Falschinformationen bei Vorstellung des Bundeslagebilds Organisierte Kriminalität 2020

Cover des Berichts „Bundes­lage­bild Organi­sierte Krimi­nalität 2020“

Bei der Vorstellung des Bundeslagebilds OK 2020 verbreitete Bundesinnenminister Seehofer Erfolgsnachrichten: „Der Druck auf die Organisierten Kriminalität war noch nie so hoch wie heute.“ Und: Polizei trifft die OK dort, wo es am wehsten tut. Solche und weitere steilen Thesen stellten sich bei unserer Überprüfung als Falschinformationen heraus.

Doch was haben die Medien daraus gemacht?! Seehofers Botschaften wurden ungeprüft abgeschrieben: An Stelle der angeblich so erfolgreichen Bekämpfung der OK durch die deutsche Polizei trifft allerdings das Gegenteil zu. Und es stellt sich die Frage: In welchem Umfang ist es OK bereits gelungen, Politik und Medien in ihrem Sinne zu beeinflussen?!

Fünf Falschinformationen über OK in Deutschland

Falschinformation #1: Angeblich nur 800 Millionen Schaden im Jahr 2020

„Die OK in D sorgt weiterhin für enorme wirtschaftliche Schäden. Der kriminelle Schaden betrug im vergangenen Jahr über 800 Millionen Euro.

„Bei den durch die Täter kriminell erlangten Vermögenswerten konnten über eine Milliarde Euro festgestellt werden.“

Das sagt das Bundeskriminalamt in einer Pressemitteilung zur Vorstellung des Bundeslagebilds OK 2020.

Diese Aussagen wurden in den Tagen darauf einige hunderte Male in Medien wiederholt und veröffentlicht. Diese Suchfrage liefert (am 23.11.2021) bei Google 1.460 Treffer.

Und so sieht die Situation tatsächlich aus …

Die erwähnten Zahlen geben bei weitem nicht das wahre Ausmaß des Schadens durch Organisierte Kriminalität in Deutschland wieder. Denn der Schaden ist um ein Vielfaches höher als die genannten 800 Millionen Euro:

Der Digitalverband Bitkom hat im August 2021 Ergebnisse einer repräsentativen Studie veröffentlicht. Die zum Ergebnis kam, dass durch Diebstahl, Spionage und Sabotage der deutschen Wirtschaft ein Gesamtschaden von 223 Milliarden Euro entsteht. Haupttreiber sind Erpressungsvorfälle durch Ransomware, die zum Ausfall von Informations- und Produktionssystemen und der Störung des Betriebsablaufs führen. Die Schäden daraus haben sich seit 2018/2019 um 358% erhöht. Jedes zehnte Unternehmen sieht seine geschäftliche Existenz durch Cyberattacken bedroht. 2016/2017 wurden 7% solcher Angriffe der OK zugeschrieben, 2020/2021 ist der Wert bereits auf 29% gestiegen.

Allein aus diesem Deliktsbereich ergäbe sich ein Schadenspotenzial von rund 65 Milliarden Euro pro Jahr. Doch OK ist auf weiteren Deliktsbereichen aktiv: Einbrüche in Firmenräume und Wohnungen, Angriffe auf Geldautomaten, Betrugsschemata, Ladungskriminalität, Taschen-, Laden- oder Metalldiebstahl. Die vom BKA „festgestellten“ 800 Millionen Euro sind allenfalls die kleine Spitze eines großen Eisbergs.

