Die „Besessenheit“ der USA, eine engere Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland zu verhindern

Bild: 128th Mountain Assault Brigade.

Jacques Baud über den Ukraine-Krieg, die Sicht der USA, die Verblendung der Europäer, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur und den Wert der Neutralität für die Schweiz.

 

Zeitgeschehen im Fokus/Thomas Kaiser:  Die New York Times vom 20. Mai hat in einem Editorial den Sinn der US-amerikanischen Kriegsstrategie in der Ukraine in Frage gestellt und ein weiteres Engagement hinterfragt. Wie muss man das verstehen?

Jacques Baud: In der angelsächsischen Welt wird die Strategie der USA und der Europäischen Union von Militärs und Geheimdienstlern zunehmend in Frage gestellt. Dieser Trend wird durch die amerikanische Innenpolitik noch verstärkt. Republikaner und Demokraten haben eine sehr ähnliche Sicht auf Russland. Der Unterschied liegt jedoch in der Effizienz der Investitionen zur Unterstützung der Ukraine. Beide teilen das Ziel eines „Regimewechsels“ in Russland, aber die Republikaner stellen fest, dass die ausgegebenen Milliarden dazu tendieren, sich gegen die westliche Wirtschaft zu richten. Mit anderen Worten: Man scheint das Ziel nicht erreichen zu wollen, während unsere Volkswirtschaften und unser Einfluss schwächer werden.

Dann haben die Republikaner kaum eine andere Position als die Demokraten?

Jacques Baud: In Europa neigen wir dazu, die Republikaner und die Demokraten als die politische „Rechte“ und „Linke“ zu sehen. Das ist nicht ganz richtig. Zunächst einmal muss man sich daran erinnern, dass historisch gesehen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Republikaner „links“ und die Demokraten „rechts“ waren. Heute unterscheiden sie sich weniger in ihrer Vision der Vereinigten Staaten in der Welt als vielmehr in der Art und Weise, wie sie diese Vision erreichen wollen. Deshalb gibt es Demokraten, die weiter rechts stehen als Republikaner, und Republikaner, die weiter links stehen als Demokraten.

Was bedeutet das für die Ukraine-Krise?

Jacques Baud: Die Ukraine-Krise wurde von einer kleinen Minderheit von Demokraten gemanagt, die Russland hasst. Sie strebt eher eine Schwächung Russlands als eine Stärkung der USA an. Die Republikaner stellen fest, dass dies nicht nur nicht funktioniert, sondern auch zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit der USA führt. Die bevorstehenden Midterm-Wahlen und die wachsende Unbeliebtheit von Joe Biden nähren die Kritik an der US-Strategie in der Ukraine.

Viele europäische Politiker „sind sehr jung, haben keine Erfahrung und sind ideologisch festgelegt“

Findet dieses „Umdenken“ nur in den englischsprachigen Medien statt?

Jacques Baud: In den französischsprachigen Medien in der Westschweiz, in Frankreich und in Belgien folgt die Rhetorik getreu dem, was die ukrainische Propaganda sagt. Man zeigt uns eine fiktive Realität, die uns einen Sieg gegen Russland ankündigt. Das Ergebnis ist, dass wir nicht in der Lage sind, der Ukraine bei der Überwindung ihrer realen Probleme zu helfen.

Sieht man das in der EU auch so?

Jacques Baud: Ja, es herrscht dort eine allgemeine antirussische Stimmung. Man ist royalistischer als der König. Das betraf bereits das Ölembargo. Die US-Finanzministerin Janet Yellen hat der EU von einem Ölembargo abgeraten. Aber die EU wollte das trotzdem machen. Damit ist offensichtlich, dass es in der EU eine gewisse Dynamik gibt, die der Generation der momentanen politischen Führungskräfte entspricht. Diese Personen sind sehr jung, haben keine Erfahrung, sind ideologisch aber festgelegt. Das ist der Grund, warum man in Europa die Lage nicht richtig beurteilen kann.

Was hat das für Folgen?

