Der Koalitionsvertrag: Kein gemeinsamer, gar mitreißender Aufbruch, müde und zerfaserte Einigung

Die Vorstellung des Koalitionsvertrags wirkte angestrengt, statt eines zukunftsorientierten Narrativs gibt es Buzzwords. Scholz verkörpert in seiner begeisterungslosen Langeweile die verfehlte Aufbruchsstimmung. Screenshot von YouTube-Video

Eigentlich sollte ein Ruck von der neuen Regierungskoalition ausgehen, aber der umfangreiche Koalitionsvertrag verliert sich in vielen, meist vage formulierten  Einzelheiten und unverbindlichen Absichtserklärungen.

Es wurde lange von der „Zukunftskoalition“ am Koalitionsprogramm gefeilt, das aber nach Plan rechtzeitig vorgelegt wurde. Das ist schon mal ein Tugendbeweis, rechtzeitig zur Einigung zu kommen und Dinge nicht auf Merkelsche Art zu verschleppen. Mit der Devise „Mehr Fortschritt wagen“ ist man allerdings in der alten Tradition mit Willy Brandt, der auch schon einmal aufbrechen wollte und auch einiges verändert hat, was aber Geschichte ist. Entsprechend zeigt das Koalitionsprogramm wenig Fortschrittslust, eher den Zwang, Fortschritt demonstrieren zu wollen, indem vieles vage mit Buzz-Worten wie „Jahrzehnt der Investitionen“ oder „Paradigmenwechsel“ versprochen wird.

Auch der Auftritt der Koalitionäre vor der Presse machte, was nicht nur der Corona-Welle geschuldet sein dürfte, eher einen gequälten Eindruck. Man hat es geschafft, aber um den Preis, das verloren zu haben, was man erreichen wollte: einen Aufbruch, weil nur die Anliegen zusammengestückelt wurden, um Einigkeit ohne einen gemeinsamen Entwurf zu erreichen. Zum Benebeln gibt es dann Cannabis für Genusszwecke. Unbeweglichkeit hat man in den Koalitionsvertrag schon eingeschrieben: „Im Kabinett werden Entscheidungen einvernehmlich getroffen, kein Koalitionspartner wird überstimmt.“

Jetzt also sollen im Zeichen von Corona, der Klimakrise, der Digitalisierung, der zunehmenden globalen Konflikte und der vergreisenden Gesellschaft „Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ in der Koalition auf Augenhöhe angezielt werden. Da sieht man die Parteipräferenzen, aber in der Reihenfolge auch eine Abstufung von FDP, SPD und Grüne? Der Aufbruch? Keine Steuererhöhung, keine Bürgerversicherung, Einhalten der Schuldenbremse und viel Markt sowie Start-ups als Allheilmittel; der Mindestlohn von 12 Euro, die Kindergrundsicherung, Bürgergeld statt Hartz IV und die sichere Rente (aber mit teilweiser Kapitaldeckung); der Kohleausstieg „idealerweise“ bis 2030, Windräder auf 2 Prozent der Fläche und 80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien. Ein Bauministerium für die SPD, nur ein Viertel der geplanten 400.000 neuen Wohnungen sollen Sozialwohnungen sein; ein Superministerium für Wirtschaft und Klimaschutz für die Grünen; die Kein-Tempolimit-FDP mit dem Verkehrsministerium („Leitmarkt für Elektromobilität“, „Innovationsstandort für autonomes Fahren“) und eines für die Digitalisierung.

