Hat Joe Biden zu viel versprochen?

Bild: Rom Matibag / Unsplash

Warum ich die vermeintliche amerikanische Einheit nicht feiern kann. Von Kandist Mallett*, Los Angeles.

Die US-Wahlen sind vorüber und Joe Biden wird dank der größten Wahlbeteiligung der US-Geschichte zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gekürt. Sechsundvierzig – das ist eine wahrhaftig kleine Zahl, wenn man darüber nachdenkt. Sie macht nämlich deutlich, wie jung die amerikanische Siedlerkolonie erst ist. (1)

Die gesamte Wahl war ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen. Es war zu knapp. Alle Verbildlichungen der Wahlen machen deutlich, wie gespalten dieses Land ist. Donald Trump ist ein derart fürchterlicher Präsident, dass es ihm nicht einmal gelungen ist, seine eigenen Unterstützer vor dem Coronavirus zu beschützen. Ja, er konnte nicht einmal seine Mitarbeiter, seine Familie oder sich selbst vor dem Virus bewahren. Die Frage, wer im Weißen Haus noch nicht infiziert wurde, ist einfacher und schneller zu beantworten als jene, wen es erwischt hat. Und dennoch haben mehr als 73 Millionen Menschen für Trump gestimmt. Es ist absurd und schockierend zugleich. (2)

Ein Kandidat der Einheit

Während seiner Wahlkampagne und nach der Bekanntmachung seines Sieges präsentierte sich Biden als ein Kandidat der Einheit. Er wiederholte stets, dass er nicht nur die Demokraten, sondern alle Amerikaner repräsentieren würde. Biden gilt als ein Moderater, der auch von einigen Republikanern unterstützt wurde. Gerüchten zufolge will er einige von ihnen zum Teil seines Kabinetts machen. Ähnlich wie Obama wird er versuchen, Kompromisse mit ihnen zu schließen, nachdem er das Amt übernommen hat. (3) (4)

Doch was das bedeuten kann, haben wir während der Amtszeit Obamas am eigenen Leib erfahren müssen. Deshalb wird auch diesmal mit großer Wahrscheinlichkeit folgendes eintreten: Progressive Ideen werden abgewürgt und verdrängt, egal, wie wichtig sie auch sein mögen. Republikanische Kongressabgeordnete, aktuell angeführt von Senator Mitch McConnell, haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie nicht das geringste Interesse haben, gemeinsam mit den Demokraten an fairen Deals zu arbeiten. Stattdessen wurde das Gegenteil gemacht. Im Laufe der Pandemie wehrte man sich gegen wichtige Hilfsmaßnahmen und kämpfte gegen den Affordable Care Act, während das Bundesgericht mit konservativen Richtern besetzt wurde. Richter, die ohnehin jede progressive Entwicklung zunichtemachen werden. (5) (6)

Seit den Wahlen wurden die freundlichen Worte der Einheit Bidens von konservativen Kräften ignoriert oder als hoffnungslos fehlgeleitet bezeichnet. Warum stellen wir uns also weiterhin vor, dass wir mit diesen Menschen zusammenkommen können? Und: Wollen wir das überhaupt? (7)

Die Demokraten fischen in der politischen Mitte

Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist etwa die Polizeigewalt in diesem Land. Laut aktuellen Recherchen wurden zwischen 2013 und 2019 fast 2.000 Schwarze von der Polizei getötet. Nachdem George Floyd in diesem Jahr ermordet wurde, fanden landesweit Proteste statt, die unter anderem die Abschaffung der Polizei forderten. Obwohl derartige Rufe laut waren, wurden sie zugunsten des Mainstreams beiseite gedrängt. Stattdessen sprach man nur noch von möglichen Etatkürzungen. Dank der Anti-Polizei-Bewegung konnten die Demokraten viele Wähler mobilisieren, doch nun wird auch ebenjene für den Verlust von demokratischen Sitzen im Kongress mitverantwortlich gemacht. Der Grund: Die Bewegung hat anscheinend auch republikanische Wähler mobilisiert. Und hier haben wir bereits das Dilemma: Während die Grand Old Party sich weiterhin auf ihre Wahlklientel fokussiert, ist dies bei den Demokraten –  wie üblich – nicht der Fall. Sie wollen lieber in der politischen Mitte fischen. (8)

Ähnlich verhält es sich auch in wirtschaftlichen Fragen. Wir erleben Zwangsräumungen en masse und steuern mit einer Rezession auf einen einsamen, tödlichen Winter zu. Um die Lage in den Griff zu bekommen, sind massive Ausgaben und zahlreiche damit verbundene Programme notwendig. Nur so können wir die Schwachen schützen, allen voran die Arbeiterklasse. Konkrete Schritte sind hierfür notwendig, etwa monatliche Zahlungen, die es den Menschen ermöglichen, zuhause zu bleiben. Mieten und Hypotheken müssen vorerst ausgesetzt werden. Immerhin handelt es sich um eine noch nie dagewesene Krise, die eine gesamte Generation betrifft. Um die Grundrechte dieser Menschen zu sichern, müssen auch die Superreichen – the one percent – in die Verantwortung genommen werden, etwa indem man sie aggressiv besteuert. Doch zeitgleich liebäugelt Team Biden mit genau den neoliberalen Akteuren, denen wir die aktuelle Krise zu verdanken haben. (9)

Da das politische System in den USA von zwei Parteien dominiert wird, beschränken sich die meisten Debatten auf persönliche Präferenzen zwischen einzelnen Kandidaten. Doch eigentlich sollte es um Leben und Tod gehen. Politik ist mehr als ein Spektakel, das sich alle vier Jahre abspielt. Politik ist alltäglich, und diejenigen von uns, die in diesem Land systematisch unterdrückt werden, können auch nicht einfach aussteigen oder sich gewissen Entscheidungen entziehen. Einen solchen Luxus können wir uns einfach nicht leisten.