Jacques Baud: In Europa liegt unser Verständnis des Problems hinter dem der USA zurück. Wir sind nicht in der Lage, die Situation in Ruhe zu diskutieren. In den französischsprachigen Medien ist es unmöglich, einen alternativen Blick auf die Probleme zu werfen, ohne als „Putins Agent“ bezeichnet zu werden. Dies ist nicht nur eine intellektuelle Frage, sondern vor allem ein Problem für die Ukraine. Indem sie die von der ukrainischen Propaganda vorgeschlagene Sichtweise bestätigten, haben unsere Medien die Ukraine zu einer Strategie gedrängt, die sehr viele Menschenleben kostet und zur Zerstörung des Landes führt. Unsere Medien sind der Meinung, dass diese Strategie Wladimir Putin schwäche und dass man diesen Weg weitergehen solle. Doch die Amerikaner scheinen erkannt zu haben, dass dies eine Sackgasse ist, denn Joe Biden erklärte, dass die Militärhilfe für die Ukraine lediglich dazu diene, die Verhandlungsposition der Ukraine zu stärken.

Wie ist die Betrachtung in den USA?

Jacques Baud: In den USA muss man zwischen der Regierung und den Kreisen des Militärs und der professionellen Geheimdienstler unterscheiden. Bei letzteren wächst der Eindruck, dass die Ukraine mehr unter der westlichen Strategie als unter einem Krieg mit Russland leiden wird. Das klingt paradox, wird aber von immer mehr Menschen erkannt. In der französischsprachigen Schweiz – das ist meine Erfahrung – nehmen die Menschen das nicht wahr. Sie folgen dem, was die US-Regierung sagt. Das ist eine intellektuell begrenzte, extrem primitive, extrem dogmatische und letztlich extrem brutale Sichtweise gegenüber den Ukrainern. Es ist – auch hier – eine Sichtweise, die königlicher als der König ist, denn die Amerikaner scheinen zu verstehen, dass ihr Ansatz zu einem Misserfolg führt.

Was heißt das konkret?

Jacques Baud: Betrachten wir die Situation in Mariupol. Unsere Medien scheinen zu bedauern, dass sich die Kämpfer der Asow-Formation ergeben haben. Sie bedauern sie. Sie hätten es vorgezogen, wenn sie gestorben wären. Das ist extrem unmenschlich. Nun hatte ihr Kampf aber keinen Einfluss mehr auf die Situation. Wenn man die Westschweizer Medien liest, hätten sie bis zum Tod kämpfen sollen, bis zum letzten Mann. Die Westschweizer Medien hätten bei der Verteidigung von Berlin im April 1945 eine „wunderbare Arbeit“ leisten können! Durch eine Ironie der Geschichte sind die beiden Situationen sehr ähnlich. Die Lage in Berlin war damals völlig aussichtslos, und unter den letzten Kämpfern des Dritten Reiches – den letzten Verteidigern des Führers – waren französische Freiwillige der Division „Charlemagne“!

„Die Freiwilligen wie Asow kämpfen nicht für die Ukraine, sondern gegen Russland“

Was bedeutet der Einsatz solcher Freiwilliger?

Jacques Baud: Das ist etwas Besonderes, denn sie ziehen nicht aus patriotischer Pflicht in den Kampf, sondern aus Überzeugung, aus Dogmatismus, und das ist genau die gleiche Mentalität wie bei einigen unserer Medien. Ein Soldat, der sein Land verteidigt, tut dies nicht aus Hass auf den Gegner, sondern aus Pflichtgefühl und Respekt für seine Gemeinschaft und sein Land. Ein Freiwilliger, der sich politisch engagiert, wie seinerzeit die Freiwilligen der SS-Division „Charlemagne“, folgt einer Art Berufung zum Kämpfen. Es ist ein anderer intellektueller Mechanismus.

In der Ukraine ist das Gleiche zu beobachten. Diese Freiwilligen der Asow-Bewegung, die von einigen Westschweizer Politikern als „Republikaner“ bezeichnet werden, drohten, Selenskij zu töten, weil er die Kapitulation von Mariupol akzeptiert hatte. Diese Freiwilligen kämpfen nicht für die Ukraine, sondern gegen Russland. Das ist die gleiche Geisteshaltung wie diejenige der Journalisten in der Westschweiz. Sie sind genauso vehement gegen Putin wie diese freiwilligen Kämpfer.

Was steckt hier für ein Weltbild dahinter?

