Impressionen aus England – Überlegungen zu Zeitenwenden

Queen Elisabeth Beerdigung
Trauerprozession für Queen Elisabeth. Bild: Katie Chan/CC BY-SA-4.0

 

 

Im Jahre 1995 wurde Yitzhak Rabin ermordet. In diesem Jahr ist die Queen gestorben. Markiert der Tod beider historischen Personen eine Zeitenwende?

 

Nach der Ermordung Yitzhak Rabins am 4.11.1995 entfaltete sich auf dem späterhin nach ihm benannten Platz in Tel Aviv eine spontane Traueraktion. Jugendliche saßen dort in Scharen, zündeten Kerzen an, sangen Lieder, weinten gemeinsam und wehklagten im Kollektiv. Es bildete sich auch ein politischer Slogan, das Vermächtnis des ermordeten Staatsmannes gleichsam performativ wahrend: “Dor schalem doresch Schalom”, skandierte man alliterativ auf Hebräisch: “Eine ganze Generation fordert den Frieden.”

Ob Rabin den Frieden mit Arafat herbeigeführt hätte, kann man nicht mit Bestimmtheit sagen. Ohne Zweifel kann er aber als der israelische Politiker angesehen werden, der sich an dieses Ziel am mutigsten herangewagt hat. Zumindest darf man sich im nachhinein die Phantasie aufrecht erhalten, dass es mit ihm hätte klappen können. Was aber die ihn spontan Betrauernden anbelangt, die nun den Frieden fordernde “Generation”, darf man sich keine allzu große Illusion mehr machen: Eine Woche lang flossen die Tränen im Kerzenschein, und dann war es damit auch schon vorbei.

Die vermeintlich in die Welt gekommene Bewegung von um Frieden ringenden Jugendlichen war nur eine Scheingeburt; sie löste sich nach kurzer Zeit in Wohlgefallen auf. Was wollte man aber auch von ihr erwarten, wenn in der hohen Politik das Zeichen zu diesem Versagen gesetzt wurde: Welche bessere Voraussetzungen hätte es geben können für den Sieg der den Oslo-Prozess tragenden Arbeitspartei, deren Haupt gerade ermordet worden war, wenn der Nachfolger Rabins, Shimon Peres, sofort Neuwahlen ausgerufen hätte? Stattdessen ließ man sich von der perfid-larmoyanten Polemik der israelischen Rechten, aus deren Reihen der Mörder Rabins kam, beeindrucken, derzufolge die Linke sie pauschalisierend des Mordes beschuldige.

Kein Wendepunkt

Von “nationaler Versöhnung” war plötzlich allenthalben die Rede. Der Mord verkam sehr bald zur “Nebensache”. Bei den sechs Monate später stattgefundenen Wahlen ging der Haupthetzer gegen Rabin, von dem man behaupten darf, dass er nicht wenig zur Mordtat beigetragen hat, als Sieger hervor: Benjamin Netanjahu. In den alljährlich stattfindenden Gedenkkundgebungen der folgenden Jahren verblasste die politische Aussage zunehmend, und die sich nach und nach ausdünnenden Massenversammlungen verkamen zu kollektiven Gesangsveranstaltungen. 25 Jahre später gilt der von Rabin angetriebene Prozess der Friedenssuche vielen in Israel als “Verbrechen” und seine Protagonisten, allen voran Rabin selbst, als “Oslo-Verbrecher”.

Stellt die Ermordung Yitzhak Rabins einen Wendepunkt in der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts dar? Wenn man von der Hypothese ausgeht, dass es Rabins Absicht war, den Frieden mit den Palästinensern zu erreichen, dann darf das behauptet werden. Es darf gleichwohl bezweifelt werden, dass er dieses Ziel hätte erreichen können, ohne einen innerisraelischen Bürgerkrieg zu riskieren. Man sollte auch nicht vergessen, dass die jüdischen Besiedlung des Westjordanlandes selbst zu seiner Zeit nicht eingestellt wurde. Ganz im Gegenteil.

Wenn man aber vom realen Ausgang der Dinge nach der Ermordung und vom Verlauf des Okkupationsprozesses seitdem ausgeht, gibt es keinen Grund, die Mordtat als einen Wendepunkt auszulegen. Sie war lediglich ein Intermezzo in einem Prozessverlauf, der auf ein Grundmuster der israelischen Politik im Konflikt mit den Palästinensern deutet: Israel wollte und will den Frieden mit ihnen nicht, wenn es als “Preis” dafür die Okkupation aufgeben muss.