Olaf Scholz stellt Koalitionsvertrag vor
Der vermutlich neue Bundeskanzler ist nüchterner Machtmensch, das Gegenteil eines Populisten. Zu neuen Ufern mitziehen vermag er nicht, höchstens zu notwendigen Anpassungen. Screenshot von YouTube-Video

Innovativ ist zur Bewältigung der Coronapandemie offenbar die Einrichtung eines Krisenstabs und eines Pandemierats zur wissenschaftlichen Beratung. Zu Beginn des Koalitionsvertrags fällt auf, dass viel von „Modernisierung“ die Rede ist, als würde der Begriff schon enthalten, was darunter zu verstehen ist. Irgendwie scheint es nicht darum zu gehen, etwas anders zu machen, sondern alles soll effektiver, schneller, innovativer und digitaler werden und dabei das Klima zu schützen und private Investitionen zu fördern. Das soll dann eine „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ sein, mit Betonung auf Marktwirtschaft, weswegen man nicht vom Gesundheitssystem, sondern von der „Gesundheitswirtschaft“ spricht. Beispielsweise sollen Genehmigungen beschleunigt werden, was auf Kosten der Mitwirkung und des Umweltschutzes gehen könnte. Verdächtig klingt schon, dass man eine „Klärung des Verhältnisses von Arten- und Klimaschutz“ will. Man will auch „wertebasiert“ sein, was immer das bedeuten soll. Weiter werden die Floskeln von einer Kultur des Respekts und der Zusammenarbeit ausgewalzt.

Immerhin ist im Koalitionsvertrag die Rede von einer „vielfältigen Einwanderungsgesellschaft“, die Deutschland ist. Es geht dabei aber vor allem darum, gezielt Facharbeiter aus dem Ausland in Konkurrenz mit den anderen reichen Staaten abzulocken, der brain drain wird die Lage der ärmeren Länder nicht verbessern und könnte die jetzt schon bestehenden Konflikte verstärken. Fraglich, ob das ein Ausweis für die „globale Verantwortlichkeit“ sein soll. Man darf gespannt sein, ob man innerhalb eines Jahres ein neues Wahlrecht zur Verschlankung des auseinander platzenden Parlaments und auch das Absenken des Wahlalters auf 16 Jahre umsetzen wird.

Christian Lindner stellt Koalitionsvertrag der Ampel vor
Auch nur ein Karriere- und Machtmensch, der unter Vorspiegelung von Aufbruch Privilegien bewahren will. Neues ist alte „Modernisierung“. Screenshot von YouTube-Video

Beschworen wird ein „umfassender digitaler Aufbruch“, der hat aber nichts wirklich Mitreißendes. Es soll möglichst vieles digitalisiert werden, Innovationen  na klar, digitale Verwaltung, gut, digitale Infrastruktur, super: „Der eigenwirtschaftliche Ausbau hat Vorrang.“ Es ist nicht das erste Mal, dass schnelles Internet für alle versprechen wird, hier: „flächendeckende Versorgung mit Glasfaser (fiber-to-the-home, FTTH) und dem neuesten Mobilfunkstandard“. Ein Recht auf Verschlüsselung wäre nicht schlecht, man liest aber nichts darüber, wie das für Geheimdienste und Polizei aussieht. „Wir verpflichten alle staatlichen Stellen, ihnen bekannte Sicherheitslücken beim BSI zu melden“, heißt es, BND eingeschlossen? Dass „Hackbacks als Mittel der Cyberabwehr grundsätzlich“ abgelehnt werden, ist ein kleiner Lichtblick, ebenso das Versprechen, „anonyme und pseudonyme Online-Nutzung zu wahren“. Wie es mit dem Datenschutz dabei aussieht? „Wir streben einen besseren Zugang zu Daten an, insbesondere um Start-ups sowie KMU neue innovative Geschäftsmodelle und soziale Innovationen in der Digitalisierung zu ermöglichen.“

Natürlich gibt es viele kleine, gutgemeinte Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag, etwa zum Klima-, Natur- und Tierschutz, etwa ein Verbot für Glyphosphat 2023, oft allerdings nur, was sowieso schon von der EU beschlossen wurde. Das Klimaschutzsofortprogramm wird genannt, ohne es auszuführen. Da ahnt man schon die Probleme. Erneuerbare Energien sollen massiv ausgebaut werden, aber Erdgas bleibt erst einmal „unverzichtbar“, dann wohl auch russisches Gas? Auch was Einwanderung, Integration oder Gleichstellung kann man Bewegung erwarten.