Die Gründe:

  1. Polizei hat keine Ressourcen mehr für spezialisierte OK-Ermittlungen:
    Die Zahl der OK-Ermittler in den Polizeibehörden wurde zwischen 1992 und 2000 um 1000 auf 3021 erhöht. Denn der Kampf gegen Organisierte Kriminalität war bis zur Jahrtausendwende DER Schwerpunkt der kriminalpolizeilichen Arbeit und der Politik der Inneren Sicherheit. Doch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden die Ziele neu definiert: Die Vereinigten Staaten hatten den NATO-Bündnisfall ausgerufen; der Kampf gegen den Terror erhielt in der westlichen Welt die oberste Priorität.
    Die Spezialdienststellen für OK wurden ausgedünnt: Bis 2003 wurden mehr als 450 Beamte in andere Dezernate umgesetzt. Seit 2005 veröffentlichte das BKA dazu auch keine Angaben mehr. OK hätte daraus ihre Schlüsse ziehen können …
  2. Ein weiterer Grund für die zu geringe Schadenszahl, die das BKA angibt: Es sind dort nur die Ergebnisse polizeilicher Strafverfolgungsaktivitäten im Bereich der OK abgebildet: Also Verfahren, bei denen bereits ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde (das so genannte „Hellfeld“). Die vielen Fälle, in denen es (noch bzw. überhaupt) kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gibt, sind in den BKA-Zahlen nicht berücksichtigt. Unbeeindruckt von diesem Fakt, den das BKA auch deutlich benennt, titeln jedoch Zeit und Welt und Tagesspiegel und weitere von „800 Mio Euro Schaden durch OK“.

Falschinformation #2: Der Kampf der Polizei gegen OK ist angeblich sehr wirksam

In der Pressemitteilung des BKA wird Bundesinnenminister Seehofer zitiert: „Der Druck auf die Organisierte Kriminalität ist in Deutschland heute so hoch wie nie.“

Der Beweis, wie falsch diese Behauptung ist, ist leicht zu überprüfen aus den Bundeslagebildern OK der letzten zwanzig Jahre. Offensichtlich traute sich jedoch niemand im BKA, den Herrn Minister darauf hinzuweisen …
Das machte auch nichts. Denn das Ziel war ja erreicht: Binnen weniger Stunden am Tag der Veröffentlichung des Lagebilds hatten die genannten Leitmedien und die Zentralredaktionen aller großen Verlagshäuser ihre Artikel draußen, die diese „griffige“ Behauptung wörtlich zitierte: So in der Tagesschau, der Zeit, der Welt, im Tagesspiegel, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder dem Spiegel.

Der sonst so rührige Faktenchecker bei der Tagesschau und seine Kollegen in anderen Medien waren an diesem Tag offensichtlich anderweitig beschäftigt: Denn sie fanden nicht die maximal eine Stunde Zeit, um aus den Bundeslagebildern der letzten zwanzig Jahre fünf Datenreihen herauszuziehen.
Die in jedem Einzelfall die Aussage von Seehofer als Falschinformation dastehen lassen:

So sieht es tatsächlich aus …

  1. Bei der Zahl der OK-Verfahren seit 2000 liegt das Jahr 2020 nicht auf Platz 1, sondern auf Platz 10: Vor zwanzig Jahren schafften die (noch nicht kaputt geschrumpften) OK-Dienststellen der Polizeibehörden von Bund und Ländern noch 854 Verfahren, also 260 mehr als im Jahr 2020.
  2. Bei den Schadenssummen liegt das Jahr 2020 nicht auf Platz 1, sondern auf Platz 9. Zum Teil wesentlich höhere Schäden wurden festgestellt im Jahr 2002 (3,1 Mrd Euro), 2010 (1,65 Mrd Euro), 2009 (1,37 MrdEuro Euro), 2006 (1,36 Mrd Euro), 2001 (1,2 Mrd Euro), 2012 (1,1 Mrd Euro), 2016 (1,01 Mrd Euro) und 2011 (0,88 Mrd Euro).
  3. Bei den ‚kriminell erlangten Vermögenswerten‘ (= Gewinne aus OK) liegt das Jahr 2020 nicht auf Platz 1, sondern nur auf Platz 5. Noch höhere Gewinne erzielte die OK in 2006 (1,71 Mrd Euro), 2002 und 2003 (jeweils 1,5 Mrd Euro) und 2004 (1,3 Mrd Euro). Erst dann kommt 2020 mit 1,02 Mrd Euro.
  4. Bei der Gesamtzahl der Tatverdächtigen im Berichtsjahr liegt das Jahr 2020 auch nicht auf Platz 1, sondern auf dem vorletzten 19. Platz! 2001 wurde noch gegen 15.237 Tatverdächtige ermittelt, 2003 waren es 13.098 und damit doppelt so viele wie im Jahr 2020 mit 6.529.
    Seitdem nimmt die Zahl der Tatverdächtigen permanent ab; genauso wie die Zahl der OK-Ermittlungsverfahren (siehe Punkt 1)