Jacques Baud: Natürlich stört dieses Ereignis [die Kapitulation Mariupols] das Narrativ, dass die Ukraine sich heldenhaft verteidige und ihre Entschlossenheit die Niederlage Russlands herbeiführe. Der kleine David (Ukraine) verteidigt sich gegen Goliath (Russland) und hat Erfolg. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Immer mehr Soldaten der regulären Armee sagen, dass sie nicht mehr kämpfen wollen. Sie fühlen sich von der Führung im Stich gelassen. Außerdem haben die Russen den Ruf, ihre Gefangenen gut zu behandeln. Diejenigen, die noch kämpfen wollen, sind die paramilitärischen Freiwilligen. Es wurde der Mythos eines siegreichen Widerstands geschaffen, doch heute fühlen sich die ukrainischen Militärs betrogen. Dass die Ukraine diesen Krieg verliert, ist paradoxerweise vielleicht zum großen Teil auf das von unseren Medien verbreitete Narrativ zurückzuführen.

„Die Nato ist grundsätzlich eine nukleare Organisation“

Dass man die Realität verkennt, sehen wir doch auch bei der Nato. Die Verantwortlichen erklären nur zu gerne, dass die Nato den Frieden erhalte und den Menschen Freiheit und Sicherheit in Europa gewährleiste …

Jacques Baud: Diese Aussagen müssen relativiert werden. Zunächst einmal ist die Nato keine Friedensorganisation. Die Nato ist grundsätzlich eine nukleare Organisation, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte. Das ist der Sinn und Zweck der Nato: die Verbündeten unter den nuklearen Schirm zu stellen. Die Nato wurde 1949 gegründet, als es nur zwei Atommächte gab – die USA und die UdSSR. Zu diesem Zeitpunkt war eine Organisation wie die Nato gerechtfertigt. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gab es Menschen, die den Krieg wollten. Das war unter Stalin der Fall, aber auch in den Vereinigten Staaten.

Einige westliche politische Verantwortliche wollten den Krieg weiterführen?

Jacques Baud: Ja, das war der Grund, warum Winston Churchill einen Teil der deutschen Wehrmacht, die sich ergeben hatte, nicht entwaffnen wollte. Man rechnete mit einem Krieg gegen die Sowjetunion. Die Idee eines nuklearen Schutzschirms konnte unter diesen Umständen gerechtfertigt werden. Doch mit dem Ende des Kalten Krieges, als sich der Warschauer Pakt auflöste, verblasste diese Rechtfertigung.

„Sicherheit durch Zusammenarbeit und nicht durch Konfrontation“

Hätte man vollständig auf eine militärische Organisation verzichten können?

Jacques Baud: Es ist sicherlich notwendig, eine Organisation für kollektive Sicherheit in Europa zu haben. Es ist unbestritten, dass bestimmte Vorkehrungen für eine gemeinsame Verteidigung getroffen werden sollten. Diese Idee ist relativ gut akzeptiert. Das Problem liegt eher in der Form dieser Organisation und in der Art und Weise, wie die Verteidigung konzipiert werden soll.

Was hätte mit Russland passieren müssen?

Jacques Baud: Seit Anfang der 1990er Jahre hatten die Russen eine Vorstellung von der Sicherheit in Europa, die sich auf die OSZE stützte: Sicherheit durch Zusammenarbeit und nicht durch Konfrontation. Darum waren die Russen damals daran interessiert, der Nato beizutreten. Aber das eigentliche Konzept der Nato mit einer dominanten Macht, die an die Natur der Organisation gebunden ist, kann die russische Perspektive nicht integrieren. Wenn man sich die aktuellen Herausforderungen in der Welt ansieht, könnte die russische Vision als viel realistischer als die westliche Vision angesehen werden.

Warum schätzen Sie das so ein?

