Gegenkultur

Antivietnam-Demo 1967. Bild: DoD

 

Was ist der begriffliche Unterschied zwischen Kultur, Zivilisation, Subkultur und Gegenkultur? Geht es lediglich um Nomenklatur? Oder geht es in der Unterscheidung auch um unterschiedliche historische und gesellschaftliche Funktionen?

Im deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff der Kultur, ähnlich wie der der Geschichte, schillernd. Geschichte – erst im 19. Jahrhundert zum Singularbegriff geronnen; im 18. Jahrhundert sprach man noch von „Geschichten“ – bezeichnet sowohl die narrative Bestandsaufnahme von Vergangenem als auch das gesamte räumliche und zeitliche Dasein, in welchem sich die Menschheit bewegt, und zwar sowohl in der Vergangenheit und der Gegenwart als auch in der Zukunft.

Der Kulturbegriff weist sogar eine konkrete ideologische Dimension auf. „Kultur“ wurde von Deutschen im 18. und noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein als Gegensatz zu Zivilisation angeführt, namentlich als Inkarnation des Wesens der deutschen „Kulturnation“, welche der schalen „civilisation“ der Franzosen diametral entgegenstehe. Demgegenüber galt sowohl Marx als auch Nietzsche und Freud diese Gegenüberstellung für unzulässig, nicht zuletzt, weil sie Kultur als die Gesamtheit der menschlichen Praxis begriffen, womit letztlich Zivilisation apostrophiert wäre. Kultur meint im Deutschen also durchaus Hochkultur, aber auch Folklore und Populärkultur wie denn alles, was kollektiver menschlicher Praxis zuzuzählen ist.

Hochkultur, Subkultur, Gegenkultur

Geht man aber von einem solchen umfassenden Kulturbegriff aus, stellt sich die Frage, was es mit Kategorien wie Subkultur oder der hier anvisierten Gegenkultur auf sich hat. Denn wenn alles, was Menschen betreiben, der Kultur im Sinne humaner Praxis zu subsumieren ist – vom künstlerischen Meisterwerk der Hochkultur bis hin zu Sitten und Gebräuchen der Alltagskultur –, dann versteht sich das Untergründige im „Sub“ wie das Widerständige im „Gegen“ nicht von selbst.

Zur Klärung muss die Kategorie der Hegemonie, also des durch historisch entstandene Machtverhältnisse generierten Vorherrschenden herangezogen werden. Subkultur wie Gegenkultur bezeichnen denn verhältnismäßige menschliche Kulturpraktiken, sie beziehen sich auf die konsensuell akzeptierte dominante Kultur und bilden sich in Relation zu ihr. Das gilt letztlich für jedes dialektische Verhältnis – im Gegensatz ist stets auch das mitenthalten, zu dem der Gegensatz ein solcher ist. So besehen, implizieren Sub- bzw. Gegenkultur stets eine wie immer ausgerichtete Opposition gegenüber einem mächtigen Bestehenden.

Worin wäre da der Unterschied zwischen Subkultur und Gegenkultur zu sehen? Mit der Subkultur ist eine kulturelle Praxis bezeichnet, die sich im Bestehenden eine Nische geschaffen hat, die dem Hegemonialen entgegensteht, indem sie es nicht als die eigene kulturelle Norm annimmt, dies Hegemoniale jedoch – der eigenen Intention nach – nicht wirklich tangiert. Die Hegemonialkultur hat kein Problem, die Existenz von Subkulturen hinzunehmen, solange diese ihre eigene Dominanz nicht herausfordern.

Es kann sich aber durchaus ergeben, daß eine ursprüngliche Subkultur so an Verbreitung und Macht gewinnt, daß sie die vorherrschende Konsenskultur bedroht und an Dominanz gar übertrifft. Die westliche Populärkultur bietet hierfür vielerlei beredte Beispiele (die Etablierung des Jazz, der Photographie als Kunstform, der Popbekleidungsmode, der Tätowierungskultur und dergleichen mehr).

Geschichte gegen den Strich gebürstet

Hingegen verfolgt die Gegenkultur stets die Absicht, der vorherrschenden Kultur entgegenzuwirken, weil sie diese qua Kultur der Herrschaft als repressiv begreift.

