Essen Sie individuell!

Bild: Domokus/Pixabay.com

Ernährungsregeln sind passé

 

 – 2021: Paradigmenwechsel in der Ernährungswissenschaft

– Personalisierte Ernährung im Fokus der Forschung:

– Führende Journals publizieren zu “precision nutrition” (1,2,3)

– Individuelle Ernährung is(s)t die Zukunft

– Die Epoche allgemeiner Ernährungsregeln neigt sich dem Ende

– Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel ist Unsinn (4)

Seit Jahren mehren sich kritische Stimmen in der Ernährungswissenschaft, die eine strikte Abkehr vom Dogma “Gesunde Ernährung als allgemeingültige Pauschalempfehlung für alle Menschen” fordern – zum einem aus dem einfachen Grund, weil die wissenschaftliche Evidenz für Ernährungsregeln von der Stange fehlt. Und zum anderen, weil immer mehr Forschungsergebnisse belegen, wie individuell stark unterschiedlich die Menschen auf die gleichen Mahlzeiten und Lebensmittel reagieren (2,5,6,7).

Der daraus resultierende Paradigmenwechsel hin zur personalisierten Ernährung spiegelt sich inzwischen auch in führenden wissenschaftlichen Journals wie JAMA (1) wider: “Die moderne Sichtweise von Lebensmitteln und Medizin hat zu einer erheblichen Verschiebung in der Ernährungsforschung und -praxis geführt, hin zu precision nutrition*” – also zur individuellen Ernährung des Einzelnen. Für die JAMA-Autoren ist diese Form der “präzisen Ernährung” die Antwort auf: “Was man essen muss, um gesund zu bleiben.”

Jeder Mensch is(s)t anders

Der Leiter der deutschen Fastenakademie, Andrea C. Chiappa begrüßt diese Entwicklung: “Aus Forschung und Praxis zum Fasten und Intervallfasten wissen wir schon lange, dass sowohl aufgrund des inter-individuellen Stoffwechsels als auch des chronobiologischen Typs nur eine persönlich-passende Ernährung zu mehr Gesundheit und `Zellfitness´ führt.” Gemeinsam mit Kollegen aus der Ernährungswissenschaft und des intuitiven Essens plädiert er daher für den neuen Essstil des “intuitiven Intervallfastens”, bei dem die individuellen Bedürfnisse und Eigenschaften der Menschen im Fokus stehen.

Gesünderes Essen ist auch für 2021 der Top-Neujahrsvorsatz der Deutschen. Fast ein Drittel der Befragten möchte sich künftig besser ernähren (8). Wollen wir hoffen, dass sie den richtigen Weg einschlagen: ihren eigenen, ganz individuellen. Es gibt so viele gesunde Ernährungen, wie es Menschen gibt, denn: Jeder Mensch is(s)t anders.

Genauso wie es keine gesunden Lebensmittel (4) für alle gibt, weil Beweise fehlen und die elementar wichtigen “3V” – Verdauung, Verwertung und Verträglichkeit – immer individuell unterschiedlich sind, genauso wenig reagieren alle Menschen gleich auf das gleiche Essen. Denn auch hier zeigt sich immer wieder: Die Reaktionen des Körpers sind komplett unterschiedlich – das ergab beispielsweise eine umfangreiche Arbeit im renommierten Fachjournal Nature Medicine (2). Wissenschaftler des King’s College in London untersuchten dazu mehr als 1.100 Erwachsene aus Großbritannien und den USA, darunter mehrere hundert Zwillingspaare. Als Zielparameter wurden die Ausschüttung des “Zuckerhormons” Insulin und der Anstieg der Blutzucker- und Fettwerte Reaktion auf genau definierte, für alle identische Mahlzeiten gemessen und dokumentiert.

Identische Mahlzeiten – unterschiedliche Reaktionen

Dabei zeigte sich: Die individuelle Stoffwechselreaktion der Menschen auf die gleichen Mahlzeiten ist oft sehr verschieden. Konkret konstatieren die Wissenschaftler:

“Wir beobachteten eine große individuelle Variabilität zwischen den einzelnen Teilnehmern bei den körperlichen Stoffwechselreaktionen nach dem Essen bezogen auf Blutfette, -Zucker (Glukose) und dem Hormon Insulin nach identischen Mahlzeiten.”

So lautet das Londoner Forscherfazit, klar und deutlich: “Es ist zunehmend offensichtlich, dass allgemeine Ernährungsempfehlungen nicht für alle geeignet sind.” Und weiter:

“Diese Studie ist die bis dato umfassendste Bewertung der metabolischen (Stoffwechsel) Reaktionen auf identische Mahlzeiten in einem strengen, gut überwachten Studiendesign. Aufgrund der erheblichen inter-individuellen Unterschiede bei den Stoffwechselreaktionen auf dieselben Mahlzeiten, sind standardisierte Ernährungsempfehlungen, die für alle gelten, in Frage zu stellen. Diese Ergebnisse bedeuten, dass personalisierte Ernährung zur Vorbeugung von Krankheiten Potenzial haben könnte.”