Siehe dazu auch:

Organisierte und dokumentierte Doppelmoral – unser Bericht zum Bundeslagebild OK für 2017. Damals sagte Seehofer, dass „Deutschland kein Raum für OK“ ist …

Organisierte Kriminalität Bundeslagebild 2018
Da hatte Seehofer erklärt, dass OK in Deutschland „…vor allem aus Rauschgift-, Eigentums- und Wirtschaftskriminalität“ besteht.

Aus: Bundes­lage­bild Organi­sierte Krimi­nalität 2020

Falschinformation #3: Die Polizei trifft die OK angeblich da, „wo es am wehsten tut“

„Wenn wir das kriminell erlangte Vermögen einziehen, treffen wir die Kriminellen dort, wo es am meisten weh tut. Kriminalität darf sich für niemanden lohnen.“

Seehofer bezieht sich dabei auf das Instrument der Einziehung [a] bzw. des Arrests auf solches Vermögen. Auch bei diesem Schlüsselwert belegt das Jahr 2020 nur den 4. Platz. Mehr konnte abgeschöpft werden in den Jahren 2010 (171 Mio €), 2008 (170 Mio €) (beides vor der Strafrechtsreform in diesem Bereich im Jahr 2017) , sowie 2019 (116 Mio €). Erst dann folgt das Jahr 2020 mit 114 Mio Euro.

Ob die Annahmen des Ministers realistisch sind über die furchteinflößende Wirkung seiner Ankün­digung? Ich habe meine Zweifel. Gefährlich ist sie eher für den OK-Boss, dem ein dröhnender Lachanfall droht. Oder glaubt Seehofer tatsächlich, dass kriminelle Unternehmer, die dreistellige Millionen oder gar Milliardengewinne pro Jahr erzielen, sich von diesen relativen Peanuts abschrecken lassen.

Was die Medien daraus gemacht haben

Die Welt, die FAZ, der Tagesspiegel, um nur einige zu nennen, zitieren auch diese leeren Drohungen des Innenministers wörtlich, ohne die Hohlheit zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht handelt es sich dabei um Selbstschutz: Da ein Zitat bekanntlich auf seinen Schöpfer zurückfällt. So viel Kleinlichkeit bzw. Spitzfindigkeit wird vom normalen Leser allerdings nicht zu erwarten sein.

Umso mehr, als – wiederum die Welt – aus der Pressemitteilung des BKA  mehrfach eine sehr missverständliche Formulierung wörtlich abgeschrieben hat. „Bei den durch die Täter kriminell erlangten Vermögenswerten konnten über eine Milliarde Euro FESTgestellt werden.“ Was für einen eiligen Leser den Eindruck erwecken kann, als sei über eine Milliarde Euro SICHERgestellt, also „abgeschöpft“ worden. Doch davon können BKA und Minister Seehofer allenfalls träumen.

Und so sieht es tatsächlich aus

Die vom BKA festgestellten Schadenssummen sind – in jedem Jahr – nur ein Bruchteil des tatsächlich durch OK verursachten Gesamtschadens. Doch selbst im Verhältnis zum (zu gering ausgewiesenen) Gesamtschaden ist der abgeschöpfte Betrag von 114 Mio Euro im Jahr 2020 nur ein magerer Anteil von 12%.