In der siebten seiner Thesen über die Geschichte wirft Walter Benjamin die Frage auf, in wen sich der konventionelle Geschichtsschreiber einfühle, und schreibt: „Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute.“ Dem fügt er rigoros hinzu: „Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt“. Und weiter: „Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.“ Er spricht dann das Emanzipative der Betrachtungsweise des historischen Materialisten aus: „Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“. Seine berühmt gewordenes Postulat lautet entsprechend: „Der historische Materialist […] betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“ Besser kann der Begriff der Gegenkultur nicht beschrieben werden.

Ein so verstandener Begriff von Gegenkultur zeigt demnach sowohl die Einsicht in die Wirkung von Unterdrückungsstrukturen bei der Entstehung von Kultur als auch die emanzipative Intention, diesen repressiven Strukturen entgegenzuwirken und sie aufzuheben. Und wenn die vorherrschenden Kulturgüter – nicht nur, aber auch – die Prädominanz der historischen Sieger anzeigen, will Gegenkultur nicht nur kulturelle Alternativen zum Bestehenden anbieten, sondern in diesen Alternativen auch das Repressive des Bestehenden mitreflektieren. In der Kunst selbst manifestiert sich die kritische Dimension dieses Unterfangens in der sogenannten Formüberbietung, d.h., in der Art und Weise wie die Avantgarde, über das Gewohnte und Konventionelle hinaus, stets das Neue, das künftig Kommende anzeigt.

Aber genau diese Entwicklung der kulturellen Moderne – die ständige Durchbrechung der Konvention und die Erfindung immer neuer ungewohnter Ausdrucksformen – hat im 20. Jahrhundert ein neues Problem aufgeworfen. Die Rigorosität, mit der die avantgardistische Moderne sich immer radikaler selbst überbot, führte dazu, daß vielen (nichtprofessionellen) Rezipienten, die sich kultur- und bildungsbeflissen wähnten, die Kompetenz abkam, den neuen Kulturerzeugnissen noch adäquat zu begegnen; mit Pierre Bourdieu gesprochen, das kulturelle Kapital vorzuweisen, das zur Ergründung des Avancierten in allen Kunstbereichen unabdingbar ist. Es generierte sich ein strkturbedingter Bruch zwischen Kunst und Kunstrezeption bzw. eine sich bedenklich erweiternde Entfernung des Publikums von zeitgenössischer Kunst.

Etwas Wärmendes

Es war in diesem Zusammenhang, dass Walter Benjamin bereits in den 1930er Jahren Folgendes zu bedenken gab: „Nie wäre der Sozialismus in die Welt getreten, hätte man die Arbeiterschaft nur einfach für eine bessere Ordnung der Dinge begeistern wollen. Daß es Marx verstand, sie für eine zu interessieren, in der sie es besser hätten und ihnen die als die gerechte zeigte[,] machte die Gewalt und die Autorität der Bewegung aus.“

Mit der Kunst steht es für ihn genauso: „Zu keinem, wenn auch noch so utopischen Zeitpunkte, wird man die Massen für eine höhere Kunst, sondern immer nur für eine gewinnen, die ihnen näher ist. Und die Schwierigkeit, die besteht gerade darin, die so zu gestalten, daß man mit dem besten Gewissen behaupten könne, die sei eine höhere.“ Dies könne für das, „was die Avantgarde des Bürgertums propagiert“, schlechterdings nicht gelingen. Die Masse verlange vom Kunstwerk „etwas Wärmendes“, einen „Komfort des Herzens“, der die Kunst „zum Gebrauche qualifiziert“.

Für „werdende, lebendige Formen“ gelte demnach, dass „sie dialektisch den ‚Kitsch‘ in sich aufnehmen, sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch überwinden können. Dieser Aufgabe ist heute vielleicht allein der Film gewachsen, jedenfalls steht sie ihm am nächsten. Und wer das erkannt hat, wird dazu neigen, den Hochmut des abstrakten Films – so wichtig seine Versuche sein mögen – zu beschränken. Er wird eine Schonzeit, einen Naturschutz für denjenigen Kitsch erbitten, dessen providentieller Ort der Film ist. Der allein kann die Stoffe zur Explosion bringen, die das 19te Jahrhundert in dieser seltsamen, früher vielleicht unbekannten Materie gespeichert hat, die der Kitsch ist.“

Dieser emphatisch formulierte Ansatz brach, zumindest in einem zentralen Punkt, mit der konventionellen Auffassung der Beziehung von Kultur und Rezeption, genauer: zwischen Kunst und Publikum. Denn wenn Benjamin meinte, dass die Qualität neuer Kunstwerke „nicht werkimmanent festzumachen ist, sondern sich in der Rezeption erst konstituiert“, mithin postulierte, dass die Theorie solcher Werke letztlich eine „Rezeptionstheorie“ sei, dann stand diese Auffassung dem klassischen Postulat der Kunstautonomie diametral entgegen.

