Donald geht, Joe kommt – und Amerika bleibt gespalten

Der Wahlsieg Joe Bidens markiert einen Umbruch in dem Kurs, den Amerika seit 2016 eingeschlagen hat. Für manche Bürger des Landes kam er gänzlich unerwartet, andere hatten sich bereits fest darauf verlassen. Doch allen müsste klar sein, dass es mehr bedarf als einen Wechsel des Präsidenten, um dem eigentliche Problem Herr zu werden: Dem tiefen Riss, der durch die gesamte amerikanische Gesellschaft geht. – Ali Latifi* kommentier

Nach langem Warten steht es fest: Der 46. Präsident der Vereinigten Staaten heißt Joe Biden. Über 160 Millionen Amerikaner nahmen an der Wahl teil. Ebenjener Wahlprozess wurde im Laufe der letzten Tage allerdings sowohl von den Anhängern Bidens als auch von jenen Donald Trumps teils massiv hinterfragt.1

Trumps Unterstützer, angefeuert durch den Präsidenten höchstpersönlich, zweifelten an mehreren Aspekten des Wahlvorgangs. Ihr Fokus lag vor allem auf die Briefwahlen, die im District of Columbia und in 33 weiteren US-Bundesstaaten zugelassen sind. Hinzu kamen die Tweet-Tiraden des Präsidenten, die in diesem Kontext nicht nur nachgeplappert wurden, während Twitter permanent damit beschäftigt war, auf den desinformativen Charakter der geteilten Meldungen aufmerksam zu machen.2

Stattdessen geschah de facto Schlimmeres. Mehreren Berichten zufolge organisierten Trump’sche Menschenmassen wütende Demonstrationszüge vor Wahllokalen in Arizona und Michigan wo sie unter anderem „Stoppt den Diebstahl!“ („Stop the Steal!“) und „Stoppt die Zählung!“ („Stop the Count!“) schrien.3

Das Verhalten des Biden-Lagers war währenddessen ein gänzlich anderes. Man verhielt sich kritisch und gelassen zugleich. Insgesamt über hundert Millionen Menschen zogen eine frühe Wahl vor, etwa mittels Briefwahl.4 Die Demokraten inszenierten diese Aktion als wichtigen Schritt gegen die Verbreitung von Covid-19. Vor über zwei Wochen machte Senator Bernie Sanders in einem aufsehenerregenden Interview auf Studien aufmerksam, die deutlich zeigten, dass die Wählerschaft der Demokraten es vorziehe, ihre Stimme per Briefwahl abzugeben, während Republikaner eher zur Wahlurne schreiten würden.5 Bereits im Vorfeld war klar, dass Trump aufgrund der Corona-Pandemie massivem Druck ausgesetzt sein würde. In den USA hat das Virus bereits mehr als 240.000 Menschen das Leben gekostet, während gleichzeitig an die zehn Millionen infiziert sind. Zahlreiche Kritiker bringen diese Entwicklungen mit Trumps Ignoranz in Verbindung und machen ihn für die hohe Todeszahl verantwortlich.6

Hinzu kommt natürlich das Thema Rassismus. Es war immerhin Trump, der seine Präsidentschaftskampagne im Jahr 2016 mit rassistischen Angriffen begann, in denen er mexikanische Immigranten als „Vergewaltiger“ und „Drogendealer“ bezeichnete.7 Als frisch gekürter Präsident setzte er seinen höchst umstrittenen „Muslim Ban“ durch, der Menschen aus mehreren muslimisch geprägten Ländern die Einreise in die Vereinigten Staaten verbot.8 Auffallend war auch Trumps Verhalten gegenüber militant-rassistischer „White Power“-Gruppierungen, von denen er sich nicht distanzieren wollte. Stattdessen zeigte er offen seine Sympathien, was etwa im Falle der „Proud Boys“, einer rechtsextremen Organisation, deutlich wurde. Denn als Biden diese Gruppierung verurteilte, war es Trump der mit seinem „Stand back and Stand By“ abermals für Schlagzeilen und Empörung sorgte.9

