Impressionen aus England – Sehnsüchte

Begräbnisprozession für Elisabeth II. Bild: Department for Digital, Culture, Media and Sport/CC0

 

In der Betrauerung von Staatsoberhäuptern manifestiert sich unter anderem die Sehnsucht nach Verlorengegangenem. Diese Sehnsucht hat verschiedene Gründe, sie indiziert nicht zuletzt Defizite in der Geschichts- und Realitätsbewältigung.

 

Das Begräbnis von Elizabeth II erwies sich als wohlorchestrierte Manifestation der Grundpfeiler ihrer monarchisch-charismatischen Autorität: Religion und Militär. Das ist britische Tradition und als solche wurde sie eindrucksvoll in voller visueller Pracht und zeremoniellem Ernst zelebriert.

Staatsbegräbnisse sind immer üppig und oft übertrieben prunkvoll gestaltet. Es spielen dabei die Ehrerbietung an den/die Verstorbene/n wie auch die Rückversicherung der die Nachfolge Antretenden, dass ihre Legitimität offiziell sichtbar gemacht werde. Bei königlichen Begräbnissen beruft man sich dabei auf Traditionen und insbesondere auf ihre möglichst altehrwürdigen Symbole. Das verleiht der Gedenkveranstaltung und Bestattungszeremonie die Gewissheit der Gegenwärtigkeit durchs Vergangene; das ist es aber auch, was sie stets anachronistisch erscheinen läßt. Im Fall der Begräbnisveranstaltung Elizabeth II stach das besonders ins Auge. Der Pomp, die Kathedralenheiligkeit, die Martialität der dekorationsgewichtig uniformierten Militärs – sie alle mochten einem säkularen Nichtmonarchisten (bei allem Staunen über das perfekt Ablaufende des akribisch Eingeübten) als eine Farce im 21. Jahrhundert erscheinen.

Man muss allerdings bedenken, dass es sich dabei auch um die Heraufbeschwörung von Sehnsüchten handelt. Im Jahr 1969 war die Queen zu Besuch in Wien. Zum selben Zeitpunkt fand auch die alljährliche Klassenfahrt meiner Frankfurter Gymnasialklasse in Wien statt. Ob durch Zufall oder vom Klassenlehrer geplant, ergab es sich, dass wir uns gerade auf der Straße befanden, auf der die Queen in einer Wagenkolonne vorbeifuhr.

Meine Klassenkameraden und ich hatten damals nicht sehr viel mit monarchischen Staatsoberhäuptern im Sinn. Es fiel mir aber auf, dass eine Riesenmenge von WienerInnen sich am Straßenrand drängte, um der Monarchin ansichtig zu werden und ihr freudig fahnenwedelnd zuzuwinken. In Erinnerung geblieben ist mir besonders das Bild einer älteren Dame, die gerührt Tränen in den Augen trocknete. Es war klar, dass abgesehen von der Sensation, der berühmten Königin im Alltag zu begegnen, die Masse von einer Sehnsucht nach solcher prächtigen Staatsrepräsentanz erfasst war.

In Deutschland kannte man seit 1918 den Gassenhauer “Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben”; der Zusatz im Refrain “aber den mit dem Bart, mit dem langen Bart” (also Wilhelm I) indizierte, dass die intonierte Proklamation als augenzwinkernde Ironie gemeint war – so zumindest bei der von Heino intonierten eingespielten Fassung und beim kollektiven Geschunkel in Faschingsveranstaltungen. Ganz anders, was in der Wiener Straßenszene 1969 zum Ausdruck kam. Da war die genuine Sehnsucht einer gewissen Generation nach der “guten alten Zeit” der k.u.k-Monarchie, wie sie selbst noch Stefan Zweig in “Die Welt von gestern” an bestimmten Stellen apostrophierte, am Werk. In der Republik Österreich durfte man sich damals noch nach Kaiser Franz-Joseph sehnen; man war ja offiziell noch nicht mit der eigenen Nazi-Vergangenheit behaftet (das sollte sich erst nach der Waldheim-Affäre in den 1980er Jahren allmählich korrigieren). In Deutschland war man damals, durch die Achtundsechziger zum akut-aktuellen Thema gesteigert, sehr wohl mit der Nazi-Vergangenheit befasst. Im Spaß konnte man sich da bierselig nach dem bärtigen Kaiser sehnen – wohl auch als Ersatz dafür, dass allzu viele damals die Sehnsucht “nach Adolf” öffentlich nicht artikulieren durften.