Jacques Baud: Die Menschheit steht vor vielen komplexen Herausforderungen. Wir vergessen, dass die Nato 1967 den „Harmel-Bericht“ veröffentlichte, in dem sie über ihre Zukunft nachdachte. Dies ist nun mehr als 50 Jahre her. Dieser Bericht war beispielhaft und sehr modern. Die Nato beschrieb darin alle aktuellen und zukünftigen Herausforderungen und legte bestimmte Leitlinien für die Entwicklung der Organisation fest. Er war zukunftsorientiert, so dass ich darin ein Modell dafür sehe, wie die Nato aussehen könnte. In diesem Bericht wurde das Sicherheitskonzept neu durchdacht. Das heißt, man findet dort Umwelt- und Sozialprobleme, die in das Sicherheitskonzept integriert wurden. Wenn ich mir die Probleme ansehe, mit denen wir weltweit, aber auch insbesondere in Europa konfrontiert sind, bietet der „Harmel-Bericht“ viele Denkanstöße und Ideen.

„Panzer, Artillerie, Flugzeuge bestimmen noch immer das Denkmodell der Nato“

Was ist mit dem Bericht bzw. seinen Ideen passiert?

Jacques Baud: Der Golf- und dann der Balkankrieg haben uns wieder in konventionelles Denken versetzt. Die Nato hat also die Chance verpasst, in eine neue Richtung zu denken. Panzer, Artillerie, Flugzeuge usw. bestimmen noch immer das Denkmodell der Nato. Dieses Modell war nicht nur für die Kriege in Afghanistan und im Irak ungeeignet, sondern die Nato hat auch nicht wirklich die richtigen Lehren aus diesen Kriegen gezogen. So haben wir Leid und Elend vergrößert, ohne den Terrorismus einzudämmen. Dies ist ein völliges Versagen auf operativer, strategischer, intellektueller und menschlicher Ebene.

Worin sehen Sie die Ursache für dieses offensichtliche Versagen?

Jacques Baud: Das Konzept des Krieges war nicht an die Realitäten angepasst. Die Nato ist eine regionale Sicherheits- und Verteidigungsorganisation. Sie wurde 1949 für einen Krieg in Europa mit Atomwaffen, Panzern, Artillerie usw. konzipiert. In Afghanistan gab es jedoch keine Atomwaffen, Panzer oder Jagdbomber. Das ist eine ganz andere Art von Krieg. Aber die Nato hat das Problem nicht erkannt.

Warum hat die Nato die Situation nicht richtig erfasst?

Jacques Baud: Um es zu vereinfachen, sagen wir, dass ein Krieg in Europa eine technische Herausforderung ist. Ein Krieg in Afghanistan hingegen ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Die Nato hat diesen wichtigen Unterschied nicht verstanden. Ich habe den Krieg in Afghanistan erwähnt, weil die Nato dort als Organisation engagiert war. Beim Irak ist es besser, von „Nato-Ländern“ zu sprechen. Sie haben nicht verstanden, dass es verschiedene Arten von Krieg gibt. Die westlichen Armeen sind nicht darauf vorbereitet und haben ein dogmatisches Verständnis von Krieg.

„Die Schwächen der Ukraine sind daher die Schwächen der Nato“

Was heißt das für die Nato?

Jacques Baud: Die Allianz blieb auf dem Stand von 1949, natürlich mit moderneren Waffen, aber die Logik blieb dieselbe. Wir sehen es auch in der Ukraine-Krise. Die Nato ist sicherlich nicht an den Kämpfen beteiligt, aber sie unterstützt durch Ausbildung, Beratung und Aufklärung. Die Schwächen der Ukraine sind daher die Schwächen der Nato. Das war bereits 2014 der Fall. Die ukrainische Armee war schlecht beraten. Seitdem hat die Nato immer mehr Ausbilder ausgebildet, die heute die gleichen Fehler machen wie vor acht Jahren. Wir sehen, dass die Kriegskonzeption der Nato unangemessen ist und nicht der Entwicklung folgt. Der Krieg wird wie im Ersten Weltkrieg gedacht. Er wird als ein Kräfteverhältnis betrachtet.

Was müsste hier geschehen?

Jacques Baud: Ich bin der Meinung, dass sich die Nato auflösen sollte, um in einer anderen Form wiedergeboren zu werden. Ich denke, wir brauchen eine Organisation für kollektive Sicherheit in Europa, die von den USA unabhängig ist. Sie muss jedoch auf die modernen Sicherheitsherausforderungen zugeschnitten und in der Lage sein, diese kooperativ zu bewältigen.

