Der öffentliche Diskurs im Hygiene-Modus

Makrophagen greifen einen Krebszelle an. Bild: Dr. Raowf Guirguis. National Cancer Institute/publicdomain

Die Ausladung der Politikerwissenschaftlerin Guérot aus der NDR-Sachbuchjury ist bezeichnend für den häufig praktizierten Ausschluss unbequemer Positionen und Personen. Autoimmunkrankheiten können die Antwort auf die Gedankenfestungen sein.

 

Es wird immer öfter Praxis, Menschen mit abweichenden Meinungen, aus dem Mainstream-Diskurs auszuschließen, zu ächten oder an den Rand in eine der Nischenöffentlichkeiten zu drängen.  Und wenn man mit diesen diskutiert, dann geht es nicht darum, sich mit der anderen Meinung auseinanderzusetzen, sondern sie von der eingenommenen Warte als abwegig oder neben der Spur zu verurteilen. Das sieht nach Machtspielen aus, um den öffentlichen Diskursraum zu verengen, aber gleichzeitig den Eindruck einer offenen Diskussion zu erwecken, von der nur Extremisten ausgesperrt werden.

Eigentlich lebt eine Demokratie vom und mit dem Widerspruch, was Jürgen Habermas gerade erst wieder deutlich gemacht hat. Davon wollen die Vertreter der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft aber nichts wissen. Man setzt sich mit abweichenden Positionen nicht mehr auseinander, um möglicherweise neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern nur, um zu demonstrieren, auf der richtigen Seite zu stehen. Daher geht es eher um die Demonstration der moralischen Gesinnung als um eine argumentative Auseinandersetzung. Für Intellektuelle ist das Klima ziemlich erbärmlich, kein Wunder, dass streitbare Intellektuelle nicht mehr gerne gesehen sind. Die richtige Haltung ist eine Festung mit verschlossenen Toren, Abweichende werden als Exoten vorgeführt.

Das ist beispielsweise zuletzt mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot geschehen. Sie wurde in die Jury zum NDR-Sachbuchpreis für „zukunftsrelevante Themen“ eingeladen und schnell wieder ausgeladen. Aber so will man das nicht sagen. Vielmehr „verzichtet“ man, so die NDR-Mitteilung, auf ihre Teilnahme, weil „ernstzunehmende Vorwürfe des unsachgemäßen Vorgehens im Rahmen ihrer eigenen Publikationen erhoben“ wurden. Bemerkenswert ist die Attitüde, scheinbar bedauernd auf die Teilnahme zu verzichten, da Vorwürfe erhoben wurden. Fragt sich nur von wem? Man muss oder soll vermuten, von anderen Jurymitgliedern, weil offenbar mit Guérot „die Zusammenarbeit der Jury und ihre Entscheidungsfähigkeit“ nicht sichergestellt wäre.

Der NDR versteckt sich durch Geraune, muss man verstehen, offenbar scheint die Politikwissenschaftlerin auch im Hinblick auf ein zu kürendes Sachbuch, das die Jury auch nur aus einer von der NSR-Nominierungskommission vorgegebenen, also auch bereinigten Liste auswählen kann, unerträglich zu sein, man will nicht im  selben Raum mit der zuerst eingeladenen, dann verpönten Person sitzen, für die Jury-Entscheidung verantwortlich sein oder irgendwie in der gemütlichen Einheit gestört werden.

Näheres erfährt man nicht, mit toxischen Personen muss man scheinbar auch den Austausch von Argumenten vermeiden, der ja infizieren oder zumindest den geplanten Ablauf stören könnte. Entlarvend, wie die Vorsitzende der Jury, NDR-Programmdirektorin Katja Marx, versucht, ihre Entscheidung, die ihr wahrscheinlich nahegelegt wurde, im Diffusen zu halten und gleichzeitig die anderen Juroren, die gegen die Ausladung nicht öffentlich aufbegehrten und Konformität wahrten oder sie wahrscheinlich  forderten, aus der Schusslinie zu nehmen. Es wäre ja blöd, wenn die Jury bei der Kontaktvermeidung nicht mitspielen würde. Die Jury sei schließlich „kein Ort für öffentlichen gesellschaftlichen Streit“, wohlgemerkt bei der Entscheidung zwischen Sachbüchern mit „gesellschaftlich, kulturell oder wissenschaftlich relevanten Themen“. Relevant sollen sie sein, aber nicht gesellschaftlich umstritten bzw. die Entscheidung soll nicht gesellschaftlich umstritten sein, also in einer Mehrheitsmeinung oder auch nur in der einer NDR-Nische akzeptabel sein. Dissens soll dabei nicht öffentliche werden.