Wenn Israel den Frieden gewollt hätte, hätte es in seiner Hand gelegen, ihn aktiv voranzutreiben. Es wollte ihn aber nicht. Rabin hat ihn vielleicht gewollt; man wird nie wissen, ob dem real so war, aber im nachhinein war der an ihm begangene politische Mord kein wirklicher game changer, sondern lediglich die Ermordung einer abstrakt gebliebenen Wunschvorstellung. Und selbst sie spielt in der heutigen Politpraxis Israels keine Rolle mehr.

Hat sich durch den Tod der Queen etwas für Großbritannien verändert?

Ich schreibe die Zeilen während der Bestattungszeremonie der Queen in England. In den letzten Tagen redet man redet hier über den Tod der Monarchin viel in Kategorien einer Zeitenwende, man postuliert das Ende einer Ära. Dies ist insofern sinnvoll, als das, was die sich über 70 Jahre erstreckende monarchische Zeit Elizabeths II ausmachte, mit ihrem Tod an sein Ende gelangt ist. Der persönlich-emotionale Bezug zu ihr und die bereits jetzt schon einsetzende Sehnsucht vieler Engländer nach ihr mögen das Ende dieser elisabethanischen Ära markieren. Aber hat sich durch den Tod dieser bedeutenden Monarchin auch etwas für England, für Großbritannien geändert? Wohl kaum – weder sozial noch politisch noch ökonomisch.

Das hat mit dem schlichten Tatbestand zu tun, dass England die politische Struktur der konstitutionellen Monarchie unterhalt. Die Queen hatte keinerlei exekutive politische Macht, sie war nicht in wirtschaftlichen Abläufen und Entscheidungen involviert, übte mithin keinen Einfluss auf die Dynamik der sozialen Prozesse ihres Landes. Ihre Untertanen waren keine im vormodernen Sinne des Absolutismus, sondern Bürger und Bürgerinnen eines Landes, von dem man behaupten darf, dass er den neuzeitlichen Parlamentarismus in Europa (und somit in der Welt) erfunden oder doch zumindest entscheidend geprägt hat. Daran hat sich nichts geändert; daran hatte sich aber auch nichts in den letzten 70 Jahren geändert.

Die Umbrüche und Strukturveränderungen im England dieser Jahrzehnte waren von der Monarchie nicht beeinflusst, wie denn die Monarchie von ihnen unberührt blieb. Darin lag die Ausdauer der Monarchie, darin lag auch ihre Ohnmacht. Erschütterungen, wie etwa die mit Dianas Tod oder mit den Fehltritten von Prinz Andrews eingetretenen, waren nur zeitweilig von Bedeutung und gehörten eher in den Bereich des Sensationellen – die Monarchie konnten sie strukturell nicht erschüttern. Auch Debatten über die Finanzierung des Königshauses, die jetzt wohl wieder anstehen dürften, ändern nichts an dieser Grundstruktur.

Das Unzeitgemäße der Monarchie ist ihre Tugend, eine anachronistische Projektionsfläche für die bürgerlichen Bedürfnisse vieler (nicht nur royalistisch gesinnter) Engländer, die gerade darin immer schon einer Ideologie, einem bewusst hingenommenen falschen Bewusstsein, anhingen. Viel pomp and circumstance, gewiss, auch jetzt wieder bei der Bestattungszeremonie. Aber eine Zeitenwende? Man musste in den vergangenen Tagen der Trauer um die Queen nur registrieren, wie jede republikanische Zu-Wort-Meldung öffentlich abgewürgt wurde, um zu verstehen, wie wenig von einer Zeitenwende in England die Rede sein kann.

Was sagen die beiden hier angeführten Beispiele über die Wirkungsmächtigkeit von (charismatischen) Einzelpersonen in der Geschichte aus? Eine gründliche Erörterung dieser Frage überschreitet den hier gesetzten Rahmen. Gestalten wie Napoleon, Lenin oder Hitler geben Anlass zu einem Zögern bei einer definitiven Beantwortung der Frage.

Aber eines darf wohl grundsätzlich behauptet werden: Das Leben und Wirken wie denn auch der Tod bedeutender Führungsgestalten können stets nur im Kontext der Kollektivstruktur und der historischen Konstellation, in der sie gewirkt, gelebt und gestorben sind, eingeschätzt werden. Die strukturelle Konstellation bestimmt letztlich, ob ihr Tod eine Wende einläutet, ob eine Ära an ihr Ende gelangt ist. Während ich diese Zeilen schreibe, wird gerade die Queen begraben – nicht die britische Monarchie, auch nicht die Epoche.

