Du lebst schon lange Zeit außerhalb Russlands. Wegen des Kriegs in der Ukraine hat sich eine geschlossene Front gegen Russland aufgebaut. Spürt man das als Russe auch schon persönlich?
Andrei Nekrasow: Noch nicht, aber jetzt kann alles passieren. Krieg ist kein Kampf der Narrative oder Propaganda, sondern etwas Schlimmeres. Ich bin persönlich gegen den Krieg. Abgesehen von dem Kontext und der Geschichte ist er die letzte Lösung, die aber keine ist. Es gibt aber Verteidigungskriege, und dann hat die angegriffene Nation die Wahl zwischen Krieg und Kapitulation. Aber selbst dann muss man über den Krieg so denken: Bin ich persönlich bereit zu kämpfen? Bin ich bereit, meine Kinder in den Krieg zu schicken? Wenn nicht, dann bitte keinen Krieg, selbst wenn es ein gerechter ist.
Der Krieg der Sowjetunion gegen Nazideutschland war für uns Russen eine klare Sache und ich hätte gekämpft, wie so viele in meiner Familie. Den aktuellen Krieg verstehen manche Russen auch als Verteidigungskrieg. Auch wenn ich dagegen bin zu sagen, dass alle kampfbereiten Russen einfach einer Gehirnwäsche unterzogen werden, hilft das nicht, die Situation zu verstehen. Die Situation betrifft die ganze Welt, nicht nur die Ukraine und Russland.
“Das Narrativ, dass Putin allmächtig ist und alle Angst haben, ist 20 Jahre lang falsch gewesen”
Du hast doch Kontakt zu Freunden und Bekannten in Russland. Wie ist denn da die Stimmung? Steht man eher hinter dem Krieg oder kritisiert diesen? Gibt es eine subversive Stimmung?
Andrei Nekrasow: Ich möchte gerne noch erklären, warum ich so oft „ich“ sage und über mich rede. Es gibt Momente in der Geschichte und auch in der Politik, wo man eine Art Phänomenologie und Dialektik anwenden muss, um die Ereignisse zu analysieren. Es reicht nicht aus, jetzt mit politischen Klischees zu argumentieren. Das passiert leider in den meisten Medien. Ich habe im Westen studiert und gelebt, in mehreren Ländern, aber auch immer wieder in Russland, wo ich noch viele Freunde und Kollegen habe. Ich bin einfach ein Zeuge, der auch analysiert.
Es gibt noch immer viele verschiedene politische Lager in der russischen Gesellschaft. Aber die Zustimmungswerte von Putin sind seit Beginn des Kriegs und trotz der Sanktionen gestiegen. Das heißt nicht, dass alle Russen diesen Krieg unterstützen. Die meisten meiner Freunde sind dagegen. Die liberale Intelligenz, meine Umgebung sozusagen, ist dagegen. Viele versuchen Russland zu verlassen. Aber die Mehrheit unterstützt die Regierung. Warum? Für sie ist dieser Krieg eine Form des Widerstands. Und das muss für die meisten in Europa schockierend klingen.
Die westliche Interpretation geht so: Putin ist ein Diktator, er ist besessen von der Wiederherstellung der Sowjetunion oder des russischen Imperiums oder von beidem. Als Diktator kann er alles machen, während man nicht weiß, was die einfachen Russen denken, weil sie Angst haben. Das ist oberflächlich. Bis vor einigen Tagen waren die russischen Medien noch frei. In einem Artikel, der in krass & konkret im Sommer erschien, hatte ich gewarnt: Wenn man Russland provoziert, was auf verschiedene Arten geschehen kann, beispielsweise durch den Aufbau von Nawalny als einen russischen Guaido, dann wird es eine selbsterfüllende Prophezeiung geben.
Viele Jahre lang hatte Russland freie Medien, aber im Westen sprach man von Russland als einer Art Diktatur. Es gab große Demonstrationen der Opposition. Ich war auch ein Oppositioneller und sprach auf Kundgebungen, wie Nawalny, Nemtsow und andere Leute, die ich kenne. Wir haben Putin beschimpft und die Medien konnten alles über Putin sagen. Der Präsident wurde oft grob beleidigt, was in manchen europäischen Ländern nicht denkbar ist. In Russland konnte man das. Und jetzt wurden diese oppositionellen Medien als selbsterfüllende Prophezeiung geschlossen. Und es kann noch schlimmer werden. Ich will nicht wie ein Prophet wirken, aber das habe ich in mehreren Artikeln beschrieben.