Die Wirkmächtigkeit solcher Sehnsüchte konnte man an vielen Schnittstellen der Geschichte beobachten. Während der großen Französischen Revolution gab sich Jean-Paul Marat, seines Zeichenes “Freund des Volkes”, skeptisch gegenüber der Begeisterung der Massen für die Republik. Auf die abstrakte Eingeschworenheit auf die Republik könne man sich nicht verlassen – die Hinrichtung des Königs sei Voraussetzung für die reale Bereitschaft zur revolutonären Tat, gleichsam als Kriterium und Beweis für die Wirkmächtigkeit des republikanischen Sentiments. Der König wurde in der Tat am 21.1.1793 hingerichtet (es gab im Konvent eine heftige Debatte darüber, an der sich ablesen ließ, dass der Exekutionsbeschluss mitnichten allen Parteien und Bewegungen selbstverständlich war).

Einige Monate später wurde Jean-Paul Marat ermordet, was ihn zum Märtyrer der radikalen Revolutionären werden ließ. Seine Mörderin, die einer aristokratischen Familie entstammende Charlotte Corday, avancierte zur Märtyrerin der die radikalen Jakobiner bekämpfenden Girondisten. Bedeutend für den hier erörterten Zusammenhang war allerdings die vom marxistischen Historiker Albert Soboul erforschte Tatsache, daß schon wenige Tage nach der Hinrichtung von Ludwig XVI sich Zeremonien mit religiösem Einschlag zu seinem Andenken bildeten und sich noch viele Jahre nach dem revolutionären Ereignis fortsetzten. In der Vendée tobte von 1793 bis 1796 ein Krieg zwischen der katholisch-royalistischen Armee der Region und der von Paris befehligten Revolutionarmee. Bis zum heutigen Tag gedenkt man in dieser Region alljährlich dieses pro-royalistischen Widerstands.

Die Sehnsüchte, von denen hier die Rede ist, wirken sich zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen unterschiedlich aus. Entsprechend haben sie auch Denker verschieden ausgelegt. Bei Freud handelt es sich um atavistische Bedürfnisse, deren Befriedigung sich im (psychisch, kulturell, politisch und ideologisch etablierten) Ersatz für die abhandegekommene Vater/Mutter-Instanz manifestiert. Bei Marx nimmt sich die Ersatzhandlung im Religiösen als Unvermögen aus, sich unentfremdet mit dem Elend der sozialen Realität auseinanderzusetzen. Berühmt geworden ist sein Diktum: “Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.” Die Relevanz dieser Aussage erhält sich bis zum heutigen Tag – nicht nur im Verhältnis zur Religion.

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20 Kommentare

  1. So sind Sie die Untertanen, in Ihrer Sklaven-Moral!

    Den Kadaver auf einer Kanone Ablegt, im Clowns Kostümen und Gleichschritt. Was für eine absurde Farce!

    1. Kadaver?
      Für einen gebildeten Menschen sind tote Menschen Leichen. Für Ihre Überreste mag was anderes gelten, jedenfalls dem Sprachgebrauch nach zu urteilen.

  2. „In der Republik Österreich durfte man sich damals noch nach Kaiser Franz-Joseph sehnen; man war ja offiziell noch nicht mit der eigenen Nazi-Vergangenheit behaftet (das sollte sich erst nach der Waldheim-Affäre in den 1980er Jahren allmählich korrigieren). In Deutschland war man damals, durch die Achtundsechziger zum akut-aktuellen Thema gesteigert, sehr wohl mit der Nazi-Vergangenheit befasst. “

    Die Queen war 1965 zum Staatsbesuch in Deutschland. Ich habe das damals nur in den Nachrichten gesehen, aber es gab auf den Straßen keinen Unterschied zu der Reaktion in Wien. Dieses Bedürfnis nach vermeintlich heiler (Kinder-)Welt scheint mir zeit- und ortlos zu sein. Das hat wohl eher was mit Mami und Papi zu tun, mit Verantwortung abgeben und sich beschützt fühlen dürfen – egal, wie die Realität aussieht. Und in der heißt es dann „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“; ersatzweise später „Ein Reich, ein Volk, ein ……..“ wissen schon. Wie das endet, wissen wir auch.

