Geist außer mir

Können Pantoffeltierchen denken? Bild: Anatoly Mikhaltsov/CC BY-SA-4.0

Denken spielt sich nicht nur im Kopf ab.

Wenn wir an „Denken“ denken, denken wir zunächst an ein Gehirn. Die beiden Begriffe erscheinen so eng verbunden, dass zu überlegen wäre, ob wir unbewusst die Grenze zwischen „Gehirn“ und „Nervensystem“ da ziehen, wo das Denken aufzuhören scheint. Denn im Gegenzug nennen wir auch Maschinen „Elektronengehirn“, wenn wir denken, dass sie denken.

Gewisse kognitive Prozesse aber, die man nicht unbedingt „denken“ nennen möchte, brauchen kein Gehirn. Einfache Lernvorgänge kann ein kleines Nervennetz erledigen, vielleicht sogar eine einzelne Synapse. Ja, sogar einzelne Zellen – die logischerweise über kein Gehirn verfügen können – können lernen (Ich, Neuron). Und dies nicht nur als Teil eines Gehirns.

Die kognitiven Fähigkeiten von Einzellern sind beeindruckend. So hat man z.B. bei Pantoffeltierchen unter bestimmten Bedingungen „spontanes Alternieren“ beobachtet. Das bedeutet: Wenn sie um eine Rechtskurve auf eine T-Kreuzung zuschwimmen, dann biegen sie dort mit höherer Wahrscheinlichkeit nach links ab. Nahezu alle Tiere tun das. Nur: Tiere haben ein Gehirn, um sich zu merken, wie sie zuletzt abgebogen sind. Sie bewahren diese Erinnerung im Arbeitsgedächtnis. Wo bewahren Pantoffeltierchen sie?

Manche Versuche deuten sogar daraufhin, dass Pantoffeltierchen klassisch konditioniert werden, also einen neuen Reiz mit einer Reflexreaktion verknüpfen können: Ein kleiner, rechteckiger Wassertrog auf einem Objektträger wird zur Hälfte beleuchtet und zur anderen Hälfte dunkel gehalten. Ein Pantoffeltierchen wird hineingesetzt. Eine der beiden Hälften wird mit einem Elektroschock gekoppelt, so dass ein Teil der Einzeller immer auf der hellen, ein anderer immer auf der dunklen Seite geschockt wird. Binnen Minuten lernt das Pantoffeltierchen, die schmerzhafte Seite des Troges zu meiden. Und wenn die Stromschläge aufhören, verlernt es das auch wieder.

Auf den ersten Blick scheint dieser einfache Versuch zu beweisen, dass die Pantoffeltierchen sich „gemerkt“ haben, dass Licht oder Dunkelheit mit einem Stromschlag verknüpft ist. Aber die Autoren schlagen auch eine andere Interpretation vor: Es könnte sein, dass die Paramecien unter Strom einen Schreckstoff absondern, ähnlich wie Karl von Frisch dies bei Fischen gezeigt hatte. Dann würde sich dieser Stoff in der beleuchteten Hälfte des Trogs ansammeln und den Pantoffeltierchen signalisieren, dass man dort nicht bleiben sollte. Und die „Extinktion“ nach Ende der Schocks wäre einfach darauf zurückzuführen, dass der Stoff sich langsam im Wasser verteilt.

Was lernt?

Doch selbst angenommen, das Lernverhalten der Einzeller wäre „nur“ auf einen Schreckstoff zurückzuführen – wäre das dann kein „Lernen“? Lernen ist doch, in der einfachsten Definition, Verhaltensänderung aufgrund von Erfahrung. Wo sich die materielle Basis dieser Veränderung befindet, ist nicht Teil der Definition. Sicherlich braucht es nicht in einem Gehirn zu geschehen, wenn Einzeller und Pflanzen es auch können. Was erhebt die biochemische Änderungen an Synapsen als mutmaßlichen Ort des Lernens über biochemische Änderungen im Medium?

Und umgekehrt: Selbst wenn Lernen und Denken sich vollständig innerhalb eines Organismus‘, womöglich innerhalb eines Gehirns abspielten, wären sie doch angewiesen auf die jeweilige Umwelt: Den Weg durch ein Labyrinth oder eine Stadt zu kennen, ist bedeutungslos, wenn man anderswo ist; perfekte Spanischkenntnisse bewirken nichts in China; und im Frankenjura gut klettern zu können, hilft recht wenig im Elbsandstein. Die scheinbar „inneren“ Funktionen eines Lebewesens ereignen sich immer nur in Bezug auf seine Außenwelt.

