Kürzlich machte Helena Maleno, die vielfach mit Preisen ausgezeichnete spanische Journalistin und Expertin für Migration, öffentlich, “gewaltsam” aus Marokko nach Spanien “deportiert” worden zu sein. Zuvor waren sowohl in Spanien und in Marokko Versuche gescheitert, sie vor Gericht zu stellen und für ihren Einsatz für Menschenrechte ins Gefängnis zu bringen.
Wir sprachen mit Helena Maleno, der Gründerin der Nichtregierungsorganisation (NGO) Caminando Fronteras/Walking Borders, die sich zu einer Art Notrufzentrale für Migranten in Seenot entwickelt hat.
Vor kurzem haben Sie öffentlich angeklagt, “gewaltsam” aus Marokko nach Spanien “deportiert” worden zu sein. Was genau ist passiert?
Helena Maleno: Ich bin nach einem Arbeitsaufenthalt in Spanien nach Hause nach Marokko geflogen, wo ich seit 20 Jahren lebe und wo meine Kinder geboren wurden und aufgewachsen sind. Als ich, aus Madrid kommend, auf dem Flughafen in Tanger ankam, wurde mir mein Pass abgenommen und ich wurde von etlichen Leuten umringt, die keine Masken trugen und keinen Sicherheitsabstand einhielten. Niemand sprach mit mir. Mir wurden meine Medikamente und Wasser verweigert. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich ins nächste Flugzeug gesetzt und nach Barcelona in eine Stadt deportiert werden würde, mit der ich nichts zu tun habe.
Ich konnte noch eine Nachricht an meine Kollegen schicken, um sie darüber zu unterrichten. Auch im Flugzeug war die Behandlung schlecht. Man gab mir, obwohl der Flieger voll war, keine neue Maske, um die ich gebeten habe. Obwohl mir schwindelig war, was passiert, wenn ich meine Medikamente nicht nehmen kann, wurde mir auch vom Bordpersonal Wasser verweigert. Ich durfte nicht sprechen, nicht aufstehen, hatte weder meinen Pass noch meine persönlichen Gegenstände. Die bekam ich erst in Barcelona von der spanischen Polizei zurück, die ans Flugzeug gekommen ist.
Bedeutet das, dass die spanischen Behörden eingebunden waren?
Helena Maleno: Natürlich. Allerdings hat uns das Außenministerium erklärt, nichts davon gewusst zu haben, da das über das Innenministerium lief.
Ihnen wurde keine Erklärung gegeben oder ein Gerichtsbeschluss vorgelegt?
Helena Maleno: Nein. Mir wurden alle Rechte entzogen, ich bekam keine Erklärung, durfte nicht einmal sprechen, aufstehen oder Wasser trinken. Ich war in einer Situation, die mir sonst Geflüchtete geschildert haben: völlig rechtlos zu sein.
Sie haben von Gewalt gesprochen, wie war die Behandlung durch die marokkanische Polizei?
Helena Maleno: Ich wurde ins Flugzeug gedrängt. Ich habe keinen Widerstand geleistet, da es sonst zur auch zur physischen Gewaltanwendung gekommen wäre. Ich hätte das ohnehin nicht gekonnt, da mir schon sehr schwindelig war. Mein Zustand war sehr schlecht, als ich in Barcelona eintraf.
Fast zwei Monate sind seither vergangen, warum haben Sie das erst jetzt öffentlich gemacht?
Helena Maleno: Meine 14-jährige Tochter befand sich noch in Marokko, das hat bei mir Panik ausgelöst. Wir wissen, dass auch sie von der Polizei beschattet wurde, Polizisten kamen an ihre Schule. Wir waren seit langem um ihre Sicherheit besorgt. Wir haben zunächst über spanische Stellen versucht, meine Tochter herauszuholen, was erst nach 32 Tagen gelang. Sie musste bei der Ausreise von Angestellten des Konsulats begleitet werden. Sie wurde verfolgt, weil sie die Tochter einer Menschenrechtsverteidigerin ist.
