Das portraitierte Portrait

Mona Lisa. Bild: publi domain

Das Portrait, eines der zentralen Kunstgenres seit Urzeiten, ist seit jeher auch eines ihrer problematischsten.

Obgleich das Portait die menschliche Gestalt präsentieren sollte, wurde es auch stets gefordert, sie zu repräsentieren. Und seitdem es sich des von ihm vollzogenen Repräsentationsaktes bewusst wurde, begann es die imitierende Darstellung des Objekts sowie die erstrebte äußere Ähnlichkeit mit ihm zu unterwandern.

Bis zum ausgehenden Mittelalter zielte das Portrait kaum je auf die äußere Ähnlichkeit der dargestellten Gestalt, sondern vielmehr auf deren ideelle Gestaltung, auf die aus der ideellen Abstraktion geborene Gestalt – mithin weniger individuelle Figur und eher allgemeiner Typ mit dazugehörenden Attributen wie Beschriftung, Symbolen und Kleidung. An dieser Konvention hielt man sich im alten Osten, im antiken Griechenland bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. und letztlich das gesamte Mittelalter hindurch bis zum 14. Jahrhundert. Die auf individuelle Ähnlichkeit zielende mimetische Portraitierung erforderte demgegenüber eine realistische Kunst, welche zwar (in bestimmten Bereichen) bereits im hellenistischen und römischen Zeitalter aufkam, ihren wahren Siegeszug aber erst in der europäischen frühen Neuzeit antrat.

Aber gerade als die realistisch-deskriptive Portaritkunst zu blühen begann, stellte sich heraus, dass ihr Darstellungszweck das Versagen seiner Verwirklichung in sich birgt, mithin der Darstellungsakt sich trotz seiner bekundeten Absicht („die Dinge so darzustellen, wie sie sind“) letztlich als unfähig erweist, sich der ihm inhärenten Repräsentation zu entledigen. Dem war so, nicht nur weil das Portrait ein Privileg höherer gesellschaftlicher Schichten war – deren soziale Repräsentation ein konstitutives Moment in der Akkumulation kulturellen Kapitals und der ideologischen Konsolidierung ihrer politischen Herrschaft war (und noch immer ist) –, sondern auch, weil es im Wesen der Sache liegt, dass jeder Darstellungsakt zugleich mit der (wie immer genauen) mimetischen Präsentation unweigerlich auch die ideelle Repräsentation des Dargestellten mitbewirkt; es gibt ja keine unvermittelte Imitation, schon deshalb, weil jeder Imitationsakt stets im Bewusstsein des Imitierens eingebettet ist.

Mehr noch: Es besteht immer eine Diskrepanz zwischen dem Signifikanten (Imitation) und dem Signifikat (Gegenstand der Imitation), denn schon das Signifikat ist ja nicht das „Ding an sich“, sondern ein (begriffliches, visuelles, auditives) Bild, das wir von ihm haben. Nicht nur ist also der Imitationsakt im Wesen künstlich (was ja Kunst immer ist), sondern das Künstliche selbst ist notwendigerweise vermittelt (und es erübrigt sich hier, den Gedanken fortzuspinnen, dass die Vermittlung selbst aus einer sich lang ziehenden Reihe von immer mehr Vermittlungen bestehe).

Das Problem erweist sich als besonders komplex bei Kunstportraits von Theater- oder Filmschauspielern. Denn das Objekt der portraitierten Darstellung in diesem Fall – der Schauspieler – erscheint bereits als vermittelt; seine berufliche Aura zwingt ihm dies notwendig auf: die Verhüllung seiner Person durch die Maske bzw. seine Verwandlung in eine öffentliche Persönlichkeit kraft seiner persönlichen Maske. Man muss natürlich zwischen dem Portrait des Schauspielers und dem des Privatmenschen unterscheiden. Es erhebt sich gleichwohl die Frage, ob eine solche Unterscheidung letztlich möglich sei: Denn so, wie das Klischee vom hinter der Bühne weinenden Clown sich dialektisch von der lustigen Clownsgestalt, die ihr spaßiges Werk vor dem Publikum verrichtet, speist, so entstammt auch die Erregung beim Anblick des privat erscheinenden Schauspielers primär der Überschreitung der klaren Grenze zwischen dem Schauspieler, der die Maske zum Zweck seines beruflichen Lebens hat werden lassen, und dem, was sein Leben ohne jenen Zweck (vermeintlich) ist.