Die OSZE wäre eine Alternative zur Nato

Ich möchte gerne auf die OSZE zurückkommen. Sie sagten, dass Russland dieses Modell favorisiere. Wäre das nicht eine Alternative zur Nato?

Jacques Baud: Ja, natürlich. Das war übrigens ein Vorschlag des letzten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Er ließ sich von einer Idee des ehemaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle inspirieren: ein Europa vom Atlantik bis zum Ural. Gorbatschow nannte es „das gemeinsame europäische Haus“. Auch heute noch ist es eine Binsenweisheit: Der beste Weg, um einen Krieg zu vermeiden, sind gute Beziehungen zu den Nachbarländern. Das klingt banal, aber es ist so.

Warum gelingt das den Staaten  nicht?

Jacques Baud: Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste ist die „Besessenheit“ der USA seit den 1970er Jahren, eine engere Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland zu verhindern. Die russische Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ wäre eine Annäherung zwischen Russland und Europa, die die USA nicht wollen. Dies hat sich besonders auf Deutschland fokussiert. Deutschland ist die größte Wirtschaftsmacht in Europa, war in der Geschichte eine starke Militärmacht und hatte eine besondere Beziehung zur Sowjetunion. Die USA hatten immer Angst davor, ein großes Europa als Konkurrenten zu haben.

Der zweite Grund ist, dass die ehemaligen Ostblockstaaten, die heute Teil der EU und der Nato sind, nicht die Absicht haben, sich Russland anzunähern. Ihre Gründe sind historisch, kulturell und politisch. Aber es gibt auch eine Kultur der Unnachgiebigkeit, die seit den 1920er Jahren zu beobachten ist und die auch weiterhin in ihrer Innenpolitik zu sehen ist.

In welcher Beziehung?

Jacques Baud: Zum Beispiel bei der Versorgung mit Gas aus Sibirien. Die US-amerikanischen Argumente gegen „Nord Stream 2“ sind nicht neu. Seit den 60er und 70er Jahren erhielt Deutschland Gas aus Sibirien. Schon damals befürchteten die USA, dass eine engere Zusammenarbeit zwischen der BRD und der UdSSR Auswirkungen auf die Entschlossenheit Deutschlands haben könnte, in der Nato zu bleiben. Daher setzten sie alles daran, die Gaspipelines zu sabotieren.

Ja, daran kann ich mich noch erinnern. Es gab Artikel im „Spiegel“ und in anderen deutschen Zeitungen, die von grausamen Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in Sibirien berichteten etc. Es war eine Stimmung, wie wir sie heute wiederfinden.

Jacques Baud: 1982 unterzeichnete Ronald Reagan einen „Presidential Executive Order“, der die CIA dazu ermächtigte, die Gaspipeline „Brotherhood“ zwischen Urengoi (Sibirien) und Uzhhorod (Ukraine) zu sabotieren. Die Pipeline wurde sabotiert, aber von den Sowjets schnell wieder repariert. Ja, das war die gleiche Rhetorik wie heute. Das ist tragisch, aber wir befinden uns immer noch in der gleichen intellektuellen Dynamik.

Das zeigt doch, dass hier handfeste Interessen der USA tangiert werden, und das wird doch die ganze Entwicklung in Europa beeinflussen.

Jacques Baud: Ja, die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses, wie sie Gorbatschow formuliert hat und wie sie von den Russen favorisiert wird, ist für die USA unvorstellbar. Aus diesem Grund hat Russland immer einen gewissen Respekt vor der OSZE gehabt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hätte man dieses Modell erweitern können, um Sicherheit durch Kooperation und nicht durch Konfrontation aufzubauen. Dies hätte ein tragfähiges Modell sein können. Doch der Nato fehlte die intellektuelle Flexibilität, um sich selbst neu zu überdenken. Die Nato blieb unfähig, ein echtes strategisches Denken zu formulieren. Der Output der Nato ist intellektuell extrem schwach.

„Eine Nato-Mitgliedschaft der Schweiz würde unsere Sicherheit in Frage stellen“

Eine Annäherung der Schweiz an die Nato wäre also definitiv ein Rückschritt in den Kalten Krieg?

