Ein Ort angefüllter Leere

Ausstellung im Sigmund-Freund-Museum Wien. Bild: Siesta/CC BY-SA-4.0

Das Freud-Museum in Wien.

Die Leere eines Raumes birgt stets die Potentialität seiner Fülle in sich – sowohl die einer Fülle, deren man sich durch Entleerung entledigt hat, als auch die künftiger Anfüllung, durch welche die Raumleere überwunden werden soll. Leere steht immer im dialektischen Verhältnis zur Fülle, zur Entleerung von Fülle wie zur Anfüllung von Leere.

Einen solchen (zudem kriminalisierenden) Bezug stellte Walter Benjamin her, als er über den französischen Photographen Eugène Atget und dessen berühmten Bilder der menschenleeren Straßen von Paris schrieb: „Sehr mit Recht hat man von ihm gesagt, daß er sie aufnahm wie einen Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme geschieht der Indizien wegen.“ Der aktionsleere Straßenraum ist für Benjamin durch die geschehene Untat angefüllt; zwar ist diese nicht mehr sichtbar, muss mithin hinzugedacht werden, aber ebendiesem Hinzugedachten bietet die Leere sich als Indiz an. Das geht Benjamin zufolge über die Einmaligkeit des bestimmten Verbrechens hinaus: „[…] ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort?“, fragt er an anderer Stelle, „nicht jeder ihrer Passanten ein Täter?“

Die positive Antwort auf diese Frage weiß sich einer gesellschaftskritischen Emphase verschwistert, die das Unsichtbare von sozialem Unrecht, kultureller Repression und historischer Leiderfahrung des Menschen im menschengeschaffenen öffentlichen Raum ausmacht, dessen Leere das ideologische Verdrängen von Geschehenem ermöglicht, zugleich aber auch entlarvt.

Im Leeren manifestiert sich das grauenvolle Unheimliche. Aus nämlichem Geiste ist denn Adornos Diktum geboren, welches sich auf die weltgeschichtliche Katastrophe Auschwitz und die Unsichtbarkeit der sie strukturell bewirkenden gesellschaftlichen Bedingungen bezieht: „Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte.“

Was auf die Katastrophe zutreibt, ist im vorwaltenden, sich jedoch durch Unsichtbarkeit der Wahrnehmung entziehenden Bestehenden verankert. Die Raumleere des (historischen) Tatorts ist, so besehen, als Anmahnung zu begreifen, als stumme Aufforderung zum Eingedenken, zur Erinnerung an das, was als Verschwundenes, Vergessenes, mithin als überwunden Geglaubtes in der Leere präsent bleibt.

Manifestation einer offenen Wunde

Das Wiener Freud-Museum ist ein Ort angefüllter, gerade darin aber fühlbarer Leere. Zur Leere verdammt wurde es durch das historische Ereignis der Vertreibung Freuds und seiner Familie aus diesem Haus, in dem der größte Teil seines wissenschaftlichen und kulturellen Werks entstanden war. Mit Sigmund Freud ging auch all das mit, was die Räume seiner Wohn- und Arbeitsstätte gefüllt und ausgestattet hatte: Die Leere entstammte einer rabiaten materiellen Entleerung von Gewesenem.

Als dann der Ort Jahrzehnte später zum Museum erklärt wurde, musste er aufs neue angefüllt werden, zugleich aber in einer Weise leer bleiben, die der historischen Untat Rechnung trug, wenn es nicht nur restaurativ erneuert werden sollte, sondern auch eine Dimension geschichtlichen Eingedenkens wahren wollte.

Wie wird aber ein Ort zur Stätte des Gedenkens? Die Antwort hierauf ist nicht eindeutig. Denn wenn Erinnerung ein (An)denken an Gewesenes meint, kann die Stätte der Erinnerung wohl an den Ort des Geschehenen gebunden werden, es zur sogenannten historischen Gedenkstätte werden lassen. Dies ist aber mitnichten notwendig so, wie man weiß: Yad Vashem in Jerusalem ist zur zentralen Stätte israelischer – und nicht nur israelischer – Juden zur Erinnerung an die Massenvernichtung des europäischen Judentums avanciert.

