„Erst mit der Installierung einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft wird der Einzelne zum Schmied seines Glückes“

Bild: Geralt/Pixabay.com

Die neue Edition Endzeit will zu destruktiver Kritik ermuntern. Wird jetzt den Menschen in der Not der schweren Zeiten auch noch der letzte Halt geraubt? Ein Interview mit der Herausgeberin Claudia Reuther.

Der Ulmer Verlag Klemm + Oelschläger, der auf Fragen der (außerschulischen) Bildung spezialisiert ist, hat im November 2021 mit dem Buch „Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage“ eine neue Schriftenreihe gestartet. Sie heißt Edition Endzeit und wird von den beiden Pädagogen Jürgen Hoßdorf und Claudia Reuther herausgegeben. Schwerpunkte der Reihe sollen kritische Beiträge zu politischer Kultur, Pädagogik und Philosophie sein. Die Edition will dabei, so heißt es in der Ankündigung, „dem allgemeinen Krisen- und Katastrophenbewusstsein mit einer entschiedenen Ermunterung zu destruktiver Kritik entgegen treten“.

Hoßdorf, der als Autor die erste Veröffentlichung verantwortet, hat Telepolis ein Interview  zu der Frage gegeben: Wollen Sie den Menschen auch noch den letzten Halt rauben? Im Folgenden ein Gespräch mit der Ko-Herausgeberin Claudia Reuther zu den destruktiven Absichten der  Schriftenreihe.

Die Sinnsuche – ein Selbstbetrug?

Ihre Reihe greift mit ihrer ersten Veröffentlichung ein populäres Anliegen auf – die Suche nach dem Sinn des Lebens – und stellt sich damit, wie es im Telepolis-Gespräch mit dem Autor Hoßdorf heißt, gegen ein allgemein verbreitetes Bedürfnis, begibt sich also in eine krasse Außenseiterposition. Ist das das Programm Ihrer Reihe? Den Common Sense angreifen und Menschen, die Lebensziele brauchen, suchen oder gefunden haben, den letzten Halt rauben?

Claudia Reuther: Hoßdorf bezieht ja klare Position. In der Tat, er will einen Halt destruieren, der letztlich nichts anderes ist als eine ideologische Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse. Das natürlich nicht, um den Menschen das Aushalten der sinnlosen Verhältnisse anzuraten – wie es sich etwa bei Camus oder ähnlichen Vertretern des Absurden in der philosophischen Tradition findet. Diese philosophischen Kunststücke bzw. die Kritik daran bilden ja einen Schwerpunkt der Publikation. Hoßdorf will über einen seltsamen Bedarf aufklären, den mündige Menschen in der heutigen „Wissensgesellschaft“ verspüren: nämlich sich einem höheren Zweck zu unterstellen.

Was ist daran seltsam? Nach einer sinnvollen Existenz zu suchen ist doch für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit.

Claudia Reuther: Das Widersprüchliche an diesem Vorhaben ist: Ich mache mir selber den höheren Gesichtspunkt, der mich und mein Leben dann regiert – die moderne Psychotherapie fordert ja dezidiert dazu auf, sich einen ganz eigenen Sinn zu konstruieren. Hoßdorf spricht daher gleich auf den ersten Seiten seines Buchs von einer Art Selbstbetrug. Das mag viele Leser provozieren, aber es entspricht ja der sachlichen Logik dieses Münchhausentricks, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf des „kontingenten“ Daseins (wie es auf Philosophisch heißt) zu ziehen. Die Sache wird dann auch in der Publikation ausführlich erklärt.

Könnte man nicht gelten lassen, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Art des Hinterfragens der gegebenen Verhältnisse ist? Wer so fragt, findet sich ja nicht einfach ab mit dem, was ihm vorgesetzt wird, was der Fall ist. Kritische Theoretiker wie Adorno haben das auch als emanzipatorisches Moment der philosophischen Tradition festgehalten. Nachfragen stellen ist doch etwas anderes als mit trostreichen Gründen (wie man es aus der metaphysischen oder religiösen Abteilung kennt) den Menschen ihren Platz im Universum anzuweisen und den Schluss der Debatte zu dekretieren?