Es ist schrecklich, dass so etwas passiert. Drei Mal war zuvor bei uns eingebrochen worden. Es wurde nie etwas gestohlen, aber es verschwand ein Papier, auf dem die Aktivitäten meiner Tochter aufgeführt waren. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl, um uns zu terrorisieren. Internationale Organisationen wie die Weltorganisation gegen Folter bis zur UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte haben sich über diese Vorgänge und über unsere Sicherheit sehr besorgt gezeigt.
Wir haben aber auch deshalb gewartet, weil die spanischen Behörden uns versichert hatten, man werde eine Lösung finden. Denn wir haben hier nichts, alle unsere Sachen sind in Marokko. Wir haben schließlich mit verschiedenen internationalen Organisationen dann beschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Europa muss wissen, dass Menschenrechtsverteidiger verfolgt werden, ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit in Gefahr ist.
Auch Frontex hat falsche Berichte über mich und andere angefertigt
Wie erklären Sie sich diese Vorgänge? Denn Ermittlungen gegen Sie, angeblich Menschenhandel zu betreiben und die illegale Einwanderung zu fördern, wurden vor zwei Jahren schließlich auch in Marokko eingestellt.
Helena Maleno: Die Verfolgung hatte nie aufgehört, obwohl wir in Spanien und in Marokko vor Gerichten erfolgreich waren. In den Ermittlungen kam heraus, dass die Anschuldigungen auf falschen Angaben der spanischen Polizei und der Europäischen Grenzagentur Frontex beruhten, einer Institution, die viel Geld verschlingt und völlig intransparent ist. Auch Frontex hat falsche Berichte über mich und andere angefertigt. Die Agentur steht ohnehin schwer in der Kritik in einigen europäischen Parlamenten.
Ich hatte in meinem Buch “Mujer de Frontera” (Frau an der Grenze) aus diesen Berichten zitiert. Zum Beispiel forderte die spanische Polizei darin von Marokko, mich zu einer lebenslänglichen Haftstrafe zu verurteilen. Lebenslänglich dafür, dass ich die spanische Seenotrettung darüber informiere, wenn wir davon erfahren, dass sich ein Boot mit Menschen auf dem offenen Meer befindet. Wir rufen dann auch die Küstenwache Marokkos, Algeriens oder Mauretaniens an. Wir wissen ja nicht, wo sich das Boot befindet. Sogar in diesen Berichten wurde ausgeführt, dass ich damit kein Geld verdiene. Ich soll also eine Schleuserin ohne Geldabsicht sein. Ich sollte zu einer lebenslänglichen Strafe für Solidarität und die Verteidigung von Menschenrechten verurteilt werden. Das ist total verrückt!
Waren die Vorwürfe nicht längst auch in Spanien verworfen worden?
Helena Maleno: Natürlich. Ein spanischer Staatsanwalt am Nationalen Gerichtshof hatte der Polizei schon zuvor erklärt, dass mein Wirken kein Delikt darstellt. Da ich aber in Marokko lebte, hat die Polizei die Polizeikooperation genutzt, um mich dort erneut zu verfolgen. Diese Berichte waren reiner Dreck. Zu Beginn stand eine Liste mit meinen angeblichen Sexualkontakten, darunter auch eine Frau, sogar mit den Anschriften dieser Menschen. Das war das erste, was ein marokkanischer Richter zu Gesicht bekam. Ich werde als eine Art Hure dargestellt. Bevor über Vorwürfe gesprochen wird, geht es um mein angebliches Sexualleben.
Ohnehin hatten mich Unterstützer verschiedener internationalen Organisationen stets gewarnt, dass man andere Wege einschlagen werde, wenn eine Inhaftierung über die Justiz nicht gelingt. Allein im zurückliegenden Jahr habe ich 37 Vorfälle registriert. Einbrüche in meine Wohnung, polizeiliche Schikanen an Grenzen, wo ich wie eine Terroristin behandelt werde, Überwachung durch die Polizei, Angriffe, Morddrohungen…
Stehen hinter dem Vorgehen die “Kloaken des Staates” und das spanische Innenministerium, wie sie erklären?