    Da hilft nur: erwachsen werden, selber denken, Autoritäten infrage stellen, Verantwortung übernehmen.

  3. Aus den im Artikel genannten Gründen halten sich viele Entscheider mittlerweile auch im Hintergrund. Und selbst Adelshäuser weisen jede politische Einflussname als „Blödsinn“ zurück und verklären sich und ihre prunkvolles Leben ausschließlich als Folklore.
    Noch nie war die fehlerhafte Politik eines boshaften Herrschers auf so weite Distanz zu seiner Verantwortung und nie zuvor war der Korrupte so weit weg von den Gitterstäben. Die Macht ist nicht mehr greifbar und unkontrolliert. Unkontrollierte Macht korrumpiert zwangsläufig und so werden Herrscher in der Tat am Ende übel launig, falls sie das Erbe nicht bereits übel launig angetreten sind.

    Ich brauche keine adeligen Herrscher, keinen Kaiser Wilhelm mit Pickelhaube (ich denke die wenigsten Deutschen ersehnen sich hier eine Renaissance des „starken Mannes“), aber auch keine informellen und nebulösen Gestalten, die in Hinterzimmern Politik machen…
    Vielleicht ist es wirklich die Gretchenfrage im Überleben der Menschheit, die vergangenen Organisationsformen exzeptioneller Herrschaft und eines nur zeitweise funktionierenden Wirtschaftsmodells zu überwinden. Momentan stecken wir in einem Dilemma.

    Wenn wir noch ein oder zwei mal scheitern, würde dieses vermutlich irgendwann wirklich das Ende der Menschheit bedeuten. Aber aus ganz anderen Gründen, wie es die Malthusianer begründen.

    1. „…. eines nur zeitweise funktionierenden Wirtschaftsmodells zu überwinden. Momentan stecken wir in einem Dilemma.

      Wenn wir noch ein oder zwei mal scheitern, würde dieses vermutlich irgendwann wirklich das Ende der Menschheit bedeuten…“

      Unser Wirtschaftssystem – der Kap. -„funktioniert“ nach deiner Logik anscheinend nur zwischen Weltkriegen, oder?
      Also zwischen Perioden, in denen der Kap. etliche Mio. weniger Tote als in Kriegen verursacht.
      Ein System, dass sich immer wieder derart entladen muss, um weiter zu bestehen, kann man gelinde gesagt nur als dysfunktional – letztlich aber destruktiv bezeichnen.
      Wieviele WK brauchen wir noch, um dem Ende zu entgehen?

      1. Ich bin ganz ehrlich: Wenn ich solche Sätze schreibe, bin ich in der „westlichen Perspektive“ gefangen, einer Mischung aus Verdrängung und Ignoranz. Natürlich bin ich über mich selbst erschrocken, dass ich die unzähligen Opfer und Toten außerhalb unserer „Demokratien“ vergesse, welche der Ressourcenhunger des Kapitals durch kriegerische Aneignungen einfordern – immer und immer wieder, medial höchstens mit einem Achselzucken und einer hochgezogenen Augenbraue quittiert, dementsprechend auch in den westlichen Bevölkerungen für ein oder zwei Stammtischgespräche brisant. Gerade Menschen, die behaupten, der Kapitalismus sei das einzig wahre und funktionierende, scheinen solche Wahrheiten gerne auszublenden oder gar zu leugnen. Manchmal braucht man noch nicht mal so weit zu schauen…

        1. „Ich bin ganz ehrlich: Wenn ich solche Sätze schreibe, bin ich in der „westlichen Perspektive“ gefangen, einer Mischung aus Verdrängung….“

          Danke, treffend und gut beschrieben.
          Kann mich da auch nicht immer von ausnehmen, weshalb ich solche Diskussionen als „bewusstseinschärfend“ erachte.