Individueller Stoffwechsel – bereits bekannt …

So neu und überraschend die vorgenannten Erkenntnisse vielleicht auch klingen mögen – die individuellen Stoffwechselreaktionen auf vergleichbare Mahlzeiten sind seit langem bekannt und benannt. So bestätigt das neue Paper die Erkenntnisse einer umfangreichen israelischen Studie des Weizmann-Instituts für Wissenschaften, die bereits 2015 im Fachjournal Cell (5) publiziert wurden. Der israelische Studienleiter Prof. Eran Elinav, Weizmann Institute of Science in Israel, konstatierte: “Wir hatten gleichzeitig etwas sehr Interessantes, aber auch Beunruhigendes gelernt: dass das Paradigma der gesunden Ernährung grundlegend falsch ist.” (9)

Auch weitere aktuelle Untersuchungen lieferten 2020 vergleichbare Ergebnisse. (6,7) “Wir stellen fest, dass Menschen unterschiedlich auf die Ernährung reagieren”, sagte eine der Studienleiterinnen, Prof. Isabel Garcia-Perez vom Imperial College in London. (9)

Präzionsernährung – Konzept der Zukunft

Ein Grundsatzpaper (3), das Anfang 2021 erscheint, stellt klar: “Die Theorie hinter der Personalisierung der Ernährung wird durch mehrere Faktoren gestützt, darunter Fortschritte in der Lebensmittelanalyse, ernährungsbedingte Krankheiten und Programme im Bereich der öffentlichen Gesundheit, der zunehmende Einsatz von Informationstechnologie in der Ernährungswissenschaft und das Konzept der Gen-Diät-Interaktion.” Prof. Yiannis Mavrommatis, der die Forschungsgruppe für Ernährung und Genetik an der St Mary’s University in London leitet, erklärt: “Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass ein Einheitskonzept nicht für alle Menschen funktioniert. Der logische Schluss ist personalisierte Ernährung.” (9)

Ende Mai 2020 verkündeten auch die US-NIH*: In den nächsten zehn Jahren habe die Präzisionsernährung Priorität, mit dem Ziel, “die Ernährungswissenschaft fundamental zu verändern”. (9) Noch steht die personalisierte Ernährung am Anfang. Doch die enormen individuellen Unterschiede, dass und wie unterschiedlich wir Menschen auf gleiche Lebensmittel reagieren, werden immer deutlicher. (10)

Paradigmenwechsel schreitet voran

Für evidenzfokussierte Ernährungswissenschaftler, die sich auf Basis zahlreicher Studien bereits seit mehreren Jahrzehnten für die individuell-intuitive Ernährung engagieren, ist klar: Der Paradigmenwechsel in der Ökotrophologie hat begonnen und er schreitet unaufhaltsam voran – die Epoche der allgemeinen Ernährungsregeln ist vorbei.

US-National Institutes of Health (NHI) zu precision nutrition:

Die Wissenschaft der “Präzisionsernährung” ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Entwicklung umfassender und dynamischer Ernährungsempfehlungen, die sowohl für die Gesundheit des Einzelnen als auch für die Gesundheit der Bevölkerung relevant sind. (NHI-Workshop im Januar 2021)

 

QUELLEN:

1 Rogers G Collins F (2020) Precision Nutrition—the Answer to “What to Eat to Stay Healthy”. JAMA. 2020;324(8):735-736. doi:10.1001/jama.2020.13601

2 Berry et al. (2020) Human postprandial responses to food and potential for precision nutrition. Nat Med 26, 964–973 (2020). https://doi.org/10.1038/s41591-020-0934-0

3 Chaudhary et al. Personalized Nutrition and –Omics. Comprehensive Foodomics. 2021: 495–507. Published online 2020 Nov 12. doi: 10.1016/B978-0-08-100596-5.22880-1

4 Knop U (2019) Dein Körpernavigator zum besten Essen aller Zeiten, Polarise-Verlag, Heidelberg (Statements der 7 großen DACH-Ernährungsinstitutionen DGE; SGE; ÖGE, DIfE, BZfE. VDÖ, VEÖ)

5 Zeevi et al. (2015) Personalized Nutrition by Prediction of Glycemic Responses. Cell. Volume 163, Issue 5, 1079-1094, November 19, 2015. DOI:https://doi.org/10.1016/j.cell.2015.11.001

6 Leshem et al. The Gut Microbiome and Individual-Specific Responses to Diet. mSystems. 2020 Sep 29;5(5):e00665-20. doi: 10.1128/mSystems.00665-20.

7 Garcia-Perez et al. Dietary metabotype modelling predicts individual responses to dietary interventions. Nature Food | VOL 1 | June 2020 | 355–364

8 Meya L (2021) Top-Neujahrsvorsätze: Bessere Ernährung und mehr Sport. MDR

9 Lawton G (2020) Die eine perfekte Ernährung für alle gibt es nicht. Spektrum der Wissenschaft

10 Russo S (2020) Ernährungsforschung – Woran Ernährungsstudien scheitern. HIGGS (CH)

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