Helena Maleno: Die Vorgänge gehen auf die Regierungszeit der Volkspartei unter Innenminister Jorge Fernández Díaz zurück, aber der heutige Innenminister Fernando Grande-Marlaska hat sie nicht gestoppt. Die Polizisten, die mit meiner Verfolgung begonnen haben, sind weiter im Amt. In Spanien gibt es ein sehr großes Problem mit den Kloaken des Staates, nicht nur in meinem Fall. Verfolgt werden Sänger, Politiker, Menschenrechtsaktivisten…
Wir hatten geglaubt, dass mit dem Regierungswechsel, als der Sozialist Pedro Sánchez Regierungschef wurde, auch ermittelt wird, was in dieser Polizei vor sich geht. Wir dachten, dass der Verfolgung ein Ende gesetzt wird. Das haben wir auch auf Treffen mit Vertretern der Regierung verlangt. Verschiedene Ministerien haben sich auch für meinen Fall interessiert. Ein Teil dieser Regierung hat meine Arbeit anerkannt, für die ich national und international mehr als 20 Preise erhalten habe. Doch die Macht des Innenministeriums ist in Spanien sehr groß, nicht nur in meinem Fall. Und dort wurde die Verfolgung nicht gestoppt.
Ist das nicht frustrierend, schließlich waren sogar Mitglieder dieser Regierung wie Pablo Iglesias und seine Partei Podemos Opfer von erfundenen Anschuldigungen aus den Kloaken?
Helena Maleno: Betroffen war aber nur ein Teil dieser Regierung. Deshalb haben wir uns in einem Brief jetzt an den Regierungschef direkt gewendet, um Schutz für mich und meine Familie zu fordern. Den Brief haben schon 700 Organisationen und mehr als 11.000 Menschen unterschrieben. Wir kennen die Unterschiede, die es in verschiedenen Ministerien gibt. Deshalb fordern wir nun von Sánchez, dass er auf den Tisch haut und den Innenminister anweist, die Verfolgung einzustellen.
Ist das wahrscheinlich? Denn auch Pedro Sánchez weiß, wer Grande-Marlaska ist. Er hat den ehemaligen Ermittlungsrichter ernannt. Der führte die der Mehrzahl der elf Verfahren, in denen Spanien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Folter und Misshandlungen verurteilt wurde und ermittelte nicht gegen Folterer.
Helena Maleno: Mir sagen auch internationale Menschenrechtsorganisationen, dass man auch meinen Fall als eine Art Folter bezeichnen kann. Und dieser Innenminister hat die Folter gewissermaßen normalisiert. Das ist leider die Situation.
Fürchten Sie auch in Spanien weiter um Ihr Leben und das Leben ihrer Familie?
Helena Maleno: Ja. Wir haben viele Drohungen bekommen. Ich bekomme sie weiter täglich über soziale Medien, über Anrufe… Ich habe eine Anzeige im Umfang von 34 Seiten mit Bedrohungen eingereicht, doch niemand hat ermittelt. Es herrscht Straflosigkeit. Wir wissen, dass der Rassismus zunimmt und die extreme Rechte im spanischen Staat stärker wird und Menschen angreift. Kürzlich wurde sogar ein 12-jähriger Junge von einem Mann angegriffen. Bestimmte Menschen, auch ich, werden sogar von der Polizei weiter angeschwärzt, wie gerade erneut gegenüber einer Zeitung. Das passiert, obwohl zwei Gerichte entschieden haben, dass ich nichts verbrochen habe. Das hört nicht auf. Das Klima wird rauer. Wenn da nicht schnell eingeschritten wird, wird es Leute geben, die dann Leute wie mich angreifen.
Die Entwicklung im spanischen Staat ist sehr besorgniserregend
Wie erleben Sie Ihre derzeitige Situation?
