Wer in Armut aufwächst, wird wahrscheinlich arm bleiben. Das liegt nicht nur an mangelnden Aufstiegschancen, sondern auch daran, wie die kindliche Erfahrung das Gehirn formt.
Tellerwäscher werden gemeinhin keine Millionäre – weder jetzt noch je, weder hier noch anderswo. Die ohnehin schon geringe Wahrscheinlichkeit einer solchen Karriere ist aber in den vergangenen Jahrzehnten noch gesunken. In den Industriegesellschaften des Westens und insbesondere in Deutschland ist die soziale Mobilität ausgesprochen gering. Wer arm ist, wird es bleiben.
Dieser Zusammenhang gilt auch über die Generationen hinweg. Beruf und Bildungsstand der Eltern sind die stärksten Einflussgrößen auf das Einkommen der nächsten Generation (PDF). Es ist unwahrscheinlich, dass die Professorentochter in Hartz IV landet, und nicht wahrscheinlicher, dass der Sohn des Langzeitarbeitslosen Vorstandsvorsitzender wird. Im Ergebnis entsteht verfestigte Armut: Familien, die arm sind, bleiben es für lange Zeit, und auch in der nächsten Generation. In Deutschland gehören rund 20% der Kinder und Jugendlichen solchen Familien an.
Dafür, dass Armut sich vererbt, gibt es verschiedene Erklärungsansätze auf verschiedenen Ebenen. Ökonomische Einflüsse spielen zweifellos eine große Rolle: Wenn die Eltern wenig Geld haben, dann können sie auch keine Nachhilfe bezahlen, keinen Musikunterricht, keinen Sportverein, keine Bildungsurlaube, etc.. Ihre Wohnungen sind kleiner, der Lärm größer, die Computer schwächer.
Ebenfalls viel diskutiert werden sozialpsychologische Faktoren. Kinder in armen Haushalten erleben von klein auf, was Armut seelisch bedeutet: Demütigung und Machtlosigkeit; einen misslichen Zustand, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Sie beobachten bei ihren Eltern zwei Haltungen: Zum Einen Fatalismus, also die Einstellung, dass sie an ihrem Leben selbst nichts ändern können. Und zum Anderen eine Gegenwartsorientierung, also die Neigung, Belohnung – da sie halt selten kommen – lieber sofort zu konsumieren, als sie für einen größeren Gewinn aufzuschieben (PDF). Beides ist in der Welt eines armen Menschen völlig rationales Verhalten, leider aber nicht förderlich für zukünftigen Erfolg.
Eine gewisse Rolle spielen auch körperliche Faktoren: Sogar in den angeblich reichen Ländern des Westens bekommen arme Kinder nicht immer genügend zu Essen. Ein Fünftel aller Viertklässler kommt in Deutschland an einigen Tagen pro Woche mit knurrendem Magen zur Schule; die Hälfte davon – ein Zehntel aller Kinder – sogar immer, wie eine Studie kürzlich zeigte. Der Kalorienmangel schlägt aufs Gehirn: Die unzureichend ernährten Kinder schneiden im IGLU-Lesetest um fast 40 Punkte schlechter ab als die gut versorgten. Mag das auch zum Teil nur eine Korrelation sein, so zeigt es doch einen Mechanismus auf, wie sich Armut vererbt: Sie führt zu schlechten Schulleistungen, und diese zu schlechten Jobs.
In den Mangel genommen
Arme Kinder haben anderthalbmal so häufig Lernstörungen und doppelt so häufig schulische Probleme wie gutsituierte Mitschüler. Auf die eine oder andere Weise drückt die Erfahrung von Mangel und Demütigung auf das Denkorgan. Dass das Gehirn dasjenige Organ ist, das vielleicht am stärksten unter Armut leidet, haben mittlerweile zahlreiche Studien belegt.
Insbesondere die Sprachfähigkeit, das Arbeitsgedächtnis und das deklarative Gedächtnis von Kindern werden durch Armut in Mitleidenschaft gezogen – lauter kognitive Fähigkeiten also, die unabdingbar sind, um gute Noten zu erlangen. Ein Blick ins Gehirn bestätigt die psychometrischen Befunde: Weite Bereiche der Großhirnrinde, etwa im seitlichen Stirnhirn – zuständig für Arbeitsgedächtnis und Verhaltenskontrolle -, und im Schläfenlappen – beteiligt an der Langzeitgedächtnisbildung – korrelieren in Dicke und Oberfläche mit dem sozioökonomischen Status. Auffallend sind besonders Hotspots des Substanzverlusts in sowohl der semantischen (Wernicke) als auch der syntaktischen (Broca) Sprachrinde von armen Kindern. Ihnen gute Schulleisten abzuverlangen ist, als ließe man jemanden Gewichtheben, der noch vor zwei Tagen beide Arme eingegipst hatte.
Ebenso wie jemand, der bestimmte Muskeln nur eingeschränkt nutzen kann, Alternativstrategien und Ausweichbewegungen entwickelt, findet auch das geschwächte Gehirn von in Armut lebenden Kindern eigene Wege der Problemlösung. Eine umfassende Studie bestätigte zunächst, dass Jugendliche aus Haushalten mit geringem Einkommen ein schwächeres Arbeitsgedächtnis und – z.T. deswegen – schlechtere Mathematikleistungen zeigten als solche aus wohlhabenden Haushalten. Sie bestätigte ebenfalls, dass v.a. das seitliche Stirnhirn, Teile des Scheitellappens und der Basalganglien im Inneren der Großhirnhemisphären bei Arbeitsgedächtnisaufgaben aktiv sind.