Das Narrativ, dass Putin allmächtig ist und alle Angst haben, ist 20 Jahre lang falsch gewesen. Als Putin während des Kriegs in Tschetschenien an die Macht kam, gab es nur ein paar Kritiker von ihm, darunter ich. Tony Blair, George W. Bush, Gerhard Schröder natürlich und viele andere hatten nichts gegen ihn. Tony Blair war stolz, ihn als erster Regierungschef zu begrüßen, als russische Flugzeuge Tschetschenien bombardierten. Damals war das okay und es hat sich niemand darum gekümmert. Bis vorgestern war es ein Fehler oder eine Lüge, dass Russland eine Diktatur ist, es gab Meinungsfreiheit. Sber russische Liberale bezeichneten Putin als Hitler, und das nicht wegen Tschetschenien. Das war nicht korrekt. Ich habe Putin nie gewählt, aber er war kein Diktator, vor dem alle Angst hatten. Das ist selbst jetzt nicht der Fall. Die oppositionellen Medien sind jetzt zwar weg, aber die Diskussion geht weiter.
Natürlich ändert sich jetzt alles. Doch die hohen Zustimmungswerte sind keine Folge der Angst, sondern ein Ausdruck der Haltung der Mehrheit zu dem Krieg. Und der Krieg begann laut diesen Leuten 2014 mit dem „Putsch“ in Kiew, nicht am 24. Februar 2022. Der Grund für den aktuelle Angriff ist kein Hass gegen die Ukraine. Es ist auch nicht so, dass die meisten Russen eine Wiederherstellung der Sowjetunion wollen. Das ist auch eine oberflächliche und automatisch erfolgende Interpretation. Die Intellektuellen im Westen sagen das, für mich ist das ein Klischee.
Und was wäre der Grund der Zustimmung zum Krieg?
Andrei Nekrasow: Der Grund ist genau das, was Olaf Scholz als lächerlich bezeichnet hat. Putin sprach von einem Völkermord in der Ostukraine. Scholz entgegnete, das sei lächerlich. Viele Russen empfanden es als Beleidigung, wenn “ein deutscher Kanzler” im Kontext des Massenmords in Osteuropa solche Worte benutzte – lächerlich -, auch wenn das, was im Donbass geschehen ist, streng nach der Definition nicht als Genozid gelten könnte. Es ist aber eine Tatsache, dass etwa 3000 Zivilisten vor allem in Donezk durch den Beschuss der ukrainischen Armee und der nationalistischen Bataillone getötet wurden. Darüber wurde kaum berichtet, obwohl das auch jetzt weitergeht. Obgleich die ukrainische Armee sich von Kontaktlinie zurückgezogen hat, beschießen sie weiter diese Gebiete, was immer noch zu vielen zivilen Opfern führt.
“Viele Russen betrachten das als Verteidigungskrieg”
Wobei Kiew immer sagt, die Opfer seien auf der ukrainischen Seite durch den Beschuss der Separatisten zu beklagen.
Andrei Nekrasow: Im Westen mag man nicht gerne davon sprechen. Man macht aus den zivilen Opfern von beiden Seiten eine gemeinsame Zahl. Aber ich habe die Situation genau verfolgt und weiß dass es die meisten zivilen Opfer von 2014 bis heute im Osten gab. Auch weil Donezk eine große Stadt ist. Wenn man die beschießt, gibt es mehr Opfer.
Ich glaube die russische Propaganda nicht, und ich bin ein erfahrener Propaganda-Analytiker von beiden Seiten, aber heute wird man nichts über die Opfer im Osten in westlichen Medien finden, nur die Opfer der russischen Angriffe. Und das ist schlimm, denn es war die ukrainische Armee, die auf die eigene Bevölkerung geschossen hat. Das ist auch deshalb schlimm, weil in dieser Situation einseitige Informationen einer Lüge gleichkommen.