Vermögensabschöpfung setzt ein Gerichtsverfahren voraus

Das liegt – zum einen – an notwendigen rechtlichen Hürden: Die Vermögenseinziehung ist im Strafgesetzbuch in den Paragraphen 73ff geregelt: Sie wird von einem Gericht angeordnet. Das setzt voraus, dass es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kommt. Was nur für einen Bruchteil der potenziell OK-relevanten Sachverhalte überhaupt geschieht – siehe oben: Mangel an OK-Ermittlern.

Die im Berichtsjahr ausgewiesene Summe der eingezogenen Werte betrifft auch nicht zwangsläufig die OK-Verfahren, die im gleichen Berichtsjahr von der Polizei bearbeitet werden. Die 114 Mio Euro aus der Statistik für 2020 beziehen sich also auch auf irgendwelche Verfahren in der Vergangenheit.

Vermögensabschöpfung setzt Finanzermittlungen voraus

Die Strafverfolgungsbehörden haben im begründeten Einzelfall die Möglichkeit, einen VermögensARREST schon im laufenden Ermittlungsverfahren zu vollziehen. Sie können dazu in eine bewegliche Sache, in eine Forderung, in Immobilien oder ein anderes Vermögensrecht pfänden. Der Vermögensarrest wird gemäß § 111j Abs. 1 StPO grundsätzlich durch ein Gericht angeordnet. Bei Gefahr in Verzug kann die Anordnung aber auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgen.

Beides setzt voraus, dass Finanzermittlungen vorausgegangen sind, um pfändbare Vermögensbestandteile und die Eigentumsverhältnisse daran überhaupt aufzuspüren. Und gegenüber dem Richter oder Staatsanwalt die Notwendigkeit zu begründen. Dazu braucht Polizei qualifizierte Ermittler. Wenn die jedoch nicht verfügbar sind, ist auch beim Vermögensarrest kein Stich zu machen für die Strafverfolger.

Notwendige Zwischenbemerkung zum Modus Operandi des BKA: Mit Füllmaterial über inhaltliche Leere hinwegtäuschen

Zwischendurch möchte ich Sie auf einen Modus Operandi aufmerksam machen, der an den Bundeslagebildern für viele Deliktsbereiche aus dem Hause BKA auffällt: Die werden offensichtlich erstellt von einem speziellen Typ von Buchhaltern, deren Hauptaufgabe darin besteht, Füllstoff zusammen zu tragen, der nach „viel“ aussieht, aber gleichzeitig möglichst wenig Content enthält.

Möglichst wenig preiszugeben, ist ja eine Eigenschaft, die die Informationen quer durch alle Deliktsbereiche betrifft und sowohl der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Bundesinnenministerium, als auch dem Bundeskriminalamt gemeinsam ist. Ich unterstelle nicht, dass kompetente und fundierte Analysen und Bewertungen im BMI oder beim BKA nicht vorhanden sind. Sie gehen aber, nach der dort vorherrschenden Einstellung, den normalen Bürger und die Medien nichts an. Entweder, weil dies (so die Standardbegründungen) die Ermittlungen gefährdet oder gar das Staatswohl. Aus diesem Grund ist es erkennbare strategische Vorgabe an das BKA, entsprechend viel Füllmaterial zu generieren, um damit viele Seiten zu bepflastern, ohne dabei relevante oder belastbare Aussagen zu machen.

Diese Strategie zeigt sich im aktuellen Bundeslagebild OK 2020 an folgenden Beispielen: Von den 62 Nettoseiten im Bundeslagebild OK 2020