Bearbock und Habeck in der Pressekonferenz zum Koalitionsvertrag
Die Grünen sind die Verlierer, die keinen ansprechenden Aufbruch in eine postfossile Gesellschaft vermitteln können. Baerbock und Habeck wirken nahezu depressiv und beäugen sich misstrauisch. Screenshot von YouTube-Video

Mutig ist das beabsichtigte, aber sehr vorsichtige Ausscheren aus der Nato-Position zu Atomwaffen, Deutschland soll aber nur als Beobachter an der Atomwaffenverbotvertrag-Staatenkonferenz teilnehmen, angestrebt wird ein atomwaffenfreies Deutschland, nicht gerade eine neue Absicht. Dazu passt freilich nicht: „Wir werden zu Beginn der 20. Legislaturperiode ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado beschaffen. Den Beschaffungs- und Zertifizierungsprozess mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands werden wir sachlich und gewissenhaft begleiten.“

Man hat sich löblich die „Wiederbelebung der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle“ vorgenommen. Aber es heißt eben auch: „Das transatlantische Bündnis ist zentraler Pfeiler und die NATO unverzichtbarer Teil unserer Sicherheit.“ Da bleibt Aufrüstung ein Thema. Und man hat doch Bedenken gegen Digitalisierung: „Autonome Waffensysteme, die vollständig der Verfügung des Menschen entzogen sind, lehnen wir ab. Deren internationale Ächtung treiben wir aktiv voran.“ Man kann sich allerdings fragen, warum ferngesteuerte Kampfroboter besser sind als autonome. Die Bundeswehr soll nämlich Kampfdrohnen erhalten, nur zur Selbstverteidigung.

Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bei der Pressekonferenz
Und die beiden machen auch nicht den Eindruck, als würde es erwartungsvoll vorwärts gehen. Nichts von „Mit uns zieht die neue Zeit!“ Screenshot von YouTube-Video

Interessant wird vor allem sein, an wen die Ministerposten vergeben werden. Das dürfte bei den Grünen besonders schwierig zwischen Baerbock und Habeck sein. Und die haben auch noch das Problem, dass alle Parteimitglieder über die Annahme des Vertrags und die Postenverteilung abstimmen. Die FDP weiß schon, wie es personell aussehen wird: Bundesministerium der Finanzen: Christian Lindner; Bundesministerium der Justiz: Dr. Marco Buschmann; Bundesministerium für Verkehr und Digitales: Dr. Volker Wissing; Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bettina Stark-Watzinger. Drei Männer und eine Frau, nicht gerade zukunftsweisend.

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3 Kommentare

  1. Ich würde dem Zustimmen.
    Denke allerdings das die Unterschiedlichen Position der Parteien nur oberflächlich Verdeckt sind.
    In wie es eine Analyse der Ökonomie gegeben hat und den daraus notwendigen Handlungen konnte nicht gehört oder gelesen werden.
    Es ist bei den Grünen so wie es Trittin im ZDF gesagt hat, das es (frei) nicht alle Regime halten es mit den Menschenrechten. Genau deshalb sind sie ja Regime? Nur wer ist das Ukraine, England(GB) oder USA? Allerdings ist das umgekehrt gesehen, weil Menschenrechtsverletzungen = Regime!
    Da wir Frau Bearbock schwimmen wie ein Stein im Wasser. Das ist nichts neues, dafür reicht ein Blick in die Vergangenheit und da bei den Eisverkäufern.
    Was Trittin für die Grünen mit verhandelt hat ist der Rückbau der Atomkraftwerke, wo soll das Zeug hin. Das nur(auch die Asse) das schon festgelegt ist, aber irgendwie im Orkus gelandet.
    Hier stelle ich mir auch die Frage, wie bei den Riesen Schuldenberg, alles Finanziert werden soll. Die Notwendigkeiten sind gar nicht besprochen worden, es waren lediglich das, was liegen geblieben ist. Die Zeit wird es zeigen.

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