen für das Land eingestellt. Durch diese Sanktionen wird in erster Linie nicht die neue Taliban-Regierung getroffen, sondern darunter leiden Millionen von Afghanen, denn bereits im Vorfeld war klar, dass der afghanische Staat – egal, von wem er regiert wird – ohne ausländische Hilfe nicht überlebensfähig ist.

Währenddessen sind Geldtransferdienste wie Western Union oder Moneygram für viele Menschen im Land zur Überlebensader geworden. „Meine Familie in Kabul würde ohne meine finanzielle Unterstützung nicht durchkommen. Ich bezahle die Miete meines Bruders aus Deutschland“, sagt Abdul Rahman Sadat, der seit rund zehn Jahren in Stuttgart lebt. Dass die afghanische Bevölkerung für das Versagen der Amerikaner und der internationalen Staatengemeinschaft „kollektivbestraft“ wird, kritisiert er. „Washington hat den Krieg verloren und die Taliban mittels der Verhandlungen in Katar selbst legitimiert. Warum müssen nun einfache Afghanen dafür büßen?“, so Sadat.

Die akute Bargeldknappheit und der damit verbundene Anstieg der Armut führen allerdings nicht nur zu langen Schlangen vor den Banken, sondern auch zu einer massiven Fluchtwelle, die in erster Linie die Nachbarstaaten Afghanistans, allen voran Iran und Pakistan, treffen wird.

Besonders hart trifft der Wirtschaftskollaps Kinder. Laut der UN sind bereits zehn Millionen Kinder – etwas weniger als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung – von Hungersnot und Armut betroffen und auf Hilfe angewiesen. Mehr als drei Millionen afghanische Kinder unter fünf Jahre werden Schätzungen zufolge unter akuter Unterernährung leiden. Aus einem Kabuler Waisenhaus hieß es etwa, dass dort aufgrund fehlender Gelder die Essensrationen für die Kinder zusammengestrichen werden müssen. Ähnliche oder zum Teil schlimmere Berichte hört man aus anderen Landesteilen.

In diesem Kontext befürchten viele Afghanen, dass humanitäre Soforthilfen sich auf die Hauptstadt Kabul konzentrieren und andere Landesteile, etwa abgelegene ländliche Regionen, nicht erreichen werden. „Falls keine oder nur geringe Hilfen das Land erreichen, besteht die Gefahr, dass viele Kinder den Winter nicht überstehen“, sagt auch Dr. Zia aus Mazar-e Sharif.

Zeitgleich reisten eine Taliban-Delegation nach Moskau, um dort am Mittwoch mit Vertretern der russischen, chinesischen und pakistanischen Regierung über die humanitäre Lage im Land und mögliche Hilfsgelder zu sprechen. Viele Regierungen, allen voran jene westlicher Staaten, haben zwar ihre Hilfe signalisiert, betonten allerdings gleichzeitig, die Taliban-Regierung nicht anerkennen zu wollen. Dieser Spagat zwischen humanitärer Hilfe für die afghanische Bevölkerung und der Vermeidung einer Zusammenarbeit mit dem neuen Taliban-Regime dürfte schwierig ausfallen.

Graeme Smith, langjähriger Afghanistan-Experte und Berater der Organisation International Crisis Group (ICG), betonte jüngst in einem Interview, dass ein solcher Schritt in der Praxis nahezu unmöglich sei und man mit den neuen Machthabern in Kabul zusammenarbeiten müsse, um der humanitären Katastrophe vor Ort entgegenzuwirken. „Man darf keine Soforthilfe in Form von Nahrungsmitteln als politisches Druckmittel benutzen. Das ist keine gängige Praxis“, so Smith, der weiterhin als Berater für ICG tätig ist. Wie viele andere Beobachter hob allerdings auch Smith hervor, dass die Regeln bei der Auszahlung von Entwicklungsgeldern anders seien und dass man diese nach dem Winter als Druckmittel gegen die Taliban benutzen könne, um sich etwa an Menschen- oder Frauenrechte zu halten.

Die Europäische Kommission hat bereits während des G20-Treffens zu Afghanistan in der vergangenen Woche ein Hilfspaket im Wert von rund einer Milliarde Euro für die afghanische Bevölkerung und die Nachbarländer angekündigt. „Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um einen größeren humanitären und sozioökonomischen Zusammenbruch in Afghanistan zu verhindern. Wir müssen es schnell tun“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Wir haben unsere Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit den afghanischen Behörden klar formuliert, auch was die Achtung der Menschenrechte angeht. Bisher sprechen die Berichte für sich selbst. Aber das afghanische Volk sollte nicht den Preis für die Taten der Taliban zahlen. Deshalb ist das afghanische Unterstützungspaket für das afghanische Volk und die Nachbarländer gedacht, die ihm als erste Hilfe geleistet haben“, so von der Leyen.

Korrupte afghanische Politiker inszenieren sich als neutrale Afghanistan-Experten

„Es wäre wünschenswert, wenn diese Hilfe zu einhundert Prozent bei den Bedürftigen vor Ort landen würde. Wir fordern vor allem von der UN uneingeschränkte Hilfe, um eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan zu verhindern“, sagt Fatma Murtaza, eine deutsch-afghanische Aktivistin. Gemeinsam mit anderen afghanischstämmigen Menschen demonstrierte sie in der vergangenen Woche vor dem Gebäude der UN in Bonn, um auf die Lage in Afghanistan aufmerksam zu machen. Murtaza verlangt allerdings auch eine Regulierung der Hilfsgelder, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. In den letzten zwei Jahrzehnten wanderten Milliarden von ausländischen Geldern meist in die Taschen korrupter Politiker in Kabul. „Wenig bis gar nichts kam am Ende bei den Menschen in Not an“, so Murtaza.

Kritisiert wird deshalb in diesen Tagen auch, dass ausgerechnet einige dieser korrupten Politiker nun zu Wort kommen dürfen und sich als neutrale Afghanistan-Experten inszenieren. Das jüngste Beispiel hierfür ist Ajmal Ahmady, der vor dem Sturz der Kabuler Regierung Chef der afghanischen Staatsbank war und zuvor als enger Berater des Ex-Präsidenten Ashraf Ghani tätig war. Gegen Ahmady gab es nicht nur Vorwürfe der Korruption, sondern auch klare Beweise, die unter anderem von der Kabuler Zeitung „Etilaat Roz“ ausführlich präsentiert wurden.

Der US-Afghane, der keine der beiden Amtssprachen Afghanistans mächtig war, genoss einen extravaganten Lifestyle. Sein „Homeoffice“ waren meist Fünf-Sterne-Hotels in Dubai, während er in Kabul in einer isolierten und privilegierten Blase lebte. Hinzu kommt die Tatsache, dass Ahmady mit Hannah Ghani, der Nichte des Ex-Präsidenten, verlobt ist und deshalb auch ein enges Verhältnis zu Ghanis Bruder, Hashmat, pflegte, der vor wenigen Monaten ebenfalls Teil eines Korruptionsskandals war. In den letzten Wochen wurde Ahmady von mehreren US-Medien hofiert. Das renommierte Magazin „Foreign Affairs“ veröffentlichte einen Beitrag Ahmadys, bei dem man den Eindruck gewann, der Autor selbst war stets als seriöser Beobachter mit gutem Willen in Afghanistan präsent. Doch de facto war er, ähnlich wie der Rest jener korrupten Clique, die in Kabul „regierte“, Teil des Problems.

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