Es ist mithin nicht das Lebewesen, das lernt, sondern das Gesamtsystem aus Lebewesen und seiner Umwelt. Hat man dies einmal eingesehen – dass kognitive Vorgänge sich nicht nur im engen Hirnkastl abspielen müssen – dann öffnet sich der Blick für ein ganzes Kontinuum externalisierter Lernvorgänge: Duftmarken, wie zahlreiche Tiere sie hinterlassen, sind dann riechendes Raumgedächtnis. Wildwechsel werden zu erdgeschriebener Erinnerung. Und selbstverständlich gehört jede Form von kultureller Übertragung hierher, sei es bei Menschen, sei es bei Affen oder Rabenvögeln.

Lernvorgänge in der Umwelt abzulegen, das tun nicht nur Pantoffeltierchen und Fische, bei denen man unterstellen könnte, sie kompensierten damit mangelnde Gehirnkapazität. Wir Menschen tun es auch. Offensichtlich ist das bei schwierigen Denkvorgängen, die uns nötigen, Notizen zu machen oder Lösungswege aufzuschreiben. „Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlußfähiger Weise“, verlautbarte Niklas Luhmann, und ich kann nur zustimmen. Mehrstufige Argumentationen lassen sich anders kaum konstruieren, geschweige denn verständlich kommunizieren.

Aber die Auslagerung des Geistigen beginnt schon bei viel einfacheren Vorgängen, bei denen Kapazität noch gar keine Rolle spielt. Sie beruht einfach auf unbewussten ökonomischen Entscheidungen: Wieso Hirnschmalz aufwenden, wenn umweltbasierte Strategien zur Verfügung stehen?

Unser stinkfaules Gehirn

Das wurde soeben für das bereits erwähnte Arbeitsgedächtnis gezeigt. Damit bezeichnet man diejenige Form von Kurzzeitgedächtnis, die Informationen für die aktuelle Verhaltenssteuerung nur gerade so lange verfügbar hält, wie sie gebraucht werden: die Adresse, die man abkopiert, die Gehrichtung beim Alternieren, oder das, was man aus dem Nachbarzimmer holen wollte.

Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist notorisch gering. Allgemein bekannt ist noch die „magische Zahl“ von sieben Elementen – seien es Zahlen, Worte, Gegenstände -, doch selbst das ist noch zu hoch gegriffen. In Laborstudien mit jungen Erwachsenen kommt man für gewöhnlich auf ungefähr vier Einheiten.

Typische Tests sind etwa der n-back-Test, bei dem man sich an den nt-letzten Reiz erinnern muss, oder das Behalten einer Reihe von Ziffern. Wer seine Grenzen austesten möchte, kann den Links folgen. Man sieht, dass solche Tests üblicherweise an einem Bildschirm ablaufen, in einem Setting, das vom natürlichen Verhalten denkbar weit weg ist, und explizit auf die Leistungsgrenze abzielt.

Aber ist diese Kapazität im wirklichen Leben jemals von Belang? Sind solche Leistungstests ökologisch relevant in unserem natürlichen Verhalten?

Eine aktuelle Studie zeigt: nein. Die Wissenschaftler ließen ihre Versuchspersonen eine Anordnung von Spielsteinen nachlegen, die jeweils unterschiedliche Bilder trugen. Die Fläche, auf welche die Steine abgelegt werden mussten, befand sich vor den Versuchspersonen, aber das Vorbild konnte sich unmittelbar darüber oder in 45°-Schritten links befinden, bis zu schräg links hinten (135°). In so einem Fall musste man also den ganzen Körper wenden, um sich die Position von Steinen einzuprägen, und dann wieder zur Arbeitsfläche zurückkehren.

Über Blicktracker verfolgten die Forscher, mit wie viel Information die Versuchspersonen ihr Arbeitsgedächtnis beluden. Schauten sie für jeden Schritt auf das Vorbild (Stein aussuchen – schauen – Position wählen – schauen – nächsten Stein aussuchen . . .)? Oder schafften sie mehrere Schritte, bevor sie wieder nach oben guckten?