  1. sind mehr als ein Drittel belegt von großen, inhaltlich simplen Balkendiagrammen.
  2. Nach einer Seite mit den Wappen aller beteiligten Behörden,
  3. folgen Tabellen, in denen z.B. die Zahl der OK-Verfahren für jedes der 16 Bundesländer ausgewiesen ist, die von Land, Bund, BKA, Bundespolizei oder Zoll geführt werden.
  4. Oder Balkendiagramme, die die Entwicklung von OK-Verfahren, der Zahl der Tatverdächtigen, der Schadenssummen, geschätzten Gewinne und abgeschöpften Vermögensbeträge jeweils im Zehnjahreszeitraum zeigen.
  5. Wenn das noch nicht genug Füllstoff ist, wird aufgefüllt, z.B. auf Seite 26, mit fundamental „wichtigen“ Aussagen:
    • Denen man entnehmen könnte, dass das einzige Verfahren, das in Baden-Württemberg überhaupt im Bereich der Clankriminalität geführt wurde, eine arabisch-stämmige OK-Gruppierung betrifft (was ja an sich nicht unbedingt überraschend ist …)
    • Während in der Hansestadt Bremen zwei Clans polizeilich bearbeitet wurden, von denen je einer Mhallamiye und der andere türkeistämmig waren (man hätte es sich denken können …).
    • In Hessen und Rheinland-Pfalz war dagegen der jeweils einzige, polizeilich bearbeitete Landesclan von woanders.
  6. Und noch ein letztes Beispiel: Die Übersicht ab Seite 54 der festgestellten Nationalitäten aus denen OK-Gruppierungen bzw. Tatverdächtige stammen: Drei DIN A4-Seiten werden verbraucht für 91 Zeilen einer Tabelle: 40 Länder in dieser Tabelle haben nicht eine einzige dominierende OK-Gruppierung hervorgebracht, in weiteren 28 Ländern stammen 1, 2 oder 3 Tatverdächtige aus dem jeweiligen Land. Erkenntnisgewinn für den Leser?! Null!

Das sind Mitteilungen ganz im Sinne der Buchhalter-Verfasser, die deren Zweck erfüllen: Sie belegen viel Platz und sagen nichts aus über die tatsächliche „Lage der Organisierten Kriminalität“ in Deutschland.

Falschinformation #4: OK ist (angeblich) ein von Zuwanderern mitverursachtes Problem

Das Wort „Zuwanderer“ ist ein beim BKA mit eigener Definition besetzter Begriff für Asylbewerber, Asylberechtigte, Schutzberechtigte, Kontingentflüchtlinge, Geduldete Duldung oder Personen ohne Duldung oder sonstigen Asylrechtsstatus (unerlaubter Aufenthalt).

Dem Thema hat man besondere Aufmerksamkeit und gleichermaßen akribische Sorgfalt gewidmet: Gleich zwanzig Mal kommt der Begriff im Bundeslagebild OK 2020 vor. Wir lernen auf Seite 29ff, dass alle [6529] OK-Tatverdächtigen ab 2020 verpflichtend zu klassifizieren waren als Zuwanderer oder eben kein Zuwanderer.
Um dieses Kriterium einzuführen, mussten die [3733] nicht-deutschen Tatverdächtigen einzeln im Ausländerzentralregister überprüft werden. (Die Begeisterung über diese unproduktive Fleißarbeit bei den zuliefernden Polizeibehörden kann ich mir lebhaft vorstellen!) Doch das BKA bekam seine tatverdächtigen Zuwanderer, nämlich 890 Individuen, von denen – Stand 2020 – 18,7% den Status unerlaubter Aufenthalt hatten; die restlichen 81,3 % laut AZR entweder asylberechtigt, im Asylverfahren, geduldet oder Kontingentflüchtlinge waren. 71% aller tatverdächtigen Zuwanderer sind entweder beim Rauschgifthandel- bzw. -schmuggel aufgefallen (54,2) oder bei der Schleusungskriminalität (17,0%). Die meisten waren schon vor 2016 eingereist.

Was die Medien daraus gemacht haben

Die so angebotene Rübe wurde von einschlägig eingestellten Adressaten prompt aufgegriffen: Am 8. November 2021 brachte die TZ, eine Publikation aus dem Ippen-Verlag, der unter anderem auch den Münchener Merkur herausgibt, einen Artikel unter der reißerischen Überschrift „Extremer Anstieg: Zuwanderer öfter an Organisierter Kriminalität beteiligt“. Der Anteil der Zuwanderer habe sich von 2019 auf 2020 unter den Tatverdächtigen der OK „fast verdoppelt“. Das zeige ein Bericht des BKA. Tatsächlich waren es 2019 505 und 2020 890 TV.

