Die Wahlbeteiligung dürfte sinken, die Unterschicht ist der Verlierer

Bild: Tim Reckmann/CCnull.de/CC BY-2.0

Eine hohe Wahlbeteiligung bedeutet, die Menschen haben Hoffnung auf eine wirkliche Veränderung. Das dürfte bei der anstehenden Bundestagswahl höchstens für die Mittel- und Oberschicht zugunsten der Grünen und bei der FDP der Fall sein.

Die Wahlbeteiligung war 2017 mit 76,2 Prozent relativ hoch. Nach dem Tiefstand von 70,8 Prozent 2009, nach der ersten Regierungsperiode von Angela Merkel und der schwarz-gelben Koalition, entstand wieder Hoffnung auf eine Veränderung. Ursache war vor allem das erstmalige Antreten der AfD, die als Protestpartei gegen die von vielen als zu konform erscheinenden übrigen Parteien gewählt wurde. Einen Schub hatte vermutlich der Wahlsieg von Donald Trump gegeben, dessen Politik ebenfalls konfus war, der aber auch propagierte, als Mann des Volkes gegen die herrschende Elite anzutreten und alles anders zu machen. Die deutschen AfD-Wähler hofften vermutlich auf einen diffusen Rechtsruck durch eine lärmende Partei, die wie Trump in den USA Veränderung durch Rückschritt bringen und durch Aggressivität, auch Verächtlichungmachung von Menschengruppen, für Unterhaltung sorgen sollte.

Im Rückblick waren allerdings auch die 76 Prozent vergleichsweise wenig gegenüber den 1970er Jahren, als sich mit über 90 Prozent fast die ganze Nation an den Bundestagswahlen beteiligte, also alle Schichten und Generationen. In den 1980er Jahren während der öden Kohl-Jahre sackte die Wahlbeteiligung immer weiter bis auf 77,8 Prozent ab. 1998, als Kohl zum sechsten Mal antrat, ging es wieder mit der Hoffnung auf einen Veränderungsruck nach oben, Gewinner war die SPD mit heute unglaublichen 40,2 Prozent. Die Grünen waren nicht der Hoffnungsträger, sie hatten leicht verloren, kamen gerade auf 6,7 Prozent. Von da an ging es mit den rot-grünen neoliberalen Reformen bergab – bis 2017.

Die Frage wird sein, ob wieder Nichtwähler mobilisiert werden können oder ob sie nach vier Jahren AfD im Bundestag zum Schluss kommen, dass sich für sie nichts geändert hat. Schaut man sich die Sonntagsfrage bei Wahlumfragen an, so kommt die AfD nur auf maximal 10-11 Prozent, also vermutlich auf weniger als 2017. Union und SPD verlieren, FDP legt leicht zu, die Grünen könnten, trotz des Baerbock-Malus am stärksten gewinnen und ihr Ergebnis mindestens verdoppeln. Die Linke dümpelt zwischen 6 und 7 Prozent, büßt also auch ein wenig ein. Die Parteienlandschaft nivelliert sich weiter. Hoffnung auf Veränderung lässt sich höchstens noch bei den Grünen sehen, die um die 20 Prozent herum schwanken.

Wahlbeteiligung und soziale Spaltung

Die Bertelsmann Stiftung geht in einem Bericht davon aus, dass es einen „Corona-Effekt“ geben könnte, der zur Folge habe, dass die Wahlbeteiligung wieder sinkt und die soziale Spaltung sich verstärkt. Die prägt sich auch in der Wahlbeteiligung aus. 2017gingen mindestens vier Fünftel Mitglieder der Ober- und Mittelschicht zur Wahl gehen werden, während es in der Unter- und Mittelschicht nur 74 Prozent waren. Im prekären Milieu der Unterschicht lag die Wahlbeteiligung bei 70 Prozent, aber um 11 Prozent höher als 2013. Dort erhielt die AfD 28 Prozent, insgesamt lag das Wahlergebnis bei 12,6 Prozent.

Der Bericht, der wirtschaftspolitisch symptomatisch stumm bleibt, kommt zu dem Ergebnis, dass die sozio-ökonomische Unterschicht bei den Wahlen durch einen hohen Anteil an Nichtwählern deutlich unterrepräsentiert ist, während die sozial privilegierten Schichten (die Konservativ-Etablierten und die Liberal-Intellektuellen) überrepräsentiert sind. Daraus wird der Schluss gezogen:

„Typische Nichtwählermilieus der sozio-ökonomischen Unterschichten zeigen sich überdurchschnittlich anfällig für (rechts-)populistische Mobilisierungsstrategien. Menschen, die sich aus Enttäuschung, Resignation und aus einem Gefühl der Vernachlässigung ihrer Interessen nicht mehr an Wahlen beteiligen, sind als Protestwähler:innen leichter mobilisierbar als Menschen, die sich weiterhin regelmäßig an Wahlen beteiligt haben, sich also noch repräsentiert fühlen von einer der etablierten Parteien.“

