„120 Jahre alt zu werden, ist keine Utopie mehr“ – Interview mit Dietrich Grönemeyer

Dietrich Grönemeyer

Simone Rethel-Heesters im Interview mit Prof. Dietrich Grönemeyer über seine Medizin, Leben, Altern und Sterben.

 

Prof. Dietrich Grönemeyer, geb. 12.11.1952, Mediziner, erlangte durch Publikationen
und Medienpräsenz hohe Aufmerksamkeit für seine Idee der „liebevollen Medizin“. Sein Ziel ist
eine engere Zusammenarbeit der verschiedensten medizinischen Disziplinen und eine ganzheitliche
Wahrnehmung von Körper, Seele und Geist.

Sie sind Leiter von drei Kliniken?

Dietrich Grönemeyer: Das sind keine Kliniken, das sind Grönemeyer-Institute, ambulante Versorgungszentren. Mir ist wichtig, dass Operationen an der Bandscheibe, Schmerztherapien, lokale Tumorbehandlungen oder Biopsien im ambulanten Bereich passieren. Ich glaube, dass wir heutzutage durch die Miniaturisierung der Medizin in der Lage sind, viele Eingriffe so klein und so schmerzarm durchzuführen, dass sie ohne Vollnarkose und trotzdem hocheffizient sein können.

Mussten Sie den Lehrstuhl in Witten-Herdecke 2012 aus Altersgründen abgeben?

Dietrich Grönemeyer: Nein, ich habe es gemacht wie der Papst, ich habe mich emeritieren lassen. Ich finde es gut, wenn man am Höhepunkt seiner Schaffenskraft den jungen Menschen die Möglichkeit gibt, sich einzubringen. Ich forsche weiter, bin wissenschaftlich aktiv und halte weiter Vorträge. Ich habe meine Forschung in die Entwicklung von technologischen Geräten intensiviert, zusammen mit meinen Kindern neue Methoden der naturheilkundlichen Behandlung entwickelt und mit meiner Tochter ein großes Nachschlagewerk zur Pflanzenheilkunde erarbeitet.

Können Sie mir Mikrotherapie in einfachen Worten erklären?

Dietrich Grönemeyer: Ja, ganz einfach: Nutze einen Computer, mit dem du hochdifferenziert in den menschlichen Körper gucken kannst. Auf den Millimeter genau erkennst du, was du operieren musst. Gehe dorthin, ohne den Körper zu öffnen. So können die Instrumente kleiner werden, man geht direkt auf den Punkt, ganz klein, ganz fein.

All das ambulant?

Dietrich Grönemeyer: All das ambulant. Das ist mein Geschenk an die Welt. Ich war der Erste, der das in dieser Form gemacht hat, ich habe es gegen viele Widerstände durchgesetzt.

In Ihrem Buch „Weltmedizin“ machen Sie deutlich, dass in jeder ganzheitlichen Medizin Körper und Seele untrennbar miteinander verbunden sind. Sind Sie mit Ihrem jetzigen Alter in Harmonie?

Dietrich Grönemeyer: Je älter ich werde, umso mehr kann ich für mich zumindest unterscheiden, was wichtig und was unwichtig ist. Nach tragischen Ereignissen in meinem Leben – ich bin zehn Meter in den Bergen abgestürzt und hatte zwei Motorradunfälle – bin ich insgesamt ruhiger geworden. Dinge, die andere Menschen aufregen, lassen mich gelassen werden. Denn emotionale Unruhe führt dazu, dass man nicht mehr rational denkt.

Dieser dramatische Sturz hat Ihr Leben verändert. Mich wundert das insofern, als dass Sie sich beruflich laufend mit derartigen Problemen beschäftigen müssen. Liegt es daran, dass es plötzlich Ihnen persönlich passiert ist?

Dietrich Grönemeyer: Ich denke, dass ich selbst plötzlich direkt mit dem Tod in Berührung gekommen bin. Heute kann ich sagen: Wenn ich gleich sterben müsste, würde mich das nicht beunruhigen. Es gehört zum Leben dazu. Ich bin dankbar, dass ich bis heute leben durfte. Als ich abgestürzt bin, dachte ich, ich komme gar nicht mehr unten an, ich dachte, es sei vorbei, aus! Der Moment, in dem ich aufgeschlagen bin und nicht tot war, hat mich dankbar werden lassen und mich mit ganz viel Ruhe erfüllt. Ich begriff, dass das Ende nicht schlimm ist. Ich war ganz zuversichtlich, dass es gut ausgehen wird. Ich habe schon viele über die Schwelle vom Diesseits ins Jenseits – was es auch immer ist – begleitet: meinen Bruder, meinen Vater, auch meine Mutter. Es ist ein Teil meines Lebens, aber selbst davon betroffen sein zu können, das hat mein heutiges Verhalten geprägt.