Wahlen führen dazu, dass Menschen ihre politischen Ideale massiv simplifizieren. Innerhalb der Demokratischen Partei wurden Anti-Kapitalisten und andere radikale Kritiker des Systems dazu aufgefordert, trotz Unstimmigkeiten Biden zu unterstützen. Der frisch gewählte Präsident wurde im Vergleich zu Trump als kleineres Übel dargestellt. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass Kapitalisten und Anti-Kapitalisten die Welt und ihre damit verbundenen politischen Ziele grundsätzlich unterschiedlich betrachten. Ich möchte keinen „Minikapitalismus“, der dennoch Menschen ausbeutet. Vielmehr möchte ich in einer Gesellschaft leben, die die Grundrechte sichert, und dazu gehören nun mal ein unantastbares Wohnrecht, leistbare Nahrungsmittel, ein verantwortungsbewusster Umgang mit der Umwelt sowie ein funktionierendes Gesundheitssystem für alle Bürger.

Es mag den Anschein erwecken, dass sich die USA nun in einer einmaligen Situation befinden und deshalb gespalten sind, doch Fakt ist, dass Widersprüche und Uneinigkeit zu den Wurzeln dieser Nation gehören. Eine Nation, die durch den Genozid an indigene Völker und die Versklavung von Afrikanern entstanden ist. Der Kern amerikanischer Werte ist weiterhin die Vorherrschaft der Weißen und der Kapitalismus. Das ist eine Wahrheit, die sich nicht wegwaschen lässt, egal, wer bereits im Oval Office saß.

Die Amerikaner waren nie vereint

Bidens Aufruf zu einem „vereinigten Amerika“ ist demnach als nationalistische Propaganda zu betrachten. Die Amerikaner waren nie vereint. Sie wurden vielmehr auseinander gehalten und gegeneinander ausgespielt. Egal, ob geografische Segregation, Migrationsverbote oder der Rassismus der Polizei: Die Vereinigten Staaten haben stets die Leben einiger Bürger als privilegiert betrachtet – und zwar auf Kosten anderer Bürger. Warum sollten nun ausgerechnet jene Bürger, die gegen die Regierung für ihre Freiheit kämpften, mit ihren Unterdrückern gemeinsame Sache machen?

Als es während der Wahlnacht noch den Anschein erweckte, dass Trump womöglich mehrere bedeutende Swing States für sich entscheiden würde, fiel ich in einen verzweifelten Schlaf. Als ich aufwachte, wurde deutlich, dass Biden die Wahlen gewinnen würde. Doch ich war weder glücklich, noch fühlte ich mich sicher. Ich war einfach nur müde. Mir war klar, dass die nächsten vier Jahre sich zwar von der Trump-Ära unterscheiden würden, der Kampf jedoch weitergehen würde.

Es liegt auf der Hand, dass dieser Befreiungskampf nicht einfacher wird. Viele, die die USA vor allem aufgrund von Trump kritisierten, sind dazu geneigt, einem Präsident Biden viel eher zu vergeben. Die Gesichter des Imperialismus und des Kapitalismus werden von nun an wieder diverser sein. Eine Schwarze Frau, Kamala Harris, wird von nun an das US-Imperium mitführen. Ich habe das gefälligst zu feiern, so erwarten es zumindest einige von mir. Doch so ist es nicht. Für mich gibt es nichts zu feiern. Die einzige politische Einheit, die wir anstreben sollten, ist eine, die tatsächlich jene Welt schaffen will, die wir so dringend benötigen.

 


  1. Mehr zur historischen Wahlbeteiligung: https://apnews.com/article/referendum-on-trump-shatter-voter-record-c5c61a8d280123a1d340a3f633077800
  2. Zu den Corona-Infizierten im Weißen Haus: https://www.teenvogue.com/story/white-house-trump-administration-covid-19-outbreak-november-2020
  3. Biden: „Ich repräsentiere alle Amerikaner.“ https://www.nbcnews.com/video/biden-says-he-will-be-a-president-for-all-americans-in-debate-closer-94451781513
  4. Diese Republikaner könnten Teil der Biden-Administration werden: https://www.politico.com/news/2020/11/07/joe-biden-cabinet-picks-possible-choices-433431
  5. Die Gräben zwischen den beiden Lagern sind weiterhin tief: https://www.cnbc.com/2020/11/12/coronavirus-stimulus-update-pelosi-and-schumer-mcconnell-divided-on-relief-bill.html
  6. Der Affordable Care Act ist auch als „Obamacare“ bekannt und wurde als wichtige Errungenschaft des amerikanischen Gesundheitssystems betrachtet: https://www.healthaffairs.org/do/10.1377/hblog20200305.771008/full/
  7. Die Republikaner interessieren sich wenig für Bidens Kuschelkurs: https://www.nytimes.com/2020/11/14/us/politics/biden-trump-republicans.html
  8. Laut „Mapping Police Violence“ wurden im genannten Zeitraum mindestens 1.994 Schwarze Menschen von der Polizei getötet: https://mappingpoliceviolence.org/
  9. https://www.politico.com/news/2020/11/17/biden-appoints-loyalists-key-white-house-posts-436999

 

*Kandist Mallett ist Journalistin und Kolumnistin. Sie lebt und arbeitet in Los Angeles und beschäftigt sich hauptsächlich mit den Rechten von Minderheiten in den USA, Graswurzelbewegungen, dem Überwachungsstaat und Kapitalismus und Ungleichheit. Sie  publiziert regelmäßig in renommierten US-Magazinen und schreibt zurzeit ein Buch.

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