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5 Kommentare

  1. Guter Text dem ich gerne zustimme. Der Autor hat nur den längst vergessen Skandal nicht erwähnt: Lady Dianas Trennung von Prinz Charles und dessen Ehebruch wegen Camilla. Schon deswegen würde das Ende der britischen Monarchie vorausgeahnt, ein Ende das nie eintreten wird wie Charles III und seine Queen Consort Lady Camilla beweisen. Wie schon gesagt ich fände es nur gerecht wenn Charles auf Krone und Titel zugunsten Kronprinz William verzichten würde, das wäre nur gerecht bei den was Prince Charles Lady Diana angetan hat. Ja, ich weis da kann Mensch der Gerechtigkeit verlangt lange darauf warten – nicht nur in Großbritannien, aber das musste Mal gesagt werden. Gruß Bernie

  2. Was da alles so über die Queen palavert wird, ist zweckdienlich, so wie man als zivilisierter Zeitgenosse beim Tode eines Menschen das Gute hervorhebt. Sicher ragte sie aus dem europäischen Adel hinaus, und ich fand sie nicht unsympathisch. Sie repräsentierte mit ihrer ganzen Person einen überzeugenden Konservativismus. Erinnerlich ist mir geblieben, wie sie bei einer wichtigen Rede die damalige Premierministerin Thatcher wegen ihres brutalen Wirtschaftkurses, ohne Rücksicht auf die kleinen Leute, regelrecht abwatschte. Geändert hat das an der Politik Thatchers überhaupt nichts.
    1986 starb Olof Palme, wie Rabin wurde er ermordet. Beide waren Hoffnungsträger. Ob sie die Welt wirklich verbessert hätten, spielt dabei keine Rolle. Aber beide waren aufgeschlossen, wussten, dass man mit der Verteufelung des Anderen nie und nimmer von der Stelle kommt. Wenn ich sehe, wie heutige israelische Politiker geradezu darauf bauen, dass es die Hamas gibt, damit sie selbst ihren reaktionären Kurs weiterverfolgen können – oder wenn ich sehe, dass Schweden jetzt der Nato beitritt, dann kann mir im Andenken an diese beiden ermordenten Politiker nur noch schlecht werden. Nein, die Welt macht keinerlei Anstalten, eine bessere zu werden.

  3. In den vergangenen „70“ Jahren sind etliche Persönlichkeiten unter ungeklärten bzw. deklarierten Umstände verstorben. Alle hatten etwas gemeinsam, ihre Loyalität ging abhanden…
    Heute las ich gb veröffentlichte seine Wirtschaftsdaten, irgendwie haben sie es geschafft einen neuen Schuldenrekord aufzustellen (man beachte das Zeitfenster). Veränderungen sind sozial, politisch und ökonomisch real zu beobachten. Auch ist zu beobachten wie Netanyahu wieder zur Macht greift. Beiden liegt der Zionismus schon irgendwie immer in ihrer jeweiligen Nähe.
    Ich frage mich seit Jahren warum diverse ‚Stadtstaaten'(Vatikan, Delaware,WDC,CoL) politisch, medial, administrativ so unterbelichtet sind wie die BIZ, obwohl alle gemeinsam in Demokratien ihr eigenes Süppchen kochen, ohne der Wähler weiß was da vor sich geht.

  4. Warum der nach wie vor vorhandene königliche Privatbesitz an Ländereien, mit dem Einkünfte erzielt werden und ansehnliche wirtschaftliche Macht verbunden ist, bei der Einschätzung der Monarchie so gut wie nie berücksichtigt wird, ist mir ein Rätsel.

    1. Mir auch, übrigens die Sache wird noch schlimmer, denn Charles III ist, trotz seines Ehebruches und des Skandals darum, der oberste Boss der anglikanischen Kirche.

      Ja, ich weis, dass ist pervers, aber so ist Großbritannien, und deswegen denke ich, dass die konstitutionelle Monarchie dort noch lange existieren wird.

      In den Überseegebieten, den ehemaligen Kolonien, kann die Sache durchaus anders enden, nach dem Tod der Queen Elisabeth, aber für die britische Insel denke ich, dass, trotz aller miesen Lebensumstände dort für die Normalbevölkerung, oder gerade deswegen?, die britische Monarchie noch lange existieren wird.

      Die Anteilnahme der deutschen Medien, und macher Landsleute bzw. Berliner Politiker, an der britischen Monarchie hat vielleicht eventuell auch etwas damit zu tun, dass deutschstämmige auf dem britischen Thron sitzen?

      Glaubt ihr nicht?

      Guckt mal die Ahnen- und Verwandtschaftsreihe der Familie Windsor an, die sich leicht, nicht nur bei Wikipedia, recherchieren läßt 😉

      Zynischer Gruß Bernie

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