Aufgrund all dieser Dinge waren sich die Anhänger Bidens – auch jene, die den 77-Jährigen eigentlich ungern unterstützten – so gut wie sicher, dass der Weg zum Weißen Haus ein einfacher sein würde. So einfach war es dann aber doch nicht. Die Führung Bidens zeichnete sich schnell ab, doch ein Sieg war tagelang unklar. Es entwickelte sich ein Thriller, der von der gesamten Welt mit Spannung verfolgt wurde. Trump 2.0 war alles andere als unwahrscheinlich und der „Trumpism“ selbst wird ohnehin weiterleben, weshalb sich die amerikanische Gesellschaft natürlich Folgendes fragen muss: Warum hat sich seit 2016 so wenig verändert, und warum macht das komplizierte Wahlsystem der Amerikaner es überhaupt möglich, dass ein Trump nicht einmal sondern fast sogar zweimal gewinnen konnte?10

Auf Umfragen des politisch-medialen Establishments ist kein Verlass

Eine wichtige Rolle spielen in diesem Kontext die Umfragen. Sie haben damals und heute versagt. 2016 konnte sich praktisch niemand Donald Trump im Weißen Haus vorstellen. Diesmal wurde ein haushoher Sieg Bidens vorausgesagt. Der „Puls der Nation“ – einer Gesellschaft, die seit der Staatsgründung im Jahr 1776 mit Problemen wie Rassismus, Ungleichheit und Klassizismus zu kämpfen hat – wurde falsch diagnostiziert.

Den Fakten zufolge zogen es die meisten weißen Frauen – nämlich mehr als die Hälfte – abermals vor, sich hinter Trump zu stellen anstatt ihre Stimme einer Frau (nämlich Bidens Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris) zu geben. De facto betrug der Anteil weißer Frauen, die in diesem Jahr Trump wählten, ganze 55 Prozent, was sogar noch höher ist als 2016, als der Anteil zwischen 52 und 53 Prozent lag. Der Grund für diese Zunahme ist weiterhin unklar. Allerdings besteht genug Grund zur Sorge, denn Trump griff im Laufe seiner Präsidentschaft regelmäßig Frauen in Politik und Medien an.11

Während Trump bei schwarzen Frauen mit acht Prozent schlecht abschnitt, stieg der Anteil seiner männlichen schwarzen Wähler um fünf Prozent (auf insgesamt 18 Prozent). Dies bedeutet, dass Biden die geringste Wahlbeteiligung unter schwarzen Männern in mehr als einem Jahrzehnt hervorbrachte. Dieser Umstand besteht trotz der Tatsache, dass Biden als seine Stellvertreterin eine Frau aufstellte, die zur Hälfte afroamerikanisch ist.12

In diesem Kontext wurde Harris’ Bilanz als Staatsanwältin in Kalifornien stark diskutiert. Dass sie deshalb bei schwarzen Männern schlecht abgeschnitten hat, könnte tatsächlich ein Grund sein. Der Anteil afroamerikanischer Gefängnisinsassen ist im gesamten Land weiterhin am höchsten. Hinzu kommt die Tatsache, dass Harris sich bis 2018 eine Legalisierung von Marihuana angefochten hatte. Laut einer aktuellen Recherche der „American Civil Liberties Union“ (ACLU) ist es um mehr als drei Mal wahrscheinlicher, dass in den USA schwarze Menschen aufgrund von Marihuana-Delikten verhaftet werden.13 Zudem stellte sich Harris im Jahr 2015 als Generalstaatsanwältin in Kalifornien gegen eine Reform, die ihre Abteilung dazu gezwungen hätte, die Todesschüsse von Polizisten genauer zu untersuchen. Trotz der Tatsache, dass Harris später die Black-Lives-Matter-Bewegung unterstützte und es vor allem Trump war, der sich gegen diese stellte, wurde Harris diesbezüglich immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Warum viele Nicht-Weiße Trump wählten, wird weiterhin ein Thema bleiben