Offiziell heißt es ja, dass das alles Terroristen sind …
Andrei Nekrasow: Das ist genau das Problem. Viele Russen betrachten das als Verteidigungskrieg, weil es nicht nur um die Zahlen, also um Tausende, darunter viele Kinder, geht. Das ist bewiesen, das sind keine Fake News, das lässt sich dokumentieren. Es geht aber auch darum, warum das passiert ist. Ich bin hier ein Zeuge. Ich war auf dem Maidan und auf der Seite der Protestierenden, ich dachte, das sei eine gute Revolution. Aber auch einige Ukrainer waren damit nicht einverstanden. Und seien wir ehrlich, Revolution in einer Stadt ist nicht dasselbe wie freie Wahlen. Ich habe mit Ukrainern gesprochen, die gegen den Maidan waren.
Der Hauptgrund ist, dass sich die Russen und die russisch sprechenden Ukrainer angegriffen und geopfert fühlen. Sie sehen sich als Opfer einer Diskriminierung, einer ethnischen Diskriminierung. Das ist ganz klar, darüber muss man sprechen. Manche nennen das Nazismus. Ich würde einen solchen Begriff nicht verwenden. Faschismus ist, wie Camus sagte, Verachtung.
Ich bin ein Zeuge, dass meine ukrainischen Bekannten die Menschen im Osten als minderwertig betrachteten. Gerade diese Leute meinten das vielleicht nicht so schlimm, sie verwendeten alle möglichen Argumente, beispielsweise dass sich im Osten das Lumpenproletariat konzentriert habe. Aber wo ist diese genaue Grenze? Wo ist die genaue Grenze zwischen schlimm und nicht so schlimm? Ist „Ukraina über alles“ OK? Das habe ich in der Ukraine die ganze Zeit gehört. Auch: „Die Russkis sollten gehängt werden.“
Du meinst, dass viele Russen wegen dieser Unterdrückung oder Diskriminierung hinter dem Krieg stehen, aber nicht wegen der Sicherheitsforderungen für Russland, die der Kreml aufgestellt hat?
Andrei Nekrasow: Das spielt auch eine Rolle. Ich habe zuerst von der Diskriminierung der Menschen im Osten als minderwertig gesprochen, weil mich persönlich das schockiert hat und ich das persönlich gehört habe. Wenn ich Präsident Russlands wäre, gibt es auch eine Logik. Putin würde sagen, wenn es in Mexiko eine Revolution gäbe und dann von Russland oder China Raketen installieren würden, was würde dann die amerikanische Regierung machen? Was würde die britische Regierung machen, wenn in Irland die Stimmung so antibritisch wird, dass eine Kriegsgefahr droht? Putin scheint sich auch Sorgen um die Biowaffenforschung in der Ukraine zu machen. Das ist Putins Logik, wozu auch gehört, dass sich die Nato nicht nach Osten erweitert. Ich habe eine Serie für Arte gemacht und mit vielen Menschen gesprochen, wo es klar wurde, dass eine ganze Reihe von westlichen Politiker den Russen versprochen haben, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. Das Hauptargument ist jetzt, dass die zwar das gesagt …
Aber nicht schriftlich zugesagt haben …
Andrei Nekrasow: Sie sagen sogar das nicht. Der damalige US-Außenminister Baker hatte das berühmte Versprechen gemacht, keinen Zentimeter nach Osten zu gehen („not an inch“). Das habe er zwar gesagt, sagen sie, und auch nicht von Deutschland gesprochen, aber er habe das nur innerhalb Deutschlands gemeint. Und Gorbatschow selbst habe das bestätigt. Die meisten Russen hassen Gorbatschow, er ist für sie ein Verräter. Aus amerikanischer Sicht heißt es, Gorbatschow habe das so bestätigt und nicht so. Selbst wenn er bestätigt haben sollte, dass nur Deutschland gemeint sei, wäre das absurd, wenn man von der Nato und geopolitischen Verhältnissen spricht, aber dann meint, man gehe nur keinen Inch innerhalb von Deutschland weiter, aber klammert Polen und die baltischen Staaten aus.
