Der Jemen am Abgrund

Im Jemen herrscht die „schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt“: Hunger, Cholera, Malaria, Dengue, Corona und ein Krieg, der mit westlichen Waffen geführt wird. Vor den Kämpfen zwischen Ansar Allah, Al Qaida und der Saudi-Emirate-Koalition flüchten Millionen von Menschen. – Jakob Reimann* kommentiert.

UN-Generalsekretär António Guterres spricht im Jemen von der „schlimmsten humanitären Katastrophe der Welt“ – und das bereits seit gut drei Jahren. Insgesamt wurden im Krieg über 100.000 Menschen durch Waffengewalt getötet. Im Jemen wütet die größte Hungersnot der Welt. Laut den jüngsten Zahlen vom Welternährungsprogramm leiden 20,1 Millionen Menschen an Lebensmittelknappheit, was 70 Prozent der Bevölkerung entspricht. Im Schatten der Corona-Pandemie, die auch den infrastrukturell ausgezehrten Jemen mit voller Wucht getroffen hat, wird vergessen, dass mit kumuliert rund 2,5 Millionen Infizierten die größte je in der Menschheitsgeschichte dokumentierte Choleraepidemie das Land lähmt; ebenso grassieren Malaria und Dengue mit Hunderttausenden Infizierten. Es muss mit Nachdruck betont werden, dass Hunger und Epidemien keine „Kollateralschäden“ des Krieges sind, sondern von der Saudi-Emirate-Koalition mit Vorsatz herbeigeführt wurden und als Kriegswaffen missbraucht werden; ebenso die Zerstörung des Gesundheitssystems, der Wasser- und Lebensmittelversorgung und jeder nur erdenkbaren zivilen Infrastruktur. Guterres Einschätzung ist damit weder Alarmismus noch Übertreibung, sondern blutiger Alltag von 30 Millionen Menschen im ohnehin ärmsten Land der arabischen Welt.

Inspiriert vom Arabischen Frühling ab 2011 gingen auch im Jemen die frustrierten, marginalisierten Massen millionenfach auf die Straßen. Die im Westen nur als „Houthis“ bekannte Rebellenbewegung Ansar Allah stürzte 2012 nach 33 Jahren den Diktator Saleh. Ab 2015 übernahm sie vom Norden aus ihrer Hochburg Sa’da kommend – teils blutig, teils unblutig – die meisten bevölkerten Landesteile im Norden und Westen, trieb Anfang 2015 auch Salehs Nachfolger Hadi ins saudische Exil und übt seitdem aus der Hauptstadt Sana‘a de facto die Regierungsgewalt über weite Teile des Landes aus. Am 26. März 2015 begann eine neunköpfige Koalition arabischer Staaten völkerrechtswidrige Flächenbombardements des Jemen, um mit einer Politik der verbrannten Erde den Houthi-Aufstand niederzuschlagen. Die im Westen nur allzu gern kolportierte Kriegspropaganda der Koalition, beim Krieg ginge es allen voran um den Kampf gegen Iran, ist genau das: Propaganda. Das Auswerfen von Nebelkerzen.

Der Saudi-Emirate-Koalition, die im Grunde zwei separate Kriege führt, geht es im Jemen nicht um den Iran – Teherans Einfluss auf die Houthis ist marginal –, sondern um schnöde Macht- und Geopolitik. Saudi-Arabien will seine poröse Südgrenze schützen und seine Marionette Hadi zurück an die Macht bringen, um so in seinem „privaten Hinterhof“ (Iran-Experte Mohsen Milani) den für Riad gut manövrierbaren Status quo der letzten Jahrzehnte wiederherzustellen. Die Vereinigten Arabischen Emirate wollen mit ihren enormen Ölreserven mittelfristig zur globalen Energiesupermacht aufsteigen. Dafür soll der Südjemen perspektivisch in ein von Abu Dhabi abhängiges emiratisches Protektorat verwandelt werden und mit seiner geostrategisch äußerst bedeutenden Lage zwischen Indischem Ozean und Mittelmeer als zentraler Pfeiler in der Erreichung dieses ambitionierten Ziels zu fungieren.

Die acht Staaten der Saudi-Emirate-Koalition werden im Wesentlichen von NATO- und anderen westlichen Staaten hochgerüstet, von ihnen stammen über 87 Prozent sämtlicher Waffenlieferungen. In den Kriegsjahren 2015 bis 2019 lieferten insgesamt 33 Staaten Waffen an die Kriegskoalition, die fünf größten Lieferanten sind dabei die USA (57,7 Prozent), Frankreich (12,1), Russland (9,0), Großbritannien (6,2) und Deutschland (4,0).