Claudia Reuther: Hoßdorf weist nach: Die Frage ist keine unschuldige Wortmeldung, die sich nach irgendetwas erkundigt. Sie zu stellen, so die Grundthese der Streitschrift, heißt, einen Bedarf danach zu verspüren und damit schon die Antwort zu kennen, nämlich sich sicher zu sein, dass der Daseinskampf in der globalisierten Marktwirtschaft von sich aus keine sinnvolle Perspektive enthält, warum man ihn führt. Das ist der entscheidende Punkt: Man verlangt nach etwas Höherem oder Tieferem, damit man einen guten Grund hat, seine Anstrengungen aufrechtzuerhalten. Wenn es das nicht gäbe, so die bekannte Klage, wäre ja alles sinnlos.

Das ist das Erste, was wir mit der Publikation klar zu machen versuchen. Zweitens: Die betreffende Frage bzw. Suche verweist auf bestimmte soziale Verhältnisse, in ihnen bilden die Versuche, das eigene Dasein zu behaupten, für viele Menschen eine einzige Kette von Enttäuschungen – natürlich bei aller sozialen Ausdifferenzierung, wie sie eine Klassengesellschaft so mit sich bringt. Hoßdorfs Kritik interessiert sich für die Lebenslage, in der ein solcher Bedarf aufkommt oder sich sogar als eine unabweisbare Notwendigkeit aufdrängt.

„Sinn und Sittlichkeit“ nimmt sich philosophische Rechtfertigungen dieses Bedarfs vor. Neben Adorno und Camus geht es um Günther Anders, Verfasser des seinerzeit vielbeachteten Werks über die „Antiquiertheit des Menschen“, dann um den Suhrkamp-Bestseller-Autor Wilhelm Schmid und um den bekannten Psychotherapeuten Viktor E. Frankl. Das sind sozusagen Positionen aus dem „Spätkapitalismus“. Aber wenn man sich allein die philosophisch-weltanschauliche Tradition des Abendlands ansieht, kann man diesen Bedarf doch nicht dem Kapitalismus in die Schuhe schieben. Ist das nicht gerade etwas Allgemeinmenschliches, verschiedene Epochen Übergreifendes?

Claudia Reuther: Ja, so wird es immer dargestellt. Hoßdorfs Analyse geht darauf ein, er hat dazu auch im Telepolis-Interview Stellung genommen. Wichtig ist, dass erst mit der Installierung einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft der Einzelne zum Schmied seines Glückes wird. Jetzt ist er berechtigt, aber auch gehalten, sich seinen ganz persönlichen Reim auf die bestehenden Verhältnisse zu machen. „Mach aus Dir, was in Dir steckt“ – so heißt die offizielle Losung der europäischen Bildungspolitik, die seit Ende des 20. Jahrhunderts das Lebenslange Lernen, die Flexibilität des Arbeitnehmers und andere moderne Kompetenzen propagiert.

Das ist ja die zentrale Message in der globalisierten Marktwirtschaft: Die Welt ist voller Chancen, man muss sie nur ergreifen. Wer den Erfolgsweg verpasst, hat sich als Erstes daraufhin zu befragen, wo und warum er etwas falsch gemacht hat. Dann muss er für sich die Kraft finden, weiter zu machen und sich nicht aufzugeben. In diese Abteilung gehört das Bedürfnis nach Sinn.

Der Untergangsstimmung mit destruktiver Kritik begegnen?

Ihre Edition will dem „allgemeinen Krisen- und Katastrophenbewusstsein mit einer entschiedenen Ermunterung zu destruktiver Kritik“ begegnen. Was ist damit gemeint? Wollen Sie alles noch schwärzer malen, als es die schon zahlreich vorliegenden Untergangsvisionen tun?

Claudia Reuther: In gewisser Weise ja, abwiegeln wollen wir auf keinen Fall. Aber es geht gerade nicht darum, Krisenlagen auszumalen. Mit Visionen haben wir überhaupt nichts am Hut. Wir wollen zu Kritik ermuntern, nicht zu einer Beschwörung eines düsteren Endes, wie es heute bei Öko- oder anderen Katastrophen üblich ist. Die Konsequenz aus solchen Visionen und ihrer Verbreitung ist ja meist saukonstruktiv, etwa in dem Sinne: Das können „die da oben“ – oder wahlweise „wir alle“  – doch nicht wollen! Die Ausmalung von Schreckensbildern lässt sich im Grunde von dem Gedanken leiten, man müsste die Staatenlenker der Welt aufrütteln, damit sie endlich zu ihrer Verantwortung für den Globus zurückfinden. Die Verbreitung des düsteren Szenarios ist in dieser Perspektive schon der halbe Erfolg. Ist es in der Welt, muss nur noch entsprechend gehandelt werden.

