Die israelischen Knesset-Wahlen 2022 und der Rechtsruck der gesamten israelischen Gesellschaft

Wahlkabine für die Knesset-Wahl 2022. Bild: Hanay/CC BY-SA-4.0

Der Wahlausgang hat viele in Israel “überrascht” und “betroffen” gemacht. Warum denn eigentlich?

 

Wovon waren die Israelis, die sich über den Wahlausgang am Mittwochmorgen entsetzt gaben, so überrascht? Gab es irgendetwas an den Resultaten, das nicht schon seit Wochen und Monaten auf der Wand geschrieben stand? Konnte man wirklich überrascht sein, wenn man die politischen Geschehnisse der letzten Monate in Israel verfolgt hatte?

Die Antwort auf diese Fragen erübrigt sich. Seit Monaten wird das gewaltige Erstarken der israelischen Faschisten und Rassisten Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smortich in den Medien thematisiert. Bekannt ist auch seit langem das Engagement Benjamin Netanjahus beim (taktischen) Zusammenschweißen der beiden von ihnen angeführten rechtsradikalen Parteien.

Gleichfalls geläufig ist die akute Schwäche derer, die man “zionistische Linke” zu nennen pflegt. So auch die vergebliche, leicht erbärmlich wirkende Ambition Yair Lapids, Netanjahu den politischen Rang abzulaufen. Man weiß ja, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber es gibt Zeiten, in denen die Hoffnung sich lediglich als Verdrängungsmechanismus ausnimmt. Das darf zwar eine politische Partei nicht offiziell zugeben, vielleicht auch ihre treuen Anhänger nicht, aber überrascht darf man sich nicht geben, wenn das eintritt, was (wie immer öffentlich uneingestanden) antizipiert worden ist.

Denn eines konnte man schon seit Jahren in Israel nicht leugnen: die massive Faschisierung und Klerikalisierung eines Großteils der israelischen Gesellschaft. Man wusste um den virulenten Alltagsrassismus der Rechten; um die unbeugsame Treue zu dem der Korruption, des Betrugs und der Veruntreuung angeklagten Führers der rechten Lagers; um die perfiden “deep state”-Konspirationstheorien, die es ihm ermöglichten, alle gegen ihn erhobenen Anwürfe als Lügen abzuschmettern; um seine in persönlichen Interessen wurzelnden Bemühungen, das israelische Rechtssystem zu erschüttern, mithin die parlamentarische Gewaltenteilung aus den Fugen geraten zu lassen; um seine in der Tat meisterlichen demagogischen Fähigkeiten, Hass, Hetze, Verleumdung und Diffamierung gegen seine Gegner einzusetzen.

Man wusste auch, dass es ihm sowohl als Regierungschef als auch als Oppositionsführer gelungen war, den schieren Begriff der “Okkupation” von Israels politischer Tagesordnung hinwegzufegen; die Araber Israels allesamt als Terroristen zu verunglimpfen und gegen sie aufzuwiegeln, wenn es ihm politisch zupass kam; das Wort “Linke” als Schmähbegriff zu etablieren, und zwar so gründlich, dass selbst die zionistische “Linke” sich hütete, sich als solche auszugeben; und sich selbst unentwegt als Opfer der Heimtücke von “Linken” und feindlichen “Arabern” dazustellen.

Bekannt war auch, dass Netanjahu sich die Orthodoxen und Nationalreligiösen der israelischen Politlandschaft zu seinen “natürlichen Verbündetet” erkoren hat. Auf sie konnte er sich stets verlassen, und wenn es nötig wurde, gab er sich auch mal religiös, wie er, der aschkenasische Jude, es denn auch immer wieder verstand, sich als ranghoher Sachwalter der orientalisch-jüdischen Wählerschaft in Szene zu setzen. Es war in der Tat faszinierend zu beobachten, welche demagogische Tricks er dabei verwendete, vor allem aber, mit welcher Emphase sich seine orientalisch-jüdischen Verbündeten und getreuen Diener nachgerade überschlugen, diese schon erbärmlich wirkende Farce zu rationalisieren und rechtfertigen.