Hinzu kommt der Latino-Faktor. Trump griff südamerikanische Immigranten nicht nur verbal an, sondern errichtete auch seine Mauer entlang der südlichen Grenze, während er Tausende von Geflüchteten in Internierungslager steckte und ganze Familien in Chaos und Verzweiflung stürzte, indem er sie von ihren Kindern trennte. Dennoch nahm sein Anteil innerhalb der Latino-Wählerbasis zu. In Texas und Florida wählten 41 und 45 Prozent der Latinos für Trump. In letzterem Bundesstaat konnte Trump diesbezüglich eine Zunahme von elf Prozent einheimsen.14

Hierfür gibt es gewiss verschiedene Gründe. In Texas konnte Trump womöglich gut aufgrund seiner wirtschaftspolitischen Ideen punkten. Außerdem brachten ihm seine konservativen Ansichten wohl auch einige Wähler innerhalb der Latino-Community ein.15 Ähnliches ist in Florida der Fall, wo viele Amerikaner mit kubanischen Wurzeln leben und historisch gesehen schon immer die Republikaner bevorzugten, die härter gegen die Regierung in Havanna vorgingen. Trump gilt auch als vehementer Gegner der politischen Führung Venezuelas und lud im Laufe der Proteste gegen Nicolás Maduro sogar Oppositionsführer Juan Guaidó nach Washington ein, um sich mit ihm in der Capitol Gallery in Szene zu setzen und gegen den „Tyrannen“ Maduro zu schimpfen.16

Dennoch lässt sich feststellen: Ein Sieg Bidens war absehbar, und nun ist er eingetreten. Die Wahlen haben dennoch deutlich gemacht, wie gespalten die Vereinigten Staaten sind, wie unterschiedlich die Realitäten im Land sind und wie verzerrt sie vom medialen und politischen Establishment immer wieder dargestellt werden – und das wird aller Wahrscheinlichkeit auch weiterhin so bleiben. 

Im Vorhinein war allerdings auch klar, dass der nächste US-Präsident ein über siebzig Jahre alter, weißer Mann sein wird, der sich einer unvorstellbaren Aufgabe stellen muss, nämlich der Zusammenführung einer massiv gespaltenen Nation inmitten einer erdrückenden Pandemie – und womöglich auch der Wiederbelebung des Glaubens an die amerikanische Demokratie.

 

*Ali M. Latifi ist US-Journalist mit afghanischen Wurzeln. Er lebt zwischen Kalifornien und Kabul.