In der Mehrzahl der Fälle belasteten die Versuchspersonen ihr Gedächtnis nur mit einer einzigen Information. Erst, wenn sie sich mindestens zur Seite drehen mussten, um das Vorbild zu sehen, merkten sie sich wenigstens zwei Sachen (Symbol und Position). Mehr, also drei oder vier Gedächtniselemente, die ja laut Kapazitätsstudien mühelos drin sein müssten, packten sich die Versuchspersonen nur in weniger als 10% der Fälle ins Gedächtnis, sogar wenn das Bild schräg hinter ihnen stand.

Denn die Position des Vorbilds hatte durchaus einen Effekt. Je mehr Motorik nötig war, um die Information aus der Umwelt zu beziehen, desto mehr luden die Versuchspersonen sich ins Arbeitsgedächtnis. Auch hier funktioniert das Gehirn also nicht als autonomer Informationsspeicher, sondern lagert Informationen aus, wenn das möglich und einfacher ist.

Denken ist der Tanz und nicht der Tänzer.

Die Philosophen Andy Clark und David Chalmers entwickelten vor gut zwanzig Jahren den Gedanken vom „extended mind“. Der Geist, so schlossen sie aus Überlegungen zum Rechnen mit Fingern oder Bleistift und Papier, oder zum Tetrisspielen, residiert nicht nur im Schädel, sondern dehnt sich aus auf alle Ressourcen, mit denen das Gehirn sich verlässlich koppeln kann: mein Schlauphon, das ich immer bei mir trage, oder den Zollstock in der Blaumanntasche des Handwerkers. Wenn diese Hilfsmittel so zuverlässig vorhanden sind wie Teile des Gehirns oder die Finger zum Rechnen, dann spricht nichts dagegen, sie als Teil des „ausgedehnten Geistes“ zu sehen.

„It certainly seems that evolution has favoured on-board capacities which are specially geared to parasitizing the local environment so as to reduce memory load, and even to transform the nature of computational problems themselves. […] If so, then external coupling is part of the truly basic package of cognitive resources that we bring to bear on the world.”

So richtig das alles ist, krankt es gedanklich doch an einer zentralen Stelle: der Verdinglichung des “Geistes”. Der Geist residiert ebenso wenig im Gehirn wie „das Fahren“ im Auto. Diese Redeweise verwirrt so viel wie sie aufklärt; sie macht aus „dem Geist“ eine Art Kerze, die im Gehirn am hellsten leuchtet und von dort ausstrahlt, bisweilen über die Körpergrenzen hinaus. Weiter kommt man, wenn man anstelle des umgrenzten Körpers den Prozess betrachtet, in welchem er mit seiner Umwelt interagiert.

Wenn man sich erinnert, dass jedes Lebewesen mit seiner Umwelt so eng verbunden ist wie Signifikat und Signifikans im Sprachzeichen, als unauflösbare Einheit, dann wird es gänzlich irrelevant, wo in diesem System eine Steuerungsinformation abgelegt wird. Nach Jakob v. Uexküll, der den Begriff der „Umwelt“ erfand und in die Biologie einführte, sind ein Lebewesen und seine Umwelt miteinander durch Funktionskreise verbunden: Ein Reiz wird vom Tier durch geeignete Sinnesorgane wahrgenommen und wird dadurch zum Merkmal in der Innenwelt des Tieres; dort löst das Merkmal eine entsprechende Reaktion aus, durch welche das Tier seiner Umwelt ein neues „Wirkmal“ aufdrückt und das Merkmal auslöscht (es verschwindet aus der Wahrnehmung, wird irrelevant). Nun ist wieder die Umwelt am Zuge: Hat sie einen neuen Reiz zu bieten, dann schließt sich ein neuer Funktionskreis an.

So werden Umweltveränderungen, die ein Tier selbst verursacht hat, wiederum Ursache seines Verhaltens. In dieser unaufhörlichen Spirale, diesem Reigen, den Lebewesen und Umwelt miteinander tanzen, führt mal das Eine, mal die Andere. Die Umwelt ebenso wie die Innenwelt hat die Möglichkeit, den Ablauf zu ändern. „Denken“ ist der Tanz und nicht der Tänzer.

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