Die Parteien, die vor allem von der Mittel- und Oberschicht gewählt werden, machen in der Regel keine wirkliche Sozial-, Steuer- und Wirtschaftspolitik für die Unterschicht. Das sind Union, SPD, FDP und Grüne, im Osten auch die Linke. Deren Politik hat, auch wenn sie anderes versprochen haben, die Einkommenskluft zwischen Arm und Reich weiter verstärkt. Mangels anderer Alternativen und aufgrund der angesammelten Wut wird dann tatsächlich die AfD gewählt, obgleich diese wirtschafts- und steuerpolitisch der Union und der FDP näher steht.

Zur Bundestagswahl 2021 stehen keine neuen Alternativen an, in der Ober- und Mittelschicht hat sich eine Verschiebung der Wähler zu den Grünen wegen deren Klimapolitik vollzogen, eher nicht wegen der Identitäts- oder Migrationspolitik, wie das Wagenknecht und Co. kritisieren. Mit den neuen Kanzlerkandidaten fehlt auch mit Angela Merkel der Anlass zum wütenden Widerstand gegen das „Merkel-Regime“ und die mächtige Frau an der Spitze. Das dürfte der AfD vor allem schaden, aber auch insgesamt für eine sinkende Wahlbeteiligung sorgen. Die „Wahlmüdigkeit“ betrifft nach Umfragen vor allem die Angehörigen der prekären Unterschicht (-15) und der bürgerlichen Mitte (-8,8). Hier werden keine anderen Parteien gewählt, man geht zurück in die Wahlenthaltung oder in die Passivität. Insgesamt könnte nach den Umfragen die Wahlbeteiligung um 2% sinken. Nur die Milieus der konsummaterialistischen Hedonisten (+12) und der Performer (+8) würden eher wählen. Sie seien von „Neuorientierung, Erleben und Entdecken“ geprägt, halten sich nicht an Traditionen und entscheiden kurzfristig.

Sollte die Wahlbeteiligung wieder sinken, so geschieht dies vor allem aus dem weiteren Rückzug der Unterschicht. Das wird, so der Bericht, die soziale Ungleichheit stärken, weil weniger Vertreter der sozial benachteiligten Wähler in den Bundestag einziehen. Allerdings ist das, wenn diese vor allem aus dem Lager der Nichtwähler die AfD wählen, paradox, da die AfD an deren sozialer Lage nichts verändern wird. Die große Frage ist, warum die Linke und auch die Linken in SPD und bei den Grünen nicht profitieren? Sie sind zu wenig „populistisch“ in dem Sinn, dass man ihnen keine Veränderung zutraut, weil sie zu sehr zahm und als Mainstream erscheinen.

Der Bericht sagt, die „demokratischen Parteien“ hätten keinen „Zugang“ zur Unterschicht. Sie würden nicht nur vor allem von der Ober- und der höheren Mittelschicht gewählt, sondern sprechen diese angesichts des Mitglieder- und Wählerschwundes auch im Wahlkampf vor allem diese an. Das aber würde das „Risiko populistischer Mobilisierung“ verstärken. So ist es, aber um das zu ändern, müssten die „demokratischen Parteien“ ihr Wahlprogramm eben auf die Interessen der benachteiligten Unterschicht abstimmen. Wirtschaftspolitisch ist dies bei Union, FDP oder auch bei den Grünen kaum denkbar, weil sie dann nicht mehr attraktiv für die Reicheren wären. Nicht umsonst erhalten Großspenden nur FDP, Union und Grüne, da wollen die Reichen Einfluss haben.

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2 Kommentare

  1. Es wäre verwunderlich, wenn die sgn. Grünen über 10% bekämen. Aber wenn den Deutschen Oeko- und Klimasteuern noch nicht reichen, sollten sie auf jeden Fall „Grüne“ wählen.

  2. @Oskar,

    da haben Sie meiner Meinung nach Recht. Es scheint eher der Wunschgedanke der Medien und der sie steuernden Eliten zu sein, die Grünen bei 20% zu sehen. Auch meine Vermutung ist, dass es sich um die 10% einpendeln wird, da deren Verbotscharakter zu offensichtlich ist, ihre Ausrichtung auf miltärisches Engagement in transatlantischer Folge zu klar erkennbar und ihre Wirtschaft schädigende Absicht zweifelsfrei feststehen dürfte.
    Angesichts dieser doch schwer zu kaschierenden Ideologie sind 10% aus meiner Sicht sogar noch bedauerlich.

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