Auch der einschlägig auffällige Gewerkschaftslautsprecher Wendt biss kräftig in die dargebrachte Rübe: Er sah sogleich „Politiker, die Zuwanderung fördern“ in der Verantwortung. Denn: „Die Aufnahme von Zuwanderern führt zu riesigem Wachstum von OK-Straftaten in Deutschland.“

Und so sieht es tatsächlich aus

Die internationale Bezeichnung für den deutschen Begriff „Organisierte Kriminalität“ lautet TOC – transnational organized crime. Es liegt also in der Natur solcher Gruppierungen, dass Deutsche UND ggf. auch Ausländer dort aktiv sein können.

Apropos Deutsche: Ein Drittel der 594 OK-Gruppierungen sind deutsch dominiert, fast zwei Drittel von denen arbeiten international. 39% aller Tatverdächtigen in 2020 waren Deutsche.

Europol hält die Nationalität und Ethnizität für ein nur bedingt geeignetes Merkmal und schreibt dazu:

„Nationalität, Ethnizität, Aktivität, Struktur oder andere beschreibende Indikatoren werden oft genutzt, um OK-Gruppierungen zu klassifizieren. Solche Ansätze sind allerdings häufig eine nicht zutreffende Einschränkung und geben nicht zwangsläufig das hervorstechendste Merkmal der jeweiligen Gruppierung wieder. Es kann in manchen Fällen sinnvoll für eine Ermittlung sein, OK-Gruppierungen nach ihrer Nationalität oder Ethnizität zu gruppieren, da beides wichtige Kriterien in der transnationalen Zusammenarbeit sein können. Allerdings fehlt es bei dieser Klassifizierung häufig an den notwendigen Nuancen.“

Falschinformation #5: Seehofer verbreitet leere Ankündigungen

Ist es Hilfslosigkeit? Schiere Verzweiflung? Oder krasse Inkompetenz? Wenn sich der Bundesinnenminister Seehofer vor die Presse stellt und verkündet: „Kriminalität darf sich für niemanden mehr lohnen!“ Wir dulden keine rechtsfreien Räume, …“
Mich erinnert das an den kleinen Liliput, der dem Giganten Goliath droht: „Warte nur, morgen mache ich Dich fertig!“

Im so genannten Bundeslagebild kommen Analysen und Bewertungen kaum vor und beherrschen Gemeinplätze das Bild:

  • „Die kriminell erwirtschafteten Erträge in Höhe von 1 Mrd Euro zeigen die enormen Gewinnmöglichkeiten und den wesentlichen Anreiz der OK-Gruppierungen für ihre Taten auf.“ Potzblitz, das ist eine Überraschung! OK ist durch Aussicht auf Profit motiviert!
  • „In den meisten der in Deutschland geführten OK-Ermittlungsverfahren wurde eine internationale Tatbegehung … festgestellt.“ Das könnte der Grund sein, warum auch die EU und die UN von TOC = „Transnational organized crime“ sprechen.
  • „Daraus erwächst die Gefahr, dass Gruppierungen … zunehmend flexibel auf geänderte Rahmenbedingungen reagieren ….“ Dynamisch und flexibel sind die auch noch: Welch ein Ärgernis für die Ermittler!

Die Grenze zur Schönfärberei ist endgültig überschritten bei dem, was das Bundeslagebild OK zu den Themen Geldwäsche und Korruption sagt bzw. NICHT sagt: Denn beide Phänomenbereiche sind auf das Engste verflochten mit Organisierter Kriminalität:

Zur Geldwäsche

Bei immerhin 245 OK-Verfahren (=41%) wurden Geldwäscheaktivitäten „zur Verschleierung der Herkunft kriminelle erwirtschafteter Vermögenswerte festgestellt„. Bei weiteren 158 Verfahren wurden konkrete Ermittlungen wegen des Verdachts der Geldwäsche (nach §261 StGB) geführt. 68% aller OK-Verfahren aus 2020 haben Bezüge zu Geldwäsche. Doch was dabei herausgekommen ist, bleibt im Dunkeln.