Gorbatschow war schon ein alter Mann, er hatte ein Interesse und er war, was auch deutsche Politiker bestätigt haben, völlig unvorbereitet. Aber unabhängig von Gorbatschow gibt es einen common sense und eine Ehrlichkeit. Als Jelzin 1991 vor dem amerikanischen Kongress eine Rede gehalten und erklärt hat, dass der Kommunismus das Böseste war, was der Welt im 20. Jahrhundert passiert ist, sagte er damit, wir Russen sind an allem oder am meisten schuld. Viele Russen haben das nicht gut aufgenommen. Das zeigt aber, wie bereit die Russen waren, mit dem Westen zu kooperieren. Selbst Putin hatte Clinton gefragt, ob Russland Nato-Mitglied werden könne. Es war eine andere Welt. Man kann schon ein bisschen Ehrlichkeit und guten Willen vom Westen erwarten und nicht sagen, damit sei nur Deutschland von Amerikanern gemeint gewesen sein. Die Russen werden das nie akzeptieren.
Offenbar will Putin den östlichen Teil der Ukraine bis Kiew besetzen und wahrscheinlich eine Moskau-freundliche Regierung einsetzen.
Andrei Nekrasow: Ich denke, es ist ein sehr riskanter Plan. Die russische Regierung will die militärische Kapazität der Ukraine zerstören. Aber die Gesellschaft zu managen ist weitaus schwieriger. Kriege sind einfach zu beginnen und fast unmöglich zu beenden. Die Russen, für die es sich um einen Verteidigungskrieg handelt, glauben, dass die meisten Ukrainer eine Neutralität des Landes unterstützen werden. Das ist die Hoffnung. Aber ein Krieg macht Feinde. Selbst die prorussischen Ukrainer …
… die jetzt auch bombardiert werden …
Andrei Nekrasow: … werden jetzt zu Feinden. Deswegen muss man tausendmal nachdenken. Vielleicht haben sie das im Kreml, aber wahrscheinlich war es ein Fehler.
“Porsche liefert keine Autos mehr. Die wahren Russen freuen sich”
Es sieht ja so aus, dass die USA im Verein mit Europa versucht, Russland mit allen möglichen Sanktionen und Mitteln zu isolieren. Es werden die Flugverbindungen abgeschnitten, die Finanzen und Wirtschaft sowieso. Es soll den Russen wehtun. Wird das in Russland einen Widerstand erzeugen oder zu einer Wut gegen Putin führen?
Andrei Nekrasow: Wir hatten 2010 und 2011 wirklich eine große Oppositionswelle in Russland. Damals kam die Opposition einem Erfolg am nächsten. Man sprach tatsächlich auch schon von einer Revolution. In Russland gab es aber zweimal eine erfolgreiche Revolution, im Ersten Weltkrieg und 1991, das war im Kalten Krieg und nach der Niederlage im Afghanistan-Krieg. Da kam eine sehr lange Liste von Faktoren zusammen, die das kommunistische System an sein Ende kommen ließen. 2010/2011 gab es nicht ein Prozent von diesen Faktoren. Jetzt aber gibt es Krieg. Das erweckt bei Oppositionellen und dem Westen vielleicht Hoffnung, dass jetzt die Chance eines Regierungswechsels, eines Regime Change, kommt.
Russland ist kein Irak und keine Ukraine, man kann es nicht bombardieren. Man hasst Putin, er ist die Inkarnation des Bösen. Die Hoffnung ist, dass Russland ökonomisch und politisch so weit kommt, dass die Menschen sich erheben. Für mich ist das ein Denkfehler. Ich kann nicht sagen, dass es nicht passieren wird, aber im Moment ist die Kalkulation falsch. Das hat damit zu tun, dass man Russland kulturell, sogar anthropologisch nicht versteht. Warum wächst jetzt die Zustimmung zu Putin? Hat die Mehrheit nur Angst? Nein.
Der Westen in Form seiner Medienkorrespondenten in Moskau, spricht mit den Oppositionellen oder mit Leuten, die wie ich im Westen leben. Aber man versteht die Mehrheit nicht. Den Westen und die russische Oberschicht eint der bürgerliche Lebensstil und die bourgeoise Weltanschauung. Die russische Mehrheit ist aber anti-bourgeois. Sie freut sich über die Sanktionen, die die Oberklasse, die Oligarchen und auch die obere Mittelklasse treffen. Sie freuen sich, und unterstützen auch deshalb den Krieg.
Sie freuen sich also, dass die Elite leidet?