Das bestimmende Moment in der Formung unserer Wahrnehmungserwartung bei der privaten Erscheinung des Schauspielers, ein Moment, das seine Kraft von der Aura des Schauspieler-Menschen in der Rolle des „Schauspielers“ bezieht, verwandelt jenes private Leben selbst in eine Art Maske – eine Charaktermaske. Von dieser Fetischisierung der Person bis hin zu ihrer Entstellung zur Marke und der Kommerzialisierung dieser als Charaktermaske auftretenden Marke bis hin zur Verwandlung des „privaten Lebens“ in eine Ware per se, nährt sich ja die Kulturindustrie, seitdem sie im modernen Zeitalter begann, die öffentliche Sphäre zu erobern und alle Ecken, Nischen und Spalten der privaten Lebenswelten und des individuellen Daseins zu durchdringen.

Was also kann ein berühmte Theater- oder Filmschauspieler portraitierender Maler machen – erst recht dann, wenn die von ihm Portraitierten ihm nicht Modell sitzen und er sich gezwungen sieht, sich mit Fotos jener Schauspieler zu behelfen? Nicht nur werden ihm diese Fotos zwangsläufig zu Portraits von bis ins kleinste Detail stilisierten Charaktermasken des „auratisierten“ Theater- oder Filmschauspielers verkommen, sondern der malerische Akt wird sich nur noch als Gestaltung eines portraitierten Portraits vollziehen lassen.

Der Maler wird sich mit dieser objektiven, ihm aufoktroyierten „Beschränkung“ arrangieren müssen und sie sogar affirmativ verstärken: Die Charaktermaske wird bewusst für eine solche deklariert werden und ihre Bestätigung durch die Akzeptanz der Authentizitätslosigkeit des seines Originals verlustig gegangenen Portraits erhalten – das nicht-portraitierende Portrait als eine ihrer selbst bewussten Erklärung über das immanente Versagen des Anspruchs, etwas über das Darstellbare Hinausgehendes darzustellen; die Charaktermaske als „finale“ Wirklichkeit.

Dies selbst mag sich als eine willkommene authentische Aussage über die Authentizitätslosigkeit erweisen. Aber es will scheinen, dass die Malerei, die sich dem rigorosen Diktat des fotografischen „Realismus“ verweigert, dennoch mehr als die bloße, sich ihrer selbst rühmenden „Kapitulation“ vor dem Versagen des ambitionierten realistischen Portraits zu bewirken vermag: Sie mag mit ihren eigenen Ausdrucksmitteln – der Auflösung der linearen Form und der Flächenanordnung, der Unterwanderung der natürlichen Farbigkeit und der „selbstverständlichen“ Textur – das verborgene Wesen der präsentiert-repräsentierten Gestalt zu entbergen versuchen, ein Wesen, das sich zwar von seiner Verdeckung speist, während seine Ent-Deckung es dessen berauben könnte, was es ist, zugleich aber, und sei es für einen kurzen Moment, die „andere“ Wirklichkeit der Gestalt anzuzeigen vermag, jene Wirklichkeit, welche die Darstellung stets zu erobern und zu beherrschen trachtet, aber in den großen Momenten der Erschütterung der künstlerischen Darstellung sich ihrer Übermächtigung zu entwinden, um uns anzublicken.

Es bedarf einigen Muts, dieses Ziel verwirklichen zu wollen: Dieses Wesen malerisch zu erfassen. Es bedarf aber auch einiger künstlerischer Verantwortungslosigkeit, dieses Ziel nicht verwirklichen zu wollen, wenn der Künstler sich der (vergeblichen?) Aufgabe verschrieben hat, ein Portrait zu malen.

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