In der Gesamtbewertung heißt es dazu:

„Neben den hauptsächlich im Deliktsbereich Geldwäsche aktiven [12] OK-Gruppierungen ist festzustellen, dass zunehmend auch weitere OK-Gruppierungen eigene Geldwäscheaktivitäten entfalten. Das könnte (sic!) u.a. auf die hohe Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland und damit einhergehende Möglichkeit für OK-Gruppierungen, ihr kriminell erwirtschaftetes Vermögen durch die Re-Investition in den legalen Wirtschaftskreislauf zu verschleiern, hinweisen.“

Es KÖNNTE allerdings auch daran liegen, dass Deutschland ein Geldwäscheparadies ist. Das sagt jedenfalls (neben vielen anderen) Roberto Scarpinato, der leitende Oberstaatsanwalt der Anti-Mafia-Direktion in Palermo: Der sich nur noch wundert, warum Deutschland nicht stärker gegen die organisierte Kriminalität vorgeht. Die Kriminellen können hier nahezu problemlos ihr illegal erworbenes Geld investieren, insbesondere in Immobilien und Restaurants. Die Mafia könne Deutschland angreifen, wie den Norden Italiens …

Siehe dazu auch: Geldwäsche: Löcherige Gesetze, mangelhafte Kontrolle. Der Immobilienmarkt in Deutschland profitiert von den Geldwäscheaktivitäten krimineller Organisationen…. Kontrollen gibt es kaum, europäische Geldwäschevorschriften werden nur schleppend umgesetzt.

Organisierte Kriminalität als alternativer Geldgeber für klamme Unternehmen. Seit der Corona-Epidemie besteht auch das Risiko, dass sich OK als „alternativer Geldgeber“ an klammen Unternehmen beteiligt und damit illegal erworbenes Geld „wäscht“.

Geldwäsche“bekämpfung“ auf bundesrepublikanische Art. Darin u.a.: Die Bundesregierung zittert vor der in 2020 anstehenden Vor-Ort-Überprüfung der Financial Action Task Force (FATF). Die ist „dank“ Corona auf November 2021 verschoben. Es trifft sich günstig, dass seit Juli 2021 Dr. Marcus Pleyer, ein Ministerialdirigent aus dem Bundesfinanzministerium, das Amt des Präsidenten der Financial Action Task Force (FATF) innehat.

Zur Korruption

Im Jahr 2020 wurde in ganzen vier Verfahren mit OK-Bezug auch Ermittlungen wegen Korruption geführt und zwar wegen der „Einflussnahme auf Amtsträger“ (im Gesundheitswesen). Und auch die fielen wohl nur deshalb auf, weil dabei die Nutzung von Encrochat, ein (von Europol infiltrierter und inzwischen eingestellter Messengerdienst mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und entsprechend ausgerüsteten Mobiltelefonen) verwendet wurde. Drei der vier Korruptions-Verfahren dauerten 2020 bereits länger als drei Jahren an.

Europol sagt in seinem OK-Jahresbericht für 2021, dass „fast 60 % der kriminellen Gruppierungen sich auch im Bereich der Korruption betätigen“. Deutschland ist in dieser Hinsicht also entweder die Insel der Glückseligen. Oder die Korruptionsermittlungen in Deutschland sind krass vernachlässigt: Denn ausgehend von den 594 vom BKA festgestellten OK-Verfahren müsste bei rund 350 auch Korruption angenommen – und ermittelt – werden.

Was die Medien daraus machten? Nichts!