Da Sie von Ihrem Bruder Wilhelm sprechen: Wenn man als Arzt an die Grenzen kommt und weiß, da kann man nicht mehr helfen, verzweifelt man oder sagt man: Das ist die Natur?

Dietrich Grönemeyer: Verzweifeln nicht, hadern. Hadern mit dem, was in uns, über uns oder mit uns ist, ob wir es Natur, Gott oder den großen Manitu nennen, das ist alles dasselbe. Auf der anderen Seite führte es bei mir dazu, zu sagen: Es ist so. Diese Erkenntnis macht wiederum ruhig. Es ist die Kunst des Lebens – ars vivendi – ars moriendi –, mit Freude zu leben, aber auch in Dankbarkeit gehen zu können.

Sie sprechen oft von einem Lebensalter von 120 Jahren – das hätte ich mir für meinen Mann gewünscht. [Ich lache.]

Dietrich Grönemeyer: Ja, ich dachte, er würde das können. [Er lacht heftig.]

Glauben Sie wirklich, dass wir eines Tages 120 werden?

Dietrich Grönemeyer: Ja, ich habe eine Fernsehsendung mit zwei 100-Jährigen gemacht und wollte noch eine 110-Jährige interviewen, aber drei Tage vor ihrem 111. Geburtstag ist sie leider verstorben. Sie hat bis zu ihrem Tod allein zu Hause gelebt und musste in den letzten zehn Jahren nur zweimal zum Arzt. Sie hat mir eine Nachricht hinterlassen: „Sagt dem Grönemeyer, er solle allen den Tipp geben, jeden Tag ein Stück Kuchen zu essen!“ [Er lacht.] Kuchen, also Süßes, sprich fröhlich sein, denn Süßes macht glücklich! Wissenschaftlich gesehen wissen wir, dass Kinder, die heute geboren werden, in jedem Fall 100 werden können. 120 ist kein „secret“, keine Utopie mehr.

Was finden Sie am Älterwerden schön?

Dietrich Grönemeyer: Ich finde schön, dass ich die Differenziertheit von Kulturen, Musik, Wissen und gesellschaftlichen Entwicklungen immer weiter erlernen kann und darf und es nicht aufhört, unglaublich faszinierend zu sein. Gleichzeitig erfüllt mich die Suche nach dem Sinn des Lebens mit Freude.

Werden Sie sich eines Tages zur Ruhe setzen oder glauben Sie, dass Sie immer etwas machen werden?

Dietrich Grönemeyer: Ich glaube, wirkliche Langlebigkeit hat ganz viel mit mentaler und körperlicher Aktivität zu tun. Der Begriff Psychosomatik kommt nicht von ungefähr: Der Körper wirkt auf die Psyche, die Psyche wirkt auf den Körper. Genauso wichtig ist das Psychosoziale, andere Menschen inspirieren uns und geben in der Gemeinschaft Kraft.

Sie sind unglaublich fleißig. Gibt es bei Ihnen überhaupt Ruhe?

Dietrich Grönemeyer: Vieles ist über lange Zeit angelegt. Ich schreibe fast jeden Tag, momentan mein Lebenswerk, ein Buch über Mikrotherapie, und arbeite an einer neuen Zeitung. Beides inspiriert mich. Aber auch ich brauche Ruhe, in der Ruhe liegt die Kraft.

Treiben Sie Sport?

Dietrich Grönemeyer: Ja, ich laufe gerne, fahre Rad und mache Gymnastik. Ich laufe viel herum und diktiere auch im Laufen. Bewegung führt dazu, dass man nicht nur klarer denken kann, sondern dass das, was man formuliert und lernt, besser haften bleibt. Auch singen und gleichzeitig lernen spielt eine Riesenrolle, denn die Zentren im Gehirn liegen ganz dicht nebeneinander, das emotionale und das Gedächtnis, das Atmen beim Singen, das Koordinative, das Einatmen das Ausatmen. Das haben andere Kulturen sehr viel mehr in sich. In den asiatischen Kulturen spielt das Atmen immer eine große Rolle.