  1. Über 160 Millionen haben gewählt. Experten zufolge handelte es sich hierbei um die höchste Wahlbeteiligung der letzten 120 Jahre: https://economictimes.indiatimes.com/news/international/world-news/2020-us-presidential-election-generated-highest-voter-turnout-rate-in-120-years/articleshow/79075604.cms (eingesehen am 09.11.2020).
  2.  Trump ernannte sich frühzeitig zum Sieger der Wahlen und griff kurz darauf das Wahlsystem an: https://apnews.com/article/joe-biden-donald-trump-politics-virus-outbreak-elections-981baacc2b977f156a73d036e19e2d43 (eingesehen am 09.11.2020).Auf Twitter verbreitete er zudem in regelmäßigen Abständen falsche Informationen zu den Wahlen. Der Kurznachrichtendienst war deshalb gezwungen, einzuschreiten. Außerdem stellte Twitter fest, dass Trump seine „Sonderbehandlung“ im Falle eines Amtsverlustes verlieren würde: https://www.theguardian.com/us-news/2020/nov/06/donald-trump-twitter-rules-newsworthy-election (eingesehen am 09.11.2020).
  3.  Wütende Pro-Trump-Proteste fanden landesweit statt: https://www.marketwatch.com/story/trump-supporters-demand-michigan-vote-center-stop-the-count-01604534569 (eingesehen am 09.11.2020).
  4.  Über 100 Millionen Amerikaner wollten so früh wie möglich wählen: https://eu.usatoday.com/story/news/politics/elections/2020/11/03/voter-turnout-2020-early-voting-tops-100-million/6133004002/ (eingesehen am 09.11.2020).
  5.  Bernie Sanders‘ Interview fand vor allem Beachtung, weil er Trumps Reaktion sowie praktisch den gesamten Wahlausgang sehr konkret vorhersagte: https://www.washingtonpost.com/nation/2020/11/05/bernie-sanders-election-prediction-trump/ (eingesehen am 09.11.2020).
  6.  Corona wütet in den USA weiterhin: https://coronavirus.jhu.edu/map.html (eingesehen am 09.11.2020).
  7.  Trumps Angriffe auf mexikanische Immigranten bleiben unvergessen: https://www.bbc.com/news/av/world-us-canada-37230916 (eingesehen am 09.11.2020).
  8.  Trumps „Muslim Ban“ sorgte ebenfalls für Empörung. Gleichzeitig intensivierte der Präsidemt die Bombardierungen ebenjener Staaten. Biden hat bereits deutlich gemacht, den „Muslim Ban“ umgehend aufheben zu wollen. https://www.aclu-wa.org/pages/timeline-muslim-ban (eingesehen am 09.11.2020).
  9.  Von rassistischen Akteuren, die obendrein noch bewaffnet und gewaltbereit sind, wollte Trump sich nie wirklich distanzieren. Siehe hier: https://eu.usatoday.com/story/news/factcheck/2020/10/17/fact-check-trump-quote-very-fine-people-charlottesville/5943239002/ (eingesehen am 09.11.2020) und hier:https://eu.usatoday.com/story/news/politics/elections/2020/09/29/trump-debate-white-supremacists-stand-back-stand-by/3583339001/ (eingesehen am 09.11.2020).
  10.  Anmerkung der Redaktion: Biden konnte im Electoral College 290 Stimmen einholen, Trump 214. Insgesamt wählten rund 75,4 Millionen Wähler für Biden und rund 70,9 Millionen Wähler für Trump: https://eu.usatoday.com/story/news/politics/elections/2020/09/29/trump-debate-white-supremacists-stand-back-stand-by/3583339001/ (eingesehen am 09.11.2020).
  11.  Mehr dazu: https://www.msnbc.com/opinion/white-women-didn-t-desert-trump-election-polls-show-some-n1246615 (eingesehen am 09.11.2020).
  12.  Mehr dazu: https://abc11.com/black-men-for-trump-republicans-how-voted-president-donald/7720830/ (eingesehen am 09.11.2020).
  13.  Die ACLU-Studie zu Marihuana-Delikten gibt es hier: https://www.aclu.org/news/criminal-law-reform/a-tale-of-two-countries-racially-targeted-arrests-in-the-era-of-marijuana-reform/ (eingesehen am 09.11.2020).
  14.  Mehr dazu hier: https://www.nbcnews.com/politics/2020-elections/texas-president-results (eingesehen am 09.11.2020) und hier: https://www.nbcnews.com/politics/2020-elections/florida-president-results (eingesehen am 09.11.2020).
  15.  Dass Trump bei nicht-weißen Communities punkten konnte, wird viele Beobachter weiterhin beschäftigen. In Texas spielten seine wirtschaftlichen Pläne wohl tatsächlich eine Rolle: https://www.nbcnews.com/news/latino/trump-s-gains-among-latino-voters-shouldn-t-come-surprise-n1246463 (eingesehen am 09.11.2020).
  16.  Dass Trump kein Freund Maduros ist, dürfte bekannt sein: https://www.nbcnews.com/news/latino/trump-s-gains-among-latino-voters-shouldn-t-come-surprise-n1246463 (eingesehen am 09.11.2020).

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