Jacques Baud: Nein, nicht wirklich, da wir nie in der Nato waren. Außerdem hat eine Studie der US-Armee aus dem Jahr 2017 ergeben, dass die UdSSR Europa nur deshalb nicht angegriffen hat, weil sie es nie vorhatte. Unsere Sicherheit hängt also nicht von der Nato ab, sondern von unserer Fähigkeit, gute Beziehungen zu unseren Nachbarn zu haben. Ich glaube sogar, dass eine Nato-Mitgliedschaft unsere Sicherheit in Frage stellen würde. Das gilt gleichermaßen für Finnland und Schweden.

Können Sie das genauer erklären?

Jacques Baud: Es gibt zwei Gründe: Erstens könnte die Schweiz als Mitglied an Operationen beteiligt werden, die nicht unbedingt mit ihren eigenen nationalen Interessen zusammenhängen. Im Kampf gegen den Terrorismus beispielsweise verfügt die Nato nicht über die doktrinellen Kapazitäten, um diese Frage wirksam anzugehen. Wenn wir uns an der Seite der Nato engagieren würden, würden wir den Terrorismus nur auf uns ziehen. Das ist zum Beispiel mit Deutschland passiert. Außerdem ist es intellektuell nicht sehr befriedigend, an Niederlagen beteiligt zu sein. Zweitens unsere Neutralität, und ich spreche hier von der Schweizer Neutralität, die im Gegensatz zu anderen Ländern wie Belgien von den europäischen Großmächten bestätigt und international anerkannt wurde. Diese Anerkennung hat uns in den letzten beiden Jahrhunderten erfolgreich geschützt.

Sogar vor Angriffen Nazi-Deutschlands?

Jacques Baud: Das Dritte Reich hatte mindestens drei Operationen gegen die Schweiz geplant, doch Deutschland hatte nie die Gelegenheit, sie umzusetzen. Diese Planung wurde vorgenommen, weil sich die Schweiz nicht gemäß ihrer Neutralitätspolitik verhalten hatte.

In welcher Beziehung?

Jacques Baud: Man darf nicht vergessen, dass sich das Hauptquartier des OSS [Office of Strategic Services] in Europa unter der Leitung von Alan Dulles seit 1942 in Bern befand.

Das OSS war die Vorgängerorganisation der CIA. Der Schweizer Geheimdienst arbeitete mit dem OSS und den britischen Diensten zusammen, um Widerstandsnetzwerke in Deutschland gegen die Nazis sowie in Frankreich und Norditalien zu unterstützen. Darüber hinaus trainierten Angehörige der in der Schweiz internierten 2.  polnischen Infanteriedivision mit Hilfe der Schweizer Armee, um mit der Résistance in Frankreich zu kämpfen. Offensichtlich war die Neutralitätspolitik nur eine Fassade.

Was hatte das für Folgen?

Jacques Baud: Ich möchte das Engagement der Schweiz sicherlich nicht kritisieren, zumal ein Teil meiner Familie in der französischen Résistance gekämpft hat. Andererseits muss man, wenn man einen Schritt zurücktritt, feststellen, dass die Schweiz nicht ganz neutral war. Das hatte jedoch seinen Preis, denn die Nazis wussten von diesen Aktivitäten. Aus diesem Grund musste die Schweiz dem Deutschen Reich Zugeständnisse machen. Die Gründe dafür wurden dem Schweizer Volk nie wirklich erklärt, aber in den Jahren 1995–1999 wurden sie in der Schweiz weitgehend kritisiert.

„Tatsächlich würden die USA alles tun, um einen möglichen nuklearen Schlagabtausch auf europäischem Boden stattfinden zu lassen.“

Was können wir daraus für Schlüsse ziehen?

Jacques Baud: Wenn die Neutralität konsequent angewendet wird, hat sie auch eine Schutzfunktion. Andererseits ist der Schutz, den die Nato der Schweiz bieten würde, sehr begrenzt. Wenn im Falle eines konventionellen Konflikts ein Feind die Schweizer Grenze erreichen würde, würde dies bedeuten, dass die Nato bereits ein existenzielles Problem hat. In dieser Situation würde die Schweizer Neutralität de facto fallen. Im Falle eines nuklearen Konflikts würden die USA niemals Moskau bombardieren, um Bern zu befreien. Wer das glaubt, ist ein Phantast.