Andrei Nekrasow: Natürlich. Nicht nur die Elite, die Bourgeoisie. Die westlichen Politiker sind keine Intellektuellen, man macht nur Karriere, weil man diese mittelmäßigen Attitüden vertritt. Solche Krisen sind nicht politisch zu begreifen, man muss philosophisch denken. Das russische Volk hat immer noch diese tiefe anti-bourgeoise Sensibilität. Die russische Intelligenz hat Angst vor diesen Leuten. Die Spaltung der Gesellschaft zwischen der Aristokratie, den Landbesitzern, den Intellektuellen und dem Volk, wie man das aus der russischen Literatur kennt, das ist noch immer da in einer anderen Version. Man könnte die anti-bourgeoise Haltung der Mehrheit vielleicht als Ressentiment bezeichnen und sie negativ ansehen, aber was wird das ändern? Sicherlich werden die Sanktionen und die westliche Moralpredigt das russische Volk nicht verändern. Weil sie die Predigt für Heuchelei halten.
Selbst wenn es unbequem für sie wird, werden sie das überstehen, weil sie darin gut sind, weil sie sich mobilisieren. Porsche liefert keine Autos mehr, sie lachen. Die wahren Russen freuen sich. Und das sind die gleichen, die den Krieg als Verteidigungskrieg betrachten und die ukrainischen Nationalisten, die zurück in die europäische Familie wollen, ablehnen. „Europäische Familie“ klingt gut? Nicht unbedingt, sie war auch eine Kolonialmacht, die arrogant gegenüber denen war, die nicht dazugehören.
Die Menschen sehen auch die Nato zusammen mit der ökonomischen Macht des Westens. Die Tatsache, dass der Westen so viele Sanktionen einsetzen können, macht die Assoziation Nato und ökonomische Macht glaubwürdig als zwei Seiten der Aggression. Der Krieg im Irak basierte auf einer Lüge, und Hunderttausende wurden getötet. Das ist bekannt und akzeptiert. Niemand hat aber Sanktionen gegen die USA und ihre Koalition verhängt. Das ist nicht möglich. Der Westen ist der Herr des Weltkapitalismus. Das zwingt die Russen, über Alternativen nachzudenken. Es gibt Alternativen, es gibt China, es gibt auch eine russische Mischung aus kommunistischen und konservativen Werten. Man überlegt auch, wie man sich von diesem westlichen Kapitalismus befreien und diesen schädigen kann.
Russland ist relativ schwach, aber, sorry für die Plattitüde, was sie nicht umbringt, macht sie stärker. Das Albtraumszenario für den Westen wäre ein Bündnis von Nationen und unterschiedlichen Kulturen, die gegen die zivilisatorische Vorherrschaft und Arroganz des Westens rebellieren. Der Westen behauptet, Russland sei völlig isoliert, unterschätzt aber womöglich die weltweiten Ressentiments des Underdogs. Selbst wenn Russland in der aktuellen Konfrontation mit dem Westen verliert, wird die Weltordnung, meiner Meinung nach, nicht einfach zum liberalen Business-as-usual zurückkehren. Und eine Niederlage Russlands, die zum Beispiel in einen Bürgerkrieg mündet, kann sogar für die europäischen Nachbarn noch schlimmer ausfallen als sein Sieg.
Das Gespräch wurde am 5. März um 16 Uhr geführt. Am 9. März wurden einige Korrekturen vorgenommen.
Andrei Nekrasow, geb. 1958, ist ein russischer Drehbuch- und Bühnenautor, Film- und Theaterregisseur und Philosoph, der 1980 aus Russland ausgewandert ist, aber sich beständig mit Russland kritisch beschäftigt hat. Er hält sich gerade in einem neutralen Land auf, mehr wollte er nicht sagen. Nekrasow war Assistent von Andrei Tarkowski. Er drehte vor allem Doku-Filme wie “Disbelief” (1999), “Rebellion. Die Affäre Litwinenko”(2007), “Russian Lessons” (2010), die ATRE-Serie “Lebt wohl, Genossen!”, für die er den Grimme-Preis erhielt, oder “In Search of Putin’s Russia” (2015) . In seinem umstrittenen Film “Der Fall Magnitski” (2016) deckte er die Inszenierung von Bill Browder auf, der sich in Russland in den wilden 1990er Jahren bereichert hatte und dann als Menschenrechtler positionieren konnte.