Für die Ausladung seien „Einschätzungen, Analysen oder persönliche Auffassungen“ nicht maßgeblich gewesen, versichert Katja Marx. Die würden doch in öffentlich-rechtlichen Medien durchaus Platz finden. Es gibt also angeblich kein inhaltliches Problem, weswegen Marx bzw. der NDR auch nicht näher inhaltlich begründen muss, warum Zensur ausgeübt wird. Nein, man ist ja prinzipiell offen. Auch die anderen Jury-Mitglieder hätten den Ausschluss nicht gefordert.

Irgendwie geht es um die „innere Zusammenarbeit der Jury“, die möglicherweise durch die Person (?) gestört würde. In der Mitteilung heißt es zur inneren Zusammenarbeit: „Dazu gehören neben Vertraulichkeit und Sachlichkeit auch der Respekt vor jenen Grundwerten wissenschaftlicher Praxis, für die der NDR Sachbuchpreis und seine Jurymitglieder persönlich stehen: wissenschaftliche Sorgfalt, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die klare Abgrenzung zwischen Tatsache und Behauptung.“ Also wird Guérot die Einhaltung von „Grundwerten wissenschaftlicher Praxis“ abgesprochen, da sie nicht zwischen Tatsache und Behauptung unterscheiden könne.

Begründet wird dies nicht, nur unterstellt oder angedeutet. Damit werden eben die Grundwerte wissenschaftlicher Praxis übergangen, also zuallererst, dass nicht einfach etwas behauptet werden kann, um Wahrheit zu beanspruchen, sondern dass Entscheidungen zumindest rational begründet werden müssen. Das soll offenbar vermieden werden, Unerwünschtes und Unerwünschte sollen außen vor, man will unter sich bleiben

Man kommt nicht umhin, hier eine Hygiene-Praxis zu sehen, in der es um den Schutz eines Systems vor störenden und gefährlichen Eindringlingen geht, die von einem Immunsystem und weiteren Maßnahmen abgewehrt werden müssen. Das Modell der kulturellen Praxis ist, dass es ansteckende Krankheiten und ungeschützte Körper gibt, die gegen Angreifer verteidigt werden müssen. Seit einigen Jahren ist auch die Rede von einer „weaponized information“, von Informationen, die Waffen sind, und gegen die Abwehrsysteme eingerichtet werden müssen.

Wenn ansteckende Krankheiten um sich greifen, werden sie auch Seuchen genannt. Wir haben jetzt alle Erfahrungen mit einer solchen Seuche und den Reaktionen auf sie machen müssen, möglicherweise kommt erneut eine Ansteckungswelle über uns, was uns wieder zu Verhaltensänderungen bringen könnte, entweder das Erkrankungsrisiko zu akzeptieren, vielleicht auch herauszufordern, oder  sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, Kontakte zu vermeiden und sich mit Impfungen, Luftfiltern oder anderen Hygienemaßnahmen zu schützen.

Furcht vor Ansteckung gibt es nicht nur angesichts von körperlichen Seuchen, sondern auch im Cyberspace vor Computerviren, Trojanern und anderen Schädlingen, die Hacker oder Geheimdienste benutzen, um durch Sicherheitslöcher einzudringen, und Menschen auch dazu verführen, auf einen Link zu klicken, wodurch diese eingeschleust werden. Und dann gibt es noch die Ansteckungen im Verhalten und Denken, die der Evolutionstheoretiker Richard Dawkins schon vor mehr als 20 Jahren als sich selbst replizierende Meme in Analogie zu Genen bezeichnet hat, die in Gehirne eindringen und diese verändern können.