Ich war bisher immer eine Verfechterin der Schulmedizin. Nach der Lektüre Ihres Buches bin ich jedoch offener gegenüber der Alternativmedizin.

Dietrich Grönemeyer: Man muss unterscheiden zwischen Spekulationen und Fakten. Mein Anliegen ist es, Schulmedizin und Naturheilkunde zu versöhnen.

Sie werden dafür ganz schön heftig angegriffen. Bei einigen Artikeln war ich richtig geschockt, Sie wurden sogar als Scharlatan bezeichnet. Wie geht man damit um?

Dietrich Grönemeyer: Jaja, „Doktor Hokuspokus“ und so. Wie geht man damit um? Ich weiß ja, dass ich keinen Hokuspokus mache. Ich habe mein ganzes Leben hinweg immer das formuliert, von dem ich nicht nur überzeugt war, sondern dessen Richtigkeit ich auch durch wissenschaftliche Nachrecherche klarmachen konnte.

Woher kommt dieser Hass zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde? Im Grunde liegt es doch auf der Hand, dass das eine auch das andere unterstützen kann.

Dietrich Grönemeyer: Dieser Widerstand hat, glaube ich, damit zu tun, dass wir als Ärzte zu Einzelkämpfern erzogen werden. Sie glauben nicht, wie groß der Kampf auch innerhalb der Disziplinen ist, wie viele Missverständnisse, aber auch Widerstände es gibt.

Von Naturheilkundlern höre ich immer das Argument, da stecke die Pharmaindustrie dahinter.

Dietrich Grönemeyer: Diese Argumente sind falsch, denn gerade mit der Homöopathie werden Milliarden verdient, weltweit. Das ist unfair, sich da wechselseitig etwas vorzuhalten. Da geht es einfach um Geld.

Mir fällt auf, dass Sie bei allem, was Sie erzählen, lächeln. Ist das die Erfahrung mit der Weltmedizin oder ist das einfach Ihre Art?

Dietrich Grönemeyer: Ich merke das ja nicht, mein Lächeln ist meine Haltung, auch jetzt, weil ich mich wohlfühle, während wir uns unterhalten.

Sie schreiben in Ihrem Buch über Bhutan, dort gibt es das „Bruttonationalglück“. Gibt es in Bhutan eine andere Lebenseinstellung?

Dietrich Grönemeyer: Ja, ich habe erlebt, dass die Menschen dort gelassener sind, mit der Natur leben und mit sich selbst im Reinen sind.

Sie sagen Erstaunliches: Körperliches Wohlergehen ist zu 60 Prozent auf eigenes Handeln und nur zu 30 Prozent auf die Gene und zu 10 Prozent auf die Medizin zurückzuführen. Meinen Sie, dass man viel zu seiner Lebenseinstellung beitragen kann?

Dietrich Grönemeyer: Für mich ist Handeln ganz wichtig. Fühlen und Denken sind das eine, aber im Aktiven zu bleiben, sich mental wie körperlich in Bewegung zu setzen, das ist für mich ein wesentliches Element, um glücklich werden zu können.

Von Ihnen stammt der schöne Satz: „Es geht nicht darum, dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben zu geben.“

Dietrich Grönemeyer: Diesen Spruch hat eine Krebspatientin zu mir gesagt. Es gibt eine weitere Geschichte, die mich sehr berührt hat. 1982/83 sagte eine 75-jährige Patientin zu mir: „Es wäre so schön, wenn Sie mit mir Weihnachten feiern würden.“ Eine tolle Frau, die eine unheimliche Lebenskraft ausstrahlte, und eine wunderbare Pianistin war. Weihnachten hat sie mich gebeten, ein Keyboard ins Krankenhaus mitzubringen, wir haben die Türen der onkologischen Abteilung geöffnet, sie hat ein Konzert gegeben und wir haben gemeinsam gesungen – es war so schön. Danach sagte sie: „Sie müssen mit mir Silvester feiern, bitte tun Sie mir den Gefallen“« Gesagt, getan. „Lassen Sie uns gemeinsam in den Himmel gucken, dieses Feuerwerk gemeinsam genießen.“ Da sah sie in den Himmel, nachts um zwölf Uhr und sagte: „Wenn ich jetzt sterben würde, das wäre das Schönste“ – fiel um und war tot.