Was ist mit den neuen Beitrittskandidaten?

Jacques Baud: Für Helsinki und Stockholm gilt dasselbe. Wer glaubt, die USA würden Los Angeles, New York oder Washington in Gefahr bringen, ist absolut nicht von dieser Welt. Die USA würden Russland nur in einer Extremsituation mit Atomwaffen angreifen. Tatsächlich würden die USA alles tun, um einen möglichen nuklearen Schlagabtausch auf europäischem Boden stattfinden zu lassen. Also hat die Mitgliedschaft in der Nato lediglich zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit, direkt von taktisch-operativen Atomwaffen getroffen zu werden, steigt. Die Idee einer Annäherung an die Nato ist von unglaublicher Naivität.

Die militärische Chef-Strategin des VBS, Pälvi Pully, plädiert offen für mehr Nähe zur Nato. Das alles rührt doch von der Stimmung, die in den letzten Jahren und Monaten erzeugt wurde, dass Putin eine imperialistische Politik betreibe und das Land weiter ausdehnen wolle und am Schluss noch die Schweiz angreifen möchte. Das ist doch ein Unsinn?

Jacques Baud: Ich kenne Frau Pälvi Pully. Sie ist eine intelligente Person. Aber sie macht den Fehler, den die Menschen im Westen machen und der aus der von unseren Medien verbreiteten Desinformation resultiert. Wir gehen von der Vorstellung aus, dass Russland Europa erobern will und dass Wladimir Putin ein irrationaler Mensch ist. Das ist falsch. Wir wissen aus ukrainischen und westlichen Quellen, dass die russische Entscheidung ihren Ursprung in der geplanten Offensive der ukrainischen Streitkräfte gegen den Donbass hatte. Wladimir Putins Entscheidung war also vollkommen rational, auch wenn man darüber streiten kann, ob sie die beste war. Es ist auch klar, dass die Russen versucht haben, all dies auf diplomatischem Wege zu lösen. Dazu gehören auch andere Fragenkomplexe wie Atomwaffen in der Ukraine, ein Nato-Beitritt etc.

Eindeutig hat der Westen weder versucht, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen noch die anderen Probleme politisch zu lösen. Russland nimmt diese Probleme als existentiell wahr. Es war zu Verhandlungen bereit. Seit Beginn der russischen Offensive war auch Selenskij zu Verhandlungen bereit. Er wurde von den USA und Großbritannien sowie von den rechtsextremen Elementen des ukrainischen Sicherheitsapparats, der von unseren Medien sehr stark unterstützt wird, daran gehindert. Ich glaube nicht, dass die Nato in dieser Krise eine stabilisierende Rolle spielt. Im Gegenteil…

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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Das Gespräch ist in der schweizerischen Zeitschrift „Zeitgeschehen im Fokus“ erschienen. Wir danke für die Möglichkeit, es in kuk veröffentlichen zu können.

Von Jacques Baud ist auf kuk erschienen: „Die militärische Lage in der Ukraine“. In Kürze kommt eine weitere Einschätzung der militärischen Situation.

Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995–1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997–99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005–06). Er war Leiter der Abteilung „Friedenspolitik und Doktrin“ der UN-Abteilung für friedenserhaltende Operationen in New York (2009–11) und der UN-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

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5 Kommentare

  1. Baud sieht die Dinge sine ira et studio und daher realistisch. Man muss es aber noch ein wenig schärfer auf den Punkt bringen. Das Imperium entlässt das in drei Kriegen unter Kontrolle gebrachte Europa nicht freiwillig, so wie die Mafia nicht freiwillig auf Territorium verzichtet und für ihren Schutz einen Pizzo verlangt. Wobei, und das ist zentral, dieser nicht primär vor äusseren Kräften schützt, sondern gegen die Mafia selbst. Ein nato-Mitglied zahlt dafür, nicht von der usa angegriffen zu werden. Etwa durch den Kauf u.s.-amerikanischer Rüstungsgüter.