Zwischen Benjamin und Adorno entbrannte über diesen Gegensatz der Auffassungen eine tiefgreifende Kontroverse. Denn während Adorno davon ausging, dass sich der Fortschritt von Kunst (und der sich in diesem abbildende gesellschaftliche Fortschritt) primär im Kunstwerk selbst manifestiert, behauptete Benjamin, dass sich der Fortschritt letztlich darin erweist, wie und ob das Werk vom rezipierenden Publikum aufgenommen wird. Die Diskrepanz zwischen beiden Positionen war letztlich unüberbrückbar.

Was Adorno dabei vor allem monierte, war die Gefahr, dass das Eingehen auf populäre Bedürfnisse des Publikums, nicht nur die Autonomie der Kunst, mithin die Gestaltung des Kunstwerks, negativ beeinflussen könnten, sondern dass diese Tendenz in das münden könnte, was er späterhin als Kulturindustrie apostrophierte, namentlich jene kommerzielle Populärkultur des 20. Jahrhunderts, der es bei ihrer strukturell vorgegebenen Warenförmigkeit um nichts anderes geht, als darum, beim Publikum (um des Profits willen) gut anzukommen.

Was also in Benjamins Ansatz als möglicher Ausweg aus der später dem Adornoschen Denken vorgeworfenen Sackgassenstruktur gedeutet werden mag, ist mit einiger Vorsicht zu genießen. Benjamin starb zu früh. Man wird nie erfahren können, wie er die in den Jahrzehnten nach seinem Tod kaum noch überschaubare Verbreitung der Kulturindustrie beurteilt hätte.

Kein einfaches Unterfangen

Was bedeutet dies aber für ein Gegenkultur, die es als ihr vornehmliches Anliegen sieht, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Denn eine solche Gegenkultur müsste sich nicht nur mit den bestehenden Formen der (höheren) Kunst auseinadersetzen; nicht nur mit der Gefahr, dass das Horchen auf die Möglichkeiten ihrer Rezeption sie allzu leicht zur kulturindustriellen Praxis verkommen lassen könnte; sondern auch mit fest eingefahrenen Gewohnheiten des Publikums, welches – überfordert durch Herausforderungen der Kunstavantgarde – sich im Altbekannten, Gewohnten und versöhnlich Unaufdringlichen, zuweilen aber auch im schalen Sensationellen eingerichtet hat. Die Schwierigkeit besteht in der Tat darin, die höhere Kunst so zu gestalten, dass sie den Massen näher bleibt und man dennoch mit gutem Gewissen behaupten kann, sie sei eine höhere. Kein einfaches Unterfangen.

Eines steht aber fest: Es gibt keine Rezepte zur Bewältigung dieses Unterfangens, keine Formeln, keine konkreten Vorgaben. Zum einen deshalb nicht, weil man ja nie wirklich weiß, was das Publikum will. Das Publikum ist ja kein monolithischer Block, sondern in sich differenziert gegliedert und mitnichten so einfältig, wie die etablierte Kulturindustrie es annimmt und entsprechend handelt. Zum anderen aber deshalb nicht, weil diese Grundannhme kulturindustrieller Praxis nun einmal Tatsachen im Feld schafft – sie „erzieht“ zur Rezeption konventioneller Muster, pflegt erforschte Vorlieben des Publikums, welche sie ihm selbst eingetrichtert hat; erweist sich aber vor allem versatil in der fortwährenden Produktion von vermeintlich Neuem.

Es bleibt mehr oder minder im Unbestimmten, was genau das „Wärmende“ ist, welches die Masse, Benjamin zufolge, dem Kunstwerk abverlangt; worin jener „Komfort des Herzens“ besteht, der die Kunst „zum Gebrauche qualifiziert“. Brecht beabsichtigte bekanntlich, jenem „Komfort des Herzens“ durch Verfremdung entgegenzuwirken. Und er, der wie kaum ein anderer an die Masse in emanzipativer Absicht dachte, scheiterte gerade in diesem seinen Anliegen. Gegenkultur hat es schwer. Zu sehr ist das Feld ihrer Verwirklichung von dem geprägt, wogegen sie sich richtet.

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