Die Memetik hatte in den 1990er Jahre einen gewisse Attraktivität, weil sie in der Anfangszeit des Internet und nach dem Aufkommen von Computerviren vermeintlich zeigen konnte, wie sich einzelne Gedanken, Ideologien und Moden auf epidemische Weise verbreiten können. Sie suggerierte aber auch, dass die Menschen nicht souverän als Individuen denken, sondern fremden Gedanken, Moden, Überzeugungen etc. offenstehen bzw. von diesen überwältigt werden, wenn sie auf ein entsprechendes kognitives System  treffen oder auch das kognitive Immunsystem überwinden können.

Diese Gedankenwelt hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt. Es wird Hygiene gepflegt. Es geht nicht mehr um einen argumentierenden Diskurs, sondern um Abwehr scheinbar gefährlicher Meinungen. Immunsysteme unterscheiden zwischen dem Eigenem und dem Anderen, das abgewehrt werden muss. Man will gewissermaßen unter sich bleiben. Nur blöd, dass es auch Autoimmunerkrankungen gibt, die zur Abwehr von körpereigenen Zellen führen. Dialektisch könnte man sagen, Systeme, die sich zu sehr abriegeln, bringen einen inneren Widerstand hervor, der sie zerstören kann. Eine Gesellschaft, die den offenen Diskurs abtötet, wird sich Gegner schaffen, die kein Interesse daran haben und argumentationslos angebliche Gegenwahrheiten vertreten, um an die Macht zu kommen. Es werden dadurch, wie in Italien, die Rechten gezüchtet.

Ähnliche Beiträge:

9 Kommentare

  1. Dieses Verhalten gibt es eigentlich fast in jedem öffentlichen Raum. Es gibt immer einen oder wenige, die sich ihre eigene Spielwiese schaffen, in dem sie Strukturen übernehmen.
    Das lässt sich wunderbar bei Wikipedia beobachten, aber auch in Foren oder anderen sozialen Medien. Das geht soweit, dass dieser öffentliche Raum buchstäblich pulverisiert wird, da sie die Öffentlichkeit, die sie eigentlich erst auf das Medium aufmerksam gemacht hat, so beeinflussen und verändern, das sich letztlich nur noch Ja-Sager dort aufhalten, die Angst haben nicht mehr mitspielen zu dürfen. Dabei geht natürlich die Öffentlichkeit verloren, die das Medium überhaupt erst interessant gemacht hat. Man könnte sagen, es gibt immer Spielverderber, die nicht in der Lage sind etwas Eigenes zu schaffen und deshalb am Erfolg anderer parasitären und nur die um sich haben wollen, die ihre Genialität bewundern und alles ganz supi finden, was der große Anführer absondert, wobei beide Geschlechter das gut beherrschen, es ist also ein neutrales Maskulin.
    Wie das geht? Sie sind ganz aktiv dabei und man muss zugestehen, sie sind nicht dumm, sie können diese Aktivität auch mit Inhalt füllen und das führt dazu, dass sie an Einfluss gewinnen und irgendwann das Feld übernehmen und jede andere Meinung disqualifizieren oder lächerlich machen, bis sich das nur noch die Ja-Sager antun. Dabei sind die Ja-Sager die Erfüllungshilfen, die dem Spielführer zur Seite stehen, ansonsten wären sie ja keine Ja-Sager. Eine eigene Meinung haben sie nicht, so warten sie immer ab, was ihr Führer für eine Meinung hat.

  2. Die Angst vor Infektion mit unliebsamen Meinungen, das Bestehen auf einer gewissen Hygiene in geistigen Dingen, ist in der Tat ein gutes Bild.
    Eben bin ich noch über einen Artikel der Internetzeitung „Krautreporter“ gestolpert. Gut war der nicht, aber der Titel sagte schon wo es hin ging: „Warum Gefühle und Meinungen sich wie Krankheiten verbreiten“.