Es gab ja schon Zeitschriften für kritische Zeitgenossen, die den Glauben an den Nihilismus verloren haben. Ist so etwas gemeint? Wollen sie ein Sammelpunkt der Hoffnungslosigkeit werden?

Claudia Reuther: Das wäre schön, wenn wir mit der Reihe kritische Beiträge einsammeln könnten. Wie gesagt, nicht um die landläufigen düsteren Visionen zu toppen. Sondern mit Blick darauf, die ganzen idealistischen Konstruktionen, die in den verbreiteten Klagen lauern, zu destruieren. Wir als Herausgeber haben auch schon Ideen für weitere Veröffentlichungen.

Da ich lange als Pädagogin gearbeitet habe, ist bei mir natürlich besonders der Bildungsbetrieb im Visier. Ich kenne verschiedene Felder von Politik/Soziales über Kunstpädagogik bis zur Naturkunde aus meiner Berufstätigkeit. Auch der genannte Punkt Natur spielt ja bei den modernen Anleitungen zur Sinnsuche eine Rolle. Obwohl im 19. Jahrhundert der Fortschritt der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in Gang kam, wird heute z.B. der Evolution oft immer noch ein metaphysischer Sinn untergeschoben, etwa in Form einer zielstrebigen Höherentwicklung des Menschen zur Krone der Schöpfung, zu seiner moralischen Bestimmung etc. (Siehe dazu früher die Auseinandersetzung zwischen Lamarck und Darwin.) Und modern ökologisch gibt es das auch: Mutter Erde als unsere Lehrmeisterin, der wir uns unterzuordnen haben, so dass wir alle im Einklang mit der Natur leben.

Wie gesagt, da gäbe es viele Themen. Wir würden uns natürlich freuen, wenn Leser und Leserinnen mit uns Kontakt aufnehmen, um mit uns über die vorgelegten Argumente zu diskutieren oder Anregungen für weitere Auseinandersetzungen zu geben.

Jürgen Hoßdorf, Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage. Edition Endzeit, Nr. 1, Ulm (Klemm + Oelschläger) 2021, 112 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-86281-168-7. Kontakt zu den Herausgebern: Edition.Ed@t-online.de, zum Verlag: https://www.klemm-oelschlaeger.de/.

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Ein Kommentar

  1. Wer das Bedürfnis hat dem Leben, dem Dasein, der Welt einen Sinn zu entlocken, der entriegelt in der Tat die Tür in die Gedankenwelt der Philosophie und Psychoanalyse. Die Sicht auf das Ganze degradiert die Wirklichkeit auf einen Teilaspekt eines großen Ganzen. Da muss es etwas geben, das ich nicht kenne, aber doch hinter allem steckt. Die Crux dabei: Man wendet sich ab von dem was es gibt und beschäftigt sich mit allerlei gedanklich konstruierten Begrifflichkeiten, deren Realitätsgehalt gleich null ist von denen man aber erwartet das sie Orientierung, Selbstvergewisserung oder eben ein sinnvolles Leben bieten. Ein bißchen bei Heidegger rumblättern gibt eine verblüffend einfache Antwort auf besagte Sinnfrage: Der Sinn des Dasein ist die Zeitlichkeit, kurz der Sinn des Daseins liegt darin, dass es ist (der Tod fährt da übrigens auch mit, aber das ist ein anderes Thema). Fertig. Dieser Dienstbarkeit mal auf den Zahn zu fühlen ist doch angesichts moderner Seinsfragen von der Selbstoptimierung bis zum religiösen Sich-Bescheiden, vom Aushalten, das Spaß machen soll, bis zur Zukunftsperspektive trotz Altersarmut (und was einem da sonst noch so an alltäglichen Drangsalen einfällt) für den mitdenkenden Zeitgenossen allemal interessanter als die Moralhuberei der ziemlich präsenten Sinnstifter mit ihren trostspendenden Angeboten und dem Versprechen, bei Gott, Staat und Mensch ist im Grunde alles paletti.

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