Das ist ja großartig!

Dietrich Grönemeyer: Ja, auch wenn ich es jetzt erzähle [er macht eine Pause] – das ist leben und sterben von höchster Güte.

Sind Sie religiös?

Dietrich Grönemeyer: Ich bin zutiefst religiös und zutiefst atheistisch. Ich glaube nicht an eine Person, ich finde es auch verrückt, wenn man darüber streitet, ob es Gott gibt oder wie er heißt. Ich fühle, da ist etwas und es ist nicht umsonst, dass wir leben und dass wir getragen werden. Ich war in meinem Leben in evangelischen, katholischen, islamischen, jüdischen und hinduistischen Tempeln und habe alle als Kraftorte erlebt und mich wohlgefühlt. Ich bin in dem Sinne religiös, dass ich an eine Kraft, die uns alle trägt, glaube.

Ist Ihr Credo der Toleranzgedanke?

Dietrich Grönemeyer: Ja, ich bin sehr tolerant, sehr offen und versuche auch immer wieder, jeden Menschen als Kind zu sehen. Alle Menschen haben, wenn sie auf die Welt kommen, etwas ganz Unverbrauchtes. Ich sehe die Menschen und auch den Sozialisierungsprozess. Ich sehe, was allen widerfahren kann, ob positiv oder negativ. Und ich lerne von jedem.

Was würden Sie älteren Menschen mit auf den Weg geben?

Dietrich Grönemeyer: Alles hat seine Zeit. In der Ruhe liegt die Kraft. Nutze die Zeit, deine eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, und höre nicht auf zu handeln. Lass dich nicht behandeln, sondern handle selbst. Sei deine eigene Marke, sei dein eigener Kraftpol und sei für dich, aber genauso für die anderen da.

Haben Sie Vorbilder?

Dietrich Grönemeyer: Hippokrates als ärztlicher Vordenker und Gandhi. Gandhi ist für mich eine der großen Schlüsselfiguren. Ein Land friedlich aus der Unterdrückung herauszubringen war eine Leistung, die mich sehr stark begeistert. Ich glaube, dass wir von solchen Menschen wie Gandhi inspiriert sein müssen.

Gibt es einen Leitspruch in Ihrem Leben?

Dietrich Grönemeyer: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.“ Und: „Offen sein für Veränderungen, das Wissen von gestern kann das Know-how von morgen sein. Das Alte mit dem Neuen verbinden.“

Sind Sie neugierig, wie die Welt in 100 Jahren aussehen wird?

Dietrich Grönemeyer: [Lautes] Ja, auch in fünf Millionen Jahren. Ich würde gerne wissen, was aus den Menschen geworden ist. Sind wir noch so wie heute oder ist der Orang-Utan in Indonesien, der gerade den Menschen die Hand reicht, dann ein Mensch? Und was sind wir dann?

Oder hat uns künstliche Intelligenz dann überwältigt? Haben Sie davor Angst?

Dietrich Grönemeyer: Ich habe Angst davor, dass wir das Menschsein als unwürdig erachten. Menschen haben Eigenschaften, die nicht von einem Computer abgebildet werden können. Wir müssen begreifen, dass Computer ein fantastisches Hilfsmittel sind, das Menschsein aber in seiner Würde und in seinem Fühlen, Denken und Handeln etwas ganz Besonderes ist. Wenn wir das als unwürdig definieren und Menschen auf der einen Seite nur noch als Ersatzteillager nehmen oder auf der anderen Seite zu Arbeitstieren entwickeln, indem wir sie an Maschinen anschließen, dann macht mir das Angst.

Wenn eine Fee käme und Sie hätten drei Wünsche …

Dietrich Grönemeyer: Erstens: Frieden auf Erden, aber ich werde das wohl nicht erleben dürfen. Zweitens: Eine Zukunft, die so geprägt ist, dass alle Menschen in Wohlbefinden bis zum letzten Tag leben dürften. Und das Dritte ist: Wir sind alle spirituell, und dazu sollten wir stehen. Wir sind Teil eines Kosmos, den wir nicht begreifen, vielleicht nie begreifen werden, aber wir sollten uns diese Spiritualität auch nicht nehmen lassen.

Das Gespräch wurde dem Buch von Simone Rethel-Heesters: „Alterslos – Grenzenlos. Porträts und Gespräche über das Leben“ entnommen, das im Westend Verlag erschienen ist.

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