    Man steckt in einer ökonomischen Sackgasse, die sich durch Überproduktion – oder besser unzulängliche Kaufkraft – und Schuldenberge charakterisiert. Schon seit 15 Jahren, aber nun, da sich allenthalben Inflation breitmacht endgültig. Für einen Reset bräuchte es neue Märkte, die gibt es nun nicht mehr, aber dafür einen mächtigen Konkurrenten, der die existierenden streitig macht. In solchen Situationen steigt die Bereitschaft der Vormacht für einen grossen Krieg, denn danach gibts viel Zerstörtes aufzubauen, ein neuer Zyklus beginnt. Vorausgesetzt, es existiere noch die Kapitalbasis um ihn zu starten, was unter unter den gegebenen Voraussetzungen alles andere als sicher ist.

    1. Die ökonomische Sackgasse wird gerade gelöst, indem Europa von der Energie abgeschnitten wird.
      Der Konkurrent wird weniger produzieren. Die Pharma-Industrie hat neue Wege gefunden, die alten Militärgeräte werden entsorgt und Energie kann man teuer verkaufen.
      Russland ist kein Wirtschaftskonkurrent, aber es hat einen Haufen Rohstoffe, die man an sich reißen könnte. Augenhöhe macht keinen Sinn, wenn man ausbeuten will.

  2. Herr Jacques Baud, Schweizer Oberst, welcher tätig für die NATO und OSZE in der Ukraine war, hat eine sehr fundierte Kenntnis von der Lage in der Ukraine jetzt und in den letzten Jahren. Wer mehr von ihm lesen will, den empfehle ich folgende Links:

    https://corona-transition.org/jacques-baud-die-militarische-lage-in-der-ukraine
    https://www.nachdenkseiten.de/?p=83221
    https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-9-vom-17-mai-2022.html#article_1359)
    https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-international/die-politik-der-usa-war-es-immer-zu-verhindern-dass-deutschland-und-russland-enger-zusammenarbeiten.html
    https://free21.org/die-militaerische-lage-in-der-ukraine/

    Seine Worte bringen immer ein Erkenntnisgewinn.

  3. 1) Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, warum die politischen Entscheider in der EU diesen Weg gehen? die Info ist da. Jeder kann sich ausrechnen was mit der EU geschehen wird. Das kann kein Player in der EU wollen. Kann man also als Politiker in echt so blind sein wie Baud es sagt? Oder ist es nicht doch Angst vor den USA? Kissinger hat Vieles nicht begriffen. Das führte zu Zerstörung riesiger Regionen und zum Tod von Millionen. Aber er musste es nicht. Er verstand zumindest etwas von Gewalt und konnte damit operieren und die kurzfristigen Ziele erreichen. Diesen Handlungsraum hat die EU nicht, denn ihre Gewaltdenke wirkt zurück auf das „Mutterland.“ Anders als in Kissingers Fall schadet sie sich also selbst.
    2) Der Haken an der in den Leserkommentaren benannten Verwertungs-Profischleife ist der ökologisch fehlende Toleranzraum. Bis jetzt konnten Imperien ihre Pläne ausleben ohne Rücksicht auf Grenzen die der Planet vorgab. Das hat sich nun geändert. Die Regierungen sind nun nicht mehr vollständig souverän in ihrem Handeln. Führen sie die Art der „Geschichte“ fort wie sie seit 3000 Jahren per Krieg geschrieben und „gemacht“ wurde, wird es am Ende keinen Lebensraum mehr geben um den gerungen werden könnte. Man könnte sagen, dass Ende der Geschichte, das unsinnig 1989 verkündet wurde, tritt nun wirklich ein. Da Konflikt keine Option mehr sein darf. Nur noch Kooperation. Sonst endet die Spezies.

    1. Schauen Sie doch mal, woher unsere Politikelite kommt. Da finden Sie nur Absolventen der Young Global Leader und anderer US-Kaderschmieden. Alernativ darf sich ein Politiker auch selbst durch seine kapitalfreundlichen Handlungen qualifizieren, wie Olaf Scholz mit seinem Wirecard- und Cum Ex Skandal. Kriege haben alle aktuellen Spitzenpolitiker nicht mehr selbst erlebt. Das war ja auch der Grund, warum Kohl unbedingt durch Schröder abgelöst werden musste. Mit ihm wäre der Jugoslawienkrieg nicht machbar gewesen.

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