  4. Wenn schon Monarchie, dann nur mit Absolutismus.
    Dann hat Volk nämlich alle paar Jahrzehnte wenigstens die Chance, eine/-n Herrscher/-in mit Hirn, Empathie oder Verantwortungsgefühl zu bekommen. Ja, es bestünde sogar in einem Superglücksfall die Möglichkeit, diese Eigenschaften in einer Person vereint zu bekommen.
    All diese Eigenschaften werden ja in den sogenannten «repräsentativen Demokratien» westlicher Prägung allen Politikern, die es jemals auf eine Wahlliste schaffen wollen, zielsicher ausgetrieben.

      1. Euer Führer „die NATO“ lässt euch im Stich!
        Sie geben grosse Worthülsen, sie geben bedrucktes Geld an euch, die Menschen erhalten dann dafür den ‚tot‘, aber es sind ja immer die anderen die dann Schuld tragen sollen. Dieses bedruckte Papier möchten die Geber aber wiederhaben und ‚ihr‘ schreibt neue Gesetze, ändert die Verfassung ohne die Bürger zu fragen. Sehr demokratische Verhältnisse, nicht wahr?
        Jeder der hier schreibt wird gerade durch diese POLITIK enteignet, ob er das will oder nicht und andere wehren sich gegen ein totalitäres Regime das nur Mord, Totschlag und Raub kennt.

      2. @Ottono
        Das kommt vom Monotheismus.
        Der ist bedauerlicherweise so tief ins Bewusstsein großer Teile der Menschheit
        eingedrungen, daß er sich immer wieder prima für „Herrschaftssysteme“
        missbrauchen lässt. Da hilft nur eins: Endlich Selbst Verantwortung zu übernehmen.

        Aber ich glaube, daß wird noch eine Weile dauern.
        Momentan brechen noch Millionen von Menschen in Tränen aus, wenn z.B.
        eine Prinzessin Diana stirbt, obwohl sie diese nie persönlich getroffen haben.

        1. Dazu bedarf es keines Monotheismus. Leute denken an die Familie und den Vater, der es grundsätzlich gut mit den Kindern meint, auch wenn seine Vaterschaft ihm eine Menge Autorität verleiht. Für die Mutter gilt im Prinzip dasselbe vgl. „Landesmutter“. Gibt doch zunehmend „Kinder“, die sich überhaupt nicht davon lösen können.

  5. „Bei königlichen Begräbnissen beruft man sich dabei auf Traditionen und insbesondere auf ihre möglichst altehrwürdigen Symbole.“

    Danke für diesen Artikel!
    Die ganze Abartigkeit unserer auf Ausbeutung und Menschenopfern beruhenden „zivilisatorischen“ Gesellschaft beruht noch immer auf Grundlage wertiger Bemessung von Menschenleben und lässt sich auf die Frage reduzieren, wieviele Hungertote in der Welt man von den Kosten dieses Begräbnisses man hätte verhindern können.
    Die Wirtschasftszeitung The Economic Times schätzt die Kosten für Begräbnis und Krönung auf ca. 6,87 Mrd. Euro.
    Ableben und Krönung von Representanten roayaler Raubzüge, Kolonianismus, Eroberung, Unterdrückung, Sklaverei, Folter, kriegerischer Massenmorde etc. gesellschaftlich derart zu zelebrieren ist an Zynismus und Menschenverachtung nicht zu überbieten.

  6. Ich meine, es ist ein sehr guter Artikel, vor allem auch weil er Beweggründe beleuchtet.
    Ich frage mich nach Lesen der Kommentare, inwieweit bei den Kritikern eine Reflexion stattgefunden hat. Was hätten die gerne zurück?

  7. Ein Link für interessierte, wie und wer ernennt den König oder Königin
    https://www.royal.uk/accession-council
    Da man in einer Demokratie lebt, muss schlussendlich auch die Politik entscheiden. Der Boris hatte sich im hochamt seiner Verfehlungen mal so lapidar geäussert „Es ist egal was er treibt, er bleibt im Amt“.
    Naja, anscheinend war die Performance doch nicht so gut. Hat dieser ‚Council‘ doch mehr Einfluss?

    1. Danke für den Link.
      Erstaunlich, dass sich der Schein einer angeblichen Demokratie in England mit ihren Eliten qua Geburt bzw. Finanzstatus auf dem Thron und im Oberhaus (Hous of Lords) so lange halten kann.
      Dazu ein Unterhaus, welches die tatsächlich gewählten Mehrheitsverhtnisse nicht representiert.

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