Und so sieht es bei Geldwäsche und Korruption tatsächlich aus

Europol sagt dazu in seinem OK-Jahresbericht für 2021 zur Geldwäsche:

„Der Umfang der Komplexität der Geldwäsche-Aktivitäten in der EU wurde bisher unterschätzt. Schwere und organisierte Kriminalität in der EU stützen sich ganz wesentlich auf die Möglichkeit, ungeheure Mengen von kriminell errungenen Gewinnen zu waschen. Zu diesem Zweck haben professionelle Geldwäscher ein paralleles Untergrundfinanzsystem errichtet, um Transaktionen und Zahlungen isoliert von jedem Kontrollmechanismus, wie es im legalen Finanzsystem eingeführt ist, durchführen zu können. Dieses Parallelsystem stellt sicher, dass die Erlöse aus Kriminalität als Teil der ausgeklügelten kriminellen Wirtschaft nicht verfolgt werden können.“

Und im gleichen Dokument erfährt man zu Korruption:

„Korruption ist das herausragende Merkmal der meisten, wenn nicht von allen, kriminellen Aktivitäten in der EU. Korruption findet auf allen Ebenen der Gesellschaft statt; sie reicht von trivialer Bestechung bis hin zu komplexen, Multi Millionen Euro umfassenden Korruptionsschemata. Korruption erodiert die Rechtsstaatlichkeit, schwächt die staatlichen Institutionen und behindert die wirtschaftliche Entwicklung. Korruption ist ein Schlüsselelement der Bedrohung und muss als solche adressiert werden. Fast 60 % der OK-Gruppierungen betätigen sich auch im Bereich der Korruption.“

Europol: European Union Serious and Organized Crime Threat Assessment 2021

Europol: European Union Serious and Organized Crime Threat Assessment 2021

Fazit

  1. OK wird von der deutschen Polizei, allen voran vom Bundeskriminalamt, vor allem gezählt, verbucht und verwaltet. Eine effektive Ermittlung der aktuellen Phänomene der organisierten Kriminalität findet nicht statt. Dazu ist weder Personal, noch der politische Wille vorhanden.
  2. Die so genannten Leitmedien, egal ob Presse oder Öffentlich-Rechtliche sind ein Totalausfall als Kontrollinstanz. Statt kritischer Berichterstattung geben sie brav-ergeben wieder, was ihnen der Bundesinnenminister und das BKA an Falschinformationen diktieren. Eigene Recherchen finden nicht statt: Gutgläubig und nach dem Motto: „Es wird schon stimmen, was diese Quellen behaupten.“

Das ist die Alternative A für eine Erklärung: Eine gefährliche Mischung aus Falschinformation von offizieller Seite, Ignoranz und Inkompetenz!

Die Alternative B sieht noch schlimmer aus. Werfen Sie dazu einen Blick auf die in Deutschland verwendete Definition, was Organisierte Kriminalität eigentlich ist:

 

Folgt man dieser Definition, so befördert die Minimalaktivität der Polizeibehörden und insbesondere des BKA [b] bei OK- und Finanzermittlungen, Geldwäsche- und Korruptionsbekämpfung die weitere Ausbreitung dieser Phänomene in Deutschland.

Ist das wirklich „nur“ eine Folge von Ignoranz und Inkompetenz? Oder ist – siehe Variante c – die Einflussnahme von OK auf Politik und Medien, und daneben auf öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft schon weiter gediehen als den meisten von uns allen lieb ist?

Fußnoten

[a]   Kriminelle Erträge sind „Vermögenswerte, die Täter/-innen, Teilnehmer/-innen der Tat oder dritte Personen aus oder für die Tat erlangt haben.“ [120-126, Seite 11] Sie werden nach dem Bruttoprinzip berechnet, d.h. Kosten werden nicht abgezogen. Nähere Erläuterung auf dieser Webseite

[b]   Das Bundeskriminalamt ist nach §4 des neuen BKA-Gesetzes auch für die Strafverfolgung bei international organisierter Geldwäsche und international organisierten Straftaten zuständig.

 

Der Artikel von Annette Brückner ist zuerst auf Police IT erschienen.

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