Infografik Rüstungsexporte an die Saudi-Emirate-Koalition nach Herkunftsländer 2015-2019
Von Jakob Reimann (Lizenz CC BY-NC-ND 2.0)

Doch auch die modernsten Waffensysteme der Welt können nichts daran ändern, dass Saudi-Arabien im Jemen auf einen Abgrund zurast – von Rebellen in Ledersandalen bekommt das mächtige Königreich sein „Vietnam“ beschert. Die von der britischen BAE Systems unterhaltene saudische Luftwaffe kann zwar den Nordjemen wieder und wieder mit einem Bombenteppich überziehen, doch kann so gegen hochmotivierte Guerillakrieger in unwegsamen Gebirgszügen kein Krieg gewonnen werden. Um einen militärischen „Sieg“ zu erlangen, müsste das saudische Militär mit 500.000 Mann einmarschieren und den Nordjemen dauerhaft besetzen, was der eigenen Bevölkerung wie der internationalen Staatengemeinde unmöglich zu verkaufen wäre. Und daher erleben wir im Jemen im Grunde seit Jahren kaum militärische Entwicklungen. Die Koalition lässt westliche Bomben und Raketen auf zivile Infrastruktur hinabregnen, doch gibt es kaum Frontverschiebungen geschweige denn diplomatische Vorstöße.

Im Juni 2018 startete die Koalition ihre Großoffensive auf die Hafenstadt Hodeida am Roten Meer – die buchstäbliche Lebensader des Jemen, über die rund 80 bis 90 Prozent aller Lebensmittel-, Öl- und Hilfslieferungen ins Land gelangen. Hodeida sollte der Kontrolle der Houthis entzogen und damit deren ökonomisches Überleben sabotiert werden. Nach zähen Häuserkämpfen, Kriegsverbrechen beider Seiten und Hunderttausenden Vertriebenen mündeten die Kämpfe schließlich im Dezember 2018 verhandelten Stockholmer Abkommen, das eine Demilitarisierung der Stadt vorsah. Seitdem pendelt die Kontrolle über die wichtigste Hafenstadt des Landes mehr oder weniger zwischen den Houthis, den Emiraten und der UN.

Aktuell beobachten wir schwere Kämpfe im Ma’rib-Gouvernement im Zentrum des Landes, sowie teils im nördlich angrenzenden Al-Jawf. In der dünn besiedelten Wüstenregion befinden sich die spärlichen noch ungeförderten Ölvorkommen des Landes. Zwar kämpfen Houthis, Al-Qaida und Regierungstruppen seit Beginn des Krieges 2015 um die Kontrolle über die Ölquellen in Ma‘rib, doch erleben wir seit Januar 2020 ein Aufflammen der Gewalt, nachdem die Houthis ihre Großoffensive zur Eroberung der Region starteten – die sich zur größten und folgenreichsten Kampagne der Houthis seit Eroberung von Aden im März 2015 auswachsen könnte. Der Kampf um die Ölquellen von Ma’rib könnte die Machtverhältnisse dauerhaft verschieben und so die Entwicklungen des Krieges maßgeblich beeinflussen. Die Leidtragenden der heftigen Gefechte sind einmal mehr die Kinder, Frauen und Männer der Region und darüber hinaus.

Denn Ma’rib war in den Kriegsjahren ein sicherer Hafen für viele der rund drei Millionen Binnengeflüchteten im Land. So zählte die International Organization for Migration der UN in Ma‘rib bereits 2018 rund 800.000 Geflüchtete aus allen Landesteilen, was einer Verdreifachung der ursprünglichen Bevölkerung entspricht. Durch die anhaltenden Gefechte geht die Zahl aktuell einer Million entgegen, während andere Quellen bereits heute gar von bis zu zwei Millionen Geflüchteten sprechen. In der Ma’rib-Region gibt es 140 Geflüchtetenlager, darunter das Al Jufainah Camp, das größte seiner Art in ganz Jemen, in dem über 40.000 Menschen in katastrophalen Bedingungen ausharren. Die meisten Geflüchteten leben in vollkommen überfüllten Zeltlagern, zumeist ohne jeden Zugang zu sanitären Anlagen oder medizinischer Betreuung. Hunger grassiert ebenso wie Cholera und Corona.

Christa Rottensteiner von der IOM (International Organization for Migration) erklärt: „Wir hoffen, dass bald eine friedliche Lösung gefunden werden kann, um eine massive Vertreibungskrise zu verhindern: Hunderttausende Menschen könnten zur Flucht gezwungen werden, von denen viele zum zweiten, dritten oder gar vierten Mal vor diesem Konflikt fliehen würden.“

 

*Jakob Reimann ist Gründer und Herausgeber der Website JusticeNow!. Nach seinem Masterabschluss 2014 hat er an der An-Najah University in Nablus, Palästina, gearbeitet und lebte im Anschluss als freier Journalist und Autor längere Zeit in Israel und mehreren Ländern in Osteuropa und auf dem Balkan. Im deutschsprachigen Raum hat sich Reimann insbesondere mit seiner Berichterstattung zum Krieg im Jemen einen Namen gemacht.

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