Helena Maleno: Ich lebe in einer Art Exil, ohne all meine Habseligkeiten. Das ist oft das Ziel eines solchen Vorgehens. Das Leben von Menschen soll zerstört werden, die sich für Menschenrechte einsetzen. Ich habe zwar meine Sachen nicht, aber ich habe das Glück, über ein gutes Team zu verfügen, das mich schützt. Dazu gibt es viele internationale Organisationen, die uns unterstützen, meinen Fall verfolgen. Allerdings müssen diese Vorgänge an die Öffentlichkeit gebracht werden. Ich bin nur ein Fall unter vielen. Die Richtung, die Europa bei der Verfolgung von Menschen eingeschlagen hat, die sich für Menschenrechte einsetzen, wird immer totalitärer. Nicht nur, weil die extreme Rechte stärker wird, sondern auch, da linke Regierungen in bestimmten Bereichen wie Rechtsextreme vorgehen, wie zum Beispiel an den Außengrenzen. Deshalb müssen wir uns gegenseitig unterstützen und gemeinsam protestieren.
Gibt es Ihnen Kraft, dass sich schnell viele Menschen und Organisationen hinter Sie gesteIlt und den Brief an Sánchez unterschrieben haben?
Helena Maleno: Die Welle der Solidarität ist umwerfend und dafür möchte ich mich bei allen dafür bedanken. Ich und unsere Organisation erhalten viel Unterstützung für unsere Arbeit. Das ist eine sehr breite Unterstützung. Unterschrieben haben von kirchlichen Organisationen bis zu Organisationen, die eher in der Linken angesiedelt sind. Auch das zeigt, dass die Öffentlichkeit besorgt über die sich verschlechternde Menschenrechtslage ist. Das ist gut, nicht nur für mich, sondern auch für den Schutz anderer. Es ist ein klares Signal an diese und andere Regierungen, dass diese Vorgänge nicht hingenommen werden und wir dagegen aufstehen. Das ist sehr wichtig.
Sie haben es angesprochen, dass ihr Fall nicht isoliert betrachtet werden kann. Wie sehen Sie zum Beispiel den Fall des katalanischen Aktivisten Jordi Cuixart, der seit dreieinhalb Jahren wegen angeblichem Aufruhr inhaftiert ist? Sogar die US-Regierung und der Europarat kritisieren Spanien unter anderem dafür scharf und die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen fordert die Freilassung von ihm und anderen politischen Gefangenen.
Helena Maleno: Die Entwicklung im spanischen Staat ist sehr besorgniserregend. Der Fall von Jordi Cuixart steht dafür auch beispielhaft. Wir sprechen vom Präsidenten einer Kulturorganisation, der zudem dafür gesorgt hat, dass keine Gewalt bei Protesten eskaliert, der eben nicht zu Gewalt angestachelt hat. Auch er wird herausgedeutet und verfolgt. In meinem Fall konnten wir eine Verurteilung auf Basis von falschen Anschuldigungen und Polizeiberichten abwenden, aber in anderen Fällen führen sie zu Prozessen und Verurteilungen.
Lassen Sie sich durch die Vorgänge einschüchtern?
Helena Maleno: Nein, natürlich nicht. Wir werden weiterarbeiten. Gerade haben wir die Guardia Civil darüber informiert, die vor den Kanarischen Inseln die Seenotrettung koordiniert, dass am Wochenende zwei Boote aus Mauretanien mit jeweils mehr als 40 Personen auf dem Meer sind und ihre Familien sie suchen. Wir versuchen gerade auch herauszufinden, wer sich in den Booten befunden hat, die im März und April im Atlantik verschwunden sind, damit all diese Menschen registriert werden, damit auch ihre Familien informiert werden.
Allein 2020 haben wir 2170 Personen gezählt, die in einem Jahr im Atlantik oder im Mittelmeer beim Versuch verschwunden sind, den spanischen Staat zu erreichen. Wir werden weiterarbeiten, denn die Verteidigung von Menschenrechten, wie das Recht auf Leben, ist in Europa heute fundamental, das vor allem über ökonomische Interessen bedroht ist. Allein die Abschottungspolitik ist ein riesiges Geschäft und es wird entsprechende Lobbyarbeit auch im Europaparlament von Firmen betrieben, die sich auf die Kontrolle spezialisiert haben und großen Einfluss haben. Auch deshalb werden wir immer stärker verfolgt und angeschwärzt, weil wir einem großen Geschäft und Frontex im Weg stehen. Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment um die Einhaltung demokratischer Rechte einzufordern.
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