Hingegen hat sich das vom israelischen Künstler Yigal Tumarkin in den 1970er Jahren errichtete Holocaust-Denkmal in Tel-Aviv nie „durchsetzen“, mithin nicht zum Ort zeremonieller Gedenkversammlungen entwickeln können. Als aber der israelische Premierminister Yitzhak Rabin im November 1995 in der Nähe des Denkmals ermordet wurde, verwandelte sich der Platz, an dem das Attentat verübt wurde, über Wochen zur Stätte kollektiver Trauer, und das auf diesem Platz stehende Denkmal wurde plötzlich, wenn auch nur zeitweilig, mit unvorhergesehenen Bedeutungen und Symbolen befrachtet. Dass dabei die weltgeschichtliche Monstrosität des Völkermordes und die, wie immer katastrophische, gleichwohl primär individuelle Ungeheuerlichkeit des politischen Mordes miteinander vermengt, im Kontext der Örtlichkeit gleichsam austauschbar geworden waren, spielte offenbar eine untergeordnete Rolle. Nicht von ungefähr gab sich Tumarkin nachsichtig, als im Zuge der populären Trauerbekundungen von 1995 sein Shoah-Denkmal mit schmerz- und wuterfüllter Graffiti vollgeschmiert wurde.

Das Freud-Museum konnte sich der Aura des authentischen Geschichtsortes gewiss sein, sah sich aber vor der objektiven Herausforderung gestellt, die historische Untat mitbekunden zu sollen. Freud selbst durfte dem nazistischen Mord entkommen; einige seiner Hausnachbarn und viele Juden Wiens hingegen nicht. Die Vertreibung des großen Gelehrten stand daher von Anbeginn für mehr als nur das tragische Einzelschicksal; in den Räumen des Museums – eines Ortes in der Stadt des Lueger-Antisemitismus, des Heldenplatz-Anschlusses, der Judenverfolgung und -deportation – ist nicht nur die individuelle Leiderfahrung des Juden Sigmund Freud sedimentiert, sondern auch das Grauen des Geschichtskontexts, welches die Monstrosität des Zivilisationsbruchs zeitigte.

Die Fotos auf den Wänden des Hauses repräsentieren, gleichsam geisterhaft, nicht nur das materiell Gewesene, sondern sind Zeugnis der moralischen Weigerung wiederherzustellen, was im historischen Verbrechen in der liquidierenden Entleerung der Fülle mündete. Bebildert wird mit den Fotos das Geschichtliche einer Welt von gestern, die – als untergegangene – sich in der fahlen Erinnerung des Europäers als unwiederbringlich vernichtete, nur noch phantomhaft rekonstruierbare erhält.

Das Freud-Museum in Wien ist, so besehen, die Manifestation einer offenen Wunde, die sich nicht mehr schließen lässt, sich nicht wieder schließen darf. Dass der Prophet in seiner eigenen Heimat nichts gilt, ist bereits zur Einsicht der Geistesgeschichte geronnen. Allzu leicht hat man sich aber mit dieser Einsicht versöhnt, sie in die genehme Ökonomie des kulturellen Gewissens integriert.

Die Leere des Wiener Freud-Museums lässt den verjagten Propheten zwar nicht mehr zur Ehre in seiner Heimat gelangen, aber ihr Beschämendes bezeugt die ungeschönte Wahrheit dieses Verhältnisses zwischen Prophet und Heimat – und ehrt vielleicht gerade darin doch noch beide im Nachhinein. Ungekittet muss freilich bleiben, was als katastrophische Spätfolgen des Unbehagens in der Kultur einen nicht mehr wiedergutzumachenden Seelenriss hinterlassen hat. Im leeren Raum dieses Risses west die Wahrheit seiner zivilisatorischen Genese, welche Freud zu entschlüsseln einst ausgezogen war.

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