Eine sehr ausgewogene Schilderung Russlands und der aktuellen Situation. Es ist die Perspektive und es sind die Argumente die man einnimmt und Einnehmen muss, wenn man einige Jahre in Moskau gelebt hat. Und das auch als westlicher Businessman. Man spürt dann richtig diese westliche Arroganz und deren Kehrseite, die Demütigung derer, die nicht dazu gehören. Die westliche Ideologie von Wohlstand durch wirtschaftliches Wachstum und Demokratie ist aber wohl auch so erfolgreich, weil sie einen evolutionären Trieb nach “angenehmer Reproduktion” befriedigt. Es ist damit auch ein Marktphänomen.
“Wohlstand durch Wirtschaftswachstum und Demokratie” basiert auf der Politik des Neokolonialismus. Wie unterscheiden sich die jüngsten Entwicklungen von den Kreuzzügen? Es ist eine gute Idee, eklatanten Raubbau zu vertuschen. Es hat sich nichts geändert. Und Sie werden Ihre Häuser auch nur mit Brennholz heizen können.
Aber nicht für alle, sondern nur für diejenigen, die von ihrem stern-gestreift Lehnsherr dazu ermächtigt werden.
“Wohlstand durch Wirtschaftswachstum und Demokratie” basiert auf der Politik des Neokolonialismus. Wie unterscheiden sich die jüngsten Entwicklungen von den Kreuzzügen? Es ist eine gute Idee, eklatanten Raubbau zu vertuschen. Es hat sich nichts geändert.
Andrei Nekrasow grossen Dank. Er hat hier in bemerkenswert offener und ehrlicher Weise mehr oder weniger implizit auch den Werdegang seiner politischen Ansichten dargestellt. Dazu gehört Mut.
Wenn es mehr solche differenzierten Menschen gäbe, ständen wir heute woanders. Aber nun ist der Moment der Intransigenz, des manichäischen Ganz schwarz contra Blendend weiss.
Der Mensch ist nicht das Subjekt seiner Geschichte. Sie stösst ihm zu, ist ihm äusserlich, wie eine Naturkatastrophe.
Man muss sich doch die Frage stellen, warum unsere Medien ein derart verzerrtes Bild von Russland malen. Schlechter Journalismus reicht nicht als Erklärung.
Ich glaube, dass man sich gemein gemacht hat mit einer “guten Sache” und dass man selbst aktiv Politik gestalten will, weil man die Narrative gestaltet.
Nur ein Beispiel – Gerhard Schröder. Gerhard Schröder gerät jetzt in die Schusslinie der Medien, weil er unverbrüchlich zu Putin hält. Öffentlich werden alle möglichen Vorwürfe konstruiert und Strafen für ihn gefordert. All dies aber ohne wirklichen Wert, dabei gibt es etwas mit dem man ihn vor Gericht bringen könnte. Es gibt sogar ein Geständnis seinerseits. Auf die Frage, ob der Krieg der NATO gegen Jugoslawien ein Angriffskrieg war, lautete seine Antwort: Klar war das ein Angriffskrieg. Das verstösst gegen das Grundgesetz.
Das wird aber nicht genutzt, weil er nicht allein war. Da waren noch diverse Politiker und fast alle Medien im Boot. Und was bliebe vom Narrativ der friedlichen NATO, dem Verteidigungsbündnis? Und was von dem schönen Grundsatz, alle seien gleich vor dem Gesetz?
Wir leben in einem ideologischen Kartenhaus. Wir können Putin nicht objektive oder rationale Gründe für diesen Krieg, den wir nicht vermeiden wollten, zubilligen. Also müssen wir uns die Gründe ausdenken und darüber spekulieren, ob er einen Dachschaden hat, oder größenwahnsinnig ist oder ein Wiedergänger von unserem grössten Führer. Deshalb darf es in der Ukraine auch keine Nazis geben. usw.
Die anfängliche Lüge bestimmt im Verlauf jede Interpretation jedes Ereignisses.
sehr interessant
Das Problem ist der westliche Imperialismus mit seinem Weltbild aus dem 19. Jahrhundert, der gerade zum Faschismus mutiert. Leider wird das auch hier wieder nicht angesprochen, der Interviewpartner ist eher als Nazi-Versteher einzuordnen.