    Mir ist es auch öfter in letzter Zeit aufgefallen, dass besonders Menschen mit sehr idealistischen, an Dogmatismus grenzenden Einstellungen das Äußern von anderen Meinungen in ihrer Gegenwart kaum mehr verkraften. Es ist blanker Stress für deren Nervensystem.
    Das Problem an solchen Einstellungen ist eben ihre Starrheit, die dem eigentlichen Naturzustand des Menschen mit einem flexiblen und dynamisch offenen Bewusstsein entgegensteht. Das Starre aufrecht zu erhalten, wo doch die natürliche Bewegung davon wegdriften will, erfordert eine Menge Kraft. Und da wird jede Irritation zu einem potentiell bedrohlichen Stressfaktor.

  3. Um das „Maladie-Bild“ aufzugreifen: Der Kapitalismus begibt sich lieber in kulturelle Demenz, also letztlich auf den Weg in die Barbarei, als sich der längst fälligen Diskussion zu seiner – auch angesichts der Klimakatastrophe et. al – historischen Überkommenheit zu stellen. Bezüglich „Demokratie“ ist hier also „Ende Gelände“ (es ist halt eine ziemlich verlogene Schönwetter-Demokratie; und um die Ecke warten, ganz richtig bemerkt, italienische politische Verhältnisse, welche, wie die Geschichte beweist, gemixt mit teutschem „Treu‘ und Glauben“ hierzulande ziemlich mörderisch daher kommen können..).

    Ich finde ja solche diesbzüglichen „kleineren Vorgänge“ wie den Umgang mit Frau Guérot, abseits meiner Empörung darüber und meiner Verachtung für eine Struktur, die so etwas hervorbringt, insofern sehr erhellend, weil die „subjektlose Herrschaft des Kapitals“ hier tatsächlich einmal konkret Namen und Adresse bekommt und man ihr bei der „Arbeit“ direkt auf die sudeligen Griffel schauen kann: Der Mechanismus ist der gleiche wie etwa schon bei Assange oder Snowden (um lediglich im „eigenen Haushalt“ zu bleiben; es gibt selbstverständlich blutigere, horrendere Beispiele)…

    Danke für den sehr guten Beitrag; alles Gute für Frau Guérot!

  4. “ Es geht nicht mehr um einen argumentierenden Diskurs…..“

    Der würde auch eine intellektuelle Redlichkeit voraussetzen, die man im öffentlcihen Raum kaum noch vorfindet. Ich gestehe, inzwischen Leuten wie G.Dornblüth oder S.Adler oder den männlichen Ausgaben davon auch nicht mehr zuhören zu können.

  5. Hexenhammer der Feudalherren des Geldadels
    samt ihres religiotischen Klerus aus Politik und dem Desinformationsgewerbe.

    Ab und zu taucht eine Knalltüte auf, murmelt:
    “ Und sie bewegt sich doch !“

    Seit hunderten von Jahren bewegt sich nichts. Wann merkt ihr, dass das alles nichts Neues und Grundvoraussetzung für Herrschaft und Ausbeutung ist ?

  6. Die übermäßige Hygiene hat die Allergiker hervorgebracht.
    Warum versuchen wir diese Leute, die nicht wollen, immer noch ernst zu nehmen? Sie fressen unsere Energie weg und stecken uns an. Versuchen wir lieber die Kräfte der Ausgestoßenen zu sammeln und eine Alternative aufzubauen. Leute, die nicht mehr ansprechbar sind, sind kaputt. Vielleicht kann man sie aber mit Konkurrenz locken.

  7. Bei der Streichung der Jurorin Guérot aus der Liste der Auserwählten soll´s nicht um deren aktuelle „Einschätzungen, Analysen oder persönliche Auffassungen“ gegangen sein. So die dafür verantwortliche ÖRR-Spitzenfunktionärin Marx öffentlich. Nur weshalb dann: bloßer Zickenkampf? Oder weil die Ausgegrenzte im Nachnamen ROT trägt? Oder weil sie ein zu gutriechendes Parfüm benützt? Oder nicht mal in der falschen politischen Partei, sondern in gar keiner Mitglied ist? Oder von der Ausgrenzerin als deren mögliche Konkurrentin wahrgenommen wird? Genau: „Fragen über Fragen“ (Brecht).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert