„Eine nie dagewesene Armutswelle“

Bild: Gaby Weber

Treffen der Obdachlosen-Zeitungen in Mailand.

Am Freitag geht in Mailand der viertägige „Global Street Paper Summit“ zu Ende, das internationale Arbeitstreffen der Zeitungen der Wohnungslosen-Zeitungen, organisiert von INSP und finanziert von der katholischen Caritas. Die Delegierten waren aus 25 Ländern angereist, viele aus den USA, Brasilien, Mexiko und Argentinien. Es ging vor allem um den Austausch konkreter Erfahrungen etwa beim Fundraising und Hilfe bei Übersetzungen aus anderen Straßenzeitungen, die von Obdachlosen in U-Bahnen und Plätzen verkauft werden. „Wer unseren Verkäufern eine Zeitung abkauft, gibt kein Almosen“, so der italienische Gastgeber Stefano Lampertico, Koordinator der Zeitung „Scarp de tenis“ (Turnschuhe), „es ist ein Handel auf Augenhöhe. Der Verkäufer arbeitet, und du musst das Blatt lesen.“

Tisch mit Zeitungen
Bild: Gaby Weber

Jahrelang hatten diese Initiativen mit dem Zeitungsverkauf relativen Erfolg. Die Wohnungslosen organisierten sich und nahmen ihr Schicksal nicht mehr als etwas individuell verschuldetes, sondern als politisches Problem wahr. Mit Hilfe sozial engagierter Personen konnten sie einige Forderungen durchsetzen und kamen teilweise aus ihrer prekären Situation heraus. Doch die Corona-Krise hat das alles verändert. Deshalb stand das Mailänder Treffen unter dem Zeichen dieser letzten Katastrophe und der kommenden.

„Der Lockdown war das dramatischste, was wir bisher erlebt haben“, so Sebastian Pütter, Sprecher der deutschsprachigen Straßenzeitungen und Journalist bei „Bodo“, der Zeitung für BOchum und DOrtmund. „Plötzlich mussten alle zu Hause bleiben und unsere Leute auf der Straße blieben komplett unversorgt. Viele leiden unter psychische Krisen. Man hat uns total alleine gelassen“. „Bodo“ organisierte am zweiten Tag des Lockdowns eine Suppenküche mit einigen wenigen privaten Spenden. So retteten sie Menschenleben. Später stellte die Stadt Nothilfen zur Verfügung, Duschen und eine Sammelunterkunft. „Wir stellten ein Zelt auf, denn unsere Leute blieben auch im Winter draußen und der Zeitungsverkauf endete mit dem Lockdown.“

Sebastian Pütter von der Obdachlosen-Zeitung „Bodo“. Bild: Gaby Weber

Noch ist die Corona-Krise nicht vorüber, und schon steht eine neue, zusätzliche Katastrophe bevor: die durch den Ukrainekonflikt und die europäischen Sanktionen verursachte Energiekrise. Noch ist Sommer, aber angesichts bereits gestiegener Strom- und Gaspreise werden viele ihre Heizkosten nicht bezahlen können und ihre Wohnungen verlieren. „Wir machen uns Riesensorgen, fühlen uns nach unten aussortiert“, so Pütter. Die bisherigen Entlastungspakete haben die ganz Armen schlicht übersehen. Der „Bodo“-Journalist drückt sich vorsichtig aus, will mögliche Sponsoren nicht verärgern, aber der Zorn ist groß. Es wird nicht mehr die klassische Klientel von Obdachlosen sein, die zwar in den letzten Jahren stetig gewachsen ist, aber zu der man irgendwie Kontakt hatte. „Da draußen ist eine riesengroße Gruppe, zu der wir wenig Kontakt haben, der Energiesperren und Räumungen drohen. Einige werden sich nur irgendwo aufwärmen wollen, weil sie ihre Rechnungen nicht zahlen können. Andere werden auf der Straße landen und wahrscheinlich von dort nicht mehr wegkommen.“

Auch wenn der italienische Winter milder als der deutsche verläuft, Geldstrafen für Privathaushalte, die über 19 Grad heizen, ist bereits beschlossene Sache. Auch Stefano Lampertico fürchtet „eine nie dagewesene Armutswelle und Arbeitslosigkeit“. Dazu kommen die Flüchtlinge, auch die aus der Ukraine.

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8 Kommentare

  1. Herr Scholz redete vor ein paar Tagen vom Sozialstaat.
    Man sollte ihn fragen, wie er das definiert, Sozialstaat. Ich beobachte seit Jahren eine Umverteilung von unten nach oben….

    1. Nenne mir mal einen Zeitraum in den letzten 200 Jahren, in welchem die Reichen ärmer und die Armen reicher geworden wären.
      (Spoiler: ich wüßte einen?)
      Ansonsten hat sich doch im Wesentlichen nur das Tempo der Umverteilung geändert. Und nachdem die Immobilienbranche vorgemacht hat, wie man Mietern und kleinen Eigenheimkäufern das letzte Hemd auszieht (indem man sich von jeder Regulierung befreit), wollen jetzt andere Branchen (Energie, Nahrungsgüter,…) die Hemden der restlichen Bevölkerung haben. Pech, wer jetzt keins mehr in Reserve hat, Winter können hart werden mit nacktem Oberkörper…
      2021 konnten 15% der Haushalte keine Sparrücklagen bilden, lebten also „von der Hand in den Mund“.
      Andersherum: 85% der Haushalte hatten Geld übrig. ÜBRIG? dachte sich so mancher Finanzexperte – das kann man doch viel besser selbst kassieren, drehen wir mal an der Spekulationsschraube und verknappen ein wenig… die Energie, die Lieferketten, …
      Und für 2023 prognostiziert nun der Sparkassenverband, daß 60% der Haushalte nichts mehr zurücklegen können… man ist auf einem guten Weg….
      [Sarkasmus aus]

    2. Das zuverlässige an sozialer Deprivation in Deutschland ist ihr
      Aufwärtstrend.
      Im (Neo-)Liberalismus bleibt es
      am Ende des Tunnels dunkel.
      Indizien der letzten Jahrzehnte
      weisen darauf hin.
      Warten auf den Heiland, auf den
      echten Staatsmann von Format.
      Er wird alles zum Besten wenden.

  2. Der Winter wird sehr, sehr schwierig. Was jetzt bekannt wird, weil man uns ständig mit der Ukraine belätschert: es sind auch noch jede Menge Flüchtlinge eingetroffen, die auch noch versorgt und untergebracht werden müssen. Ich hoffe, in den Herkunftsländern wird bald bekannt, dass „die fetten Jahre“ in Europa vorbei sind. Mit den gestiegenen Energiepreisen aufgrund der selbstschädigenden Sanktionen und der Inflation schaffen wir das nicht. Wenn wir unsere eigenen Armen jetzt nicht bevorzugen und anständig versorgen ist der soziale Zusammenhalt endgültig weg.

  3. „You never walk alone“ down on the street!

    Scholzens 65 Mrd. Hilfspaket schrumpft ja auch täglich dahin und es bleiben nur seine leeren Versprechen.

    Wie sieht es eigentlich mit den Schimmelpilzen aus, wenn man bei 19°C duschen geht?

    1. Wenn Du bei unter 6°C (in Worten: sechs) duschen gehst, können kaum noch Schimmelpilze wachsen. Dein Kühlschrank macht es vor…?
      Mal sehen, wann die ersten Vermieter davon erfahren ?

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