Der sich in den Wahlergebnissen symptomatisch niederschlagende Rechtsruck der gesamten israelischen Gesellschaft verband sich demnach primär mit der Tatsache, dass es in Israel keine Unterschiede mehr gibt zwischen einer authentischen Linken und den ideologischen Rechten. Auch die, die hierzulande als “links-mitte” apostrophiert werden, sind letztlich Rechte, wenn es um sozial-ökonomische Belange oder um die Ausrichtung auf die Besatzung und den Konflikt mit den Palästinensern geht. Alle sind mehr oder minder (eher mehr als minder) rechts.

Entsprechend ging es im Wahlkampf  um keinen Gesinnungsanspruch, sondern in erster Linie um den Kampf zwischen den beiden Blöcken der Netanjahu-Anhänger und seinen Gegnern. Schon lange war eine israelische Wahlkampagne nicht dermaßen zugespitzt personalisiert. Netanjahu gerann gleichsam zum Kriterium der politischen Ausrichtung in Israel.

Wenn sich also Israelis nach der langen Wahlnacht “überrascht” gaben, dass der ehemals politisch tabuisierte Kahanismus zu drittstärksten Partei Israels avanciert ist und nun großmäulig seine Herrschaftsansprüche artikuliert, dann ist dies einzig darauf zurückzuführen, dass diese Israelis über lange Monate schlicht “ignoriert” haben, dass der Kahanismus schon längst die israelische Gesellschaft durchwirkt, vor allem aber, dass ihn Netnajahu salonfähig gemacht hat. Welche Motive den Oppositionsführer dabei angetrieben haben mögen, spielt keine Rolle; seine Bemühungen bei diesem interessengeleiteten politischen Unterfangen, fielen objektiv auf fruchtbaren Boden. Der nunmehr begeistert bejubelte Ben-Gvir ist das bemerkenswerte Symptom einer ideologischen Stimmung, nicht minder aber auch das Resultat einer perfiden Manipulation des wieder an die Macht gelangten Benjamin Netanjahu.

Ob er dabei die Geister, die er rief, wieder los wird, ist gegenwärtig nicht ausgemacht. Zu sehr hat sich der Kahanismus über die partikularen Intentionen Netanjahus hinaus verselbständigt und in das politische Gewebe Israels eingefräst. Was es mit der massiven (von Itamar Ben-Gvirs verbündeten Bezalel Smotrich symbolisierten) Kleriklisierung auf sich hat, bedarf einer gesonderten Erörterung und soll nächste Woche analysiert und dargelegt werden.

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5 Kommentare

  1. Ein sehr gut geschriebener Artikel, vielen Dank dafür Herr Zuckermann
    Mich würde mal interessieren was es mit dem Talmund und der Tora auf sich hat?
    Denn, einige versuchen sich mit Erklärungen, aber wie sieht das aus aus der jüdischen Sicht?
    Vielleicht ist jemand hier der die ganzen, zum Teil im Artikel erwähnt, erklären kann wo letztendlich das Juden sein herstammt…

  2. Ob das alles, 5 oder 6 Wahlen in 2 Jahren, nach dem Sinn der Bürger, der arbeitenden Bevölkerung ist, darf bezweifelt werden. In Deutschland kosten solche Regierungswechsel ja immer auch einige 100 Millionen, das wird in Israel nicht viel anders sein. Zänkisches Politgesochs kämpft um die Fleischtöpfe, und der hart arbeitende Einzelne darf sich als Geisel fühlen.
    Dass dann Einige ein „autokratisches“ Regime vorziehen, sollte nicht in Erstaunen versetzen.

  3. Ich finde eigentlich die Artikel von M. Z. Immer sehr anregend. Im konkreten Fall ist es für mich aber so, dass ich 5 oder 6 andere Artikel lesen müsste + Wiki-Konsultationen, um ihn zu verstehen, Stichwort Kahaninsmus.

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