Doch wenn man arme und gutsituierte Jugendliche mit gleicher Arbeitsgedächtnisleistung miteinander verglich, dann korrelierte nur bei letzteren der Anspruch in der Gedächtnisaufgabe mit der Aktivität des Stirnhirns. Jugendliche aus armen Familien erbrachten dieselbe Leistung, ohne dafür ihr Stirnhirn stärker zu aktivieren. Anscheinend setzten sie ihr Gehirn auf andere Weise ein – und anscheinend auf individuell verschiedene Weisen, denn es purzelte keine signifikante Alternativaktivierung aus der Statistik.
Loser der Gen-Lotterie?
Das übliche Problem mit Korrelationsstudien: Es könnte auch alles umgekehrt sein. Vielleicht schädigt nicht Armut das Gehirn, sondern Dummheit macht arm? Immerhin wähnen wir uns ja in einer Leistungsgesellschaft. Menschen sind von Geburt an verschieden. Zwerge werden keine NBA-Stars, Schwerhörige keine Spitzendirigenten, Asthmatiker keine Höhenbergsteiger, und eben Dummköpfe keine Topmanager. Wenn man kognitive Schwächen und kleinere Hirne in der Unterschicht findet, wäre das nach dieser Überlegung nur das Ergebnis eines natürlichen Sortiervorgangs.
Dieser Einwand ist nicht leicht zu entkräften, denn experimentelle Interventionsstudien sind nur schwer vorstellbar, geschweige denn umsetzbar. Ein Behelfsmittel ist die Längsschnittuntersuchung, die nach der Faustregel „post hoc ergo propter hoc“ das frühere Ereignis zur Ursache und das spätere zur Folge erklärt.
Dementsprechend stellte eine jüngere Studie immerhin eine zeitliche Abfolge fest: Fast 19.000 Kinder im Vereinigten Königreich werden seit ihrer Geburt 2000/2001 regelmäßig untersucht. Diejenigen, die zeitweise oder dauerhaft in Armut gelebt haben, hatten im Alter von 5 und von 11 Jahren ein erheblich erhöhtes Risiko psychischer Störungen wie Hyperaktivität, Verhaltensauffälligkeiten oder emotionaler Störungen. Eine weitere Untersuchung derselben Kohorte zeigte, dass Kinder Verhaltensprobleme entwickelten, nachdem ihre Familie Armut abgerutscht war, und legte damit eine Kausalität nahe.
Diverse weitere Studien haben bestätigt, dass vor allem Änderungen im Familieneinkommen sich auf die Intelligenz der Kinder auswirken: Steigt es, so steigt bald darauf auch die Intelligenz; sinkt es, folgen die Schulleistungen nach. Und zwar insbesondere dann, wenn die Armut während der frühen Kindheit zuschlägt. Heranwachsende verkraften sie besser.
Längsschnittuntersuchungen der Gehirnentwicklung untermauern diesen Zusammenhang. Unter Armutsbedingungen reifen die Gehirne von Kindern und Jugendlichen verfrüht; bis zum Alter von drei bis vier Jahren sind verschiedene Gebiete der Hirnrinde bei ihnen dicker. Dann schneiden sich die Linien, und für den Rest des Lebens bleibt ihre Hirnrinde dünner. Die harte Umwelt fordert, so scheint es, eine schnellere Reifung des Denkorgans. Arme Kinder werden früher erwachsen, verlieren damit aber die Offenheit für weiteres Lernen.
Noch aussagekräftiger aber wären Interventionsstudien. Und mögen sie auch, wie oben gesagt, schwer umzusetzen sein: Ganz unmöglich ist es nicht. Die Einführung staatlicher Programme etwa eignet sich für den Vergleich von Kontroll- und Behandlungsgruppen. So beobachtete eine Studie mexikanische Vorschulkinder über fünf Jahre hinweg, die von dem Oportunidades-Programm profitierten. Bei diesem Programm erhalten u.a. die Eltern Bargeld, wenn sie ihre Kinder regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen bringen. Die Verdopplung der Geldzuweisung verbesserte bei den untersuchten Vorschulkindern die Gesundheit auf vielerlei Weise: Sie wurden größer und weniger dick, entwickelten sich motorisch besser und schnitten auch in Kognitionstests und Sprachfähigkeit besser ab als Kinder, die erst anderthalb Jahre später in das Programm aufgenommen worden waren.
Und noch eine Form von Experimenten gibt es, die dem nahekommen, was man mit Versuchstieren machen würde: Geschwister zufällig auf unterschiedliche Lebensbedingungen verteilen und nach einiger Zeit untersuchen. Die Rede ist von Adoptionsstudien. Sie zeigen übereinstimmend, dass die Intelligenz von adoptierten Kindern sich der Adoptionsfamilie anpasst. Vergleicht man Geschwister, von denen eines adoptiert, das andere in der Ursprungsfamilie aufgewachsen ist, dann korreliert ein Unterschied im Bildungsgrad zwischen den Familien hoch und linear mit einem Unterschied im IQ zwischen den Geschwistern – die Differenz kann bis zu acht Punkten betragen.
Arme Biester
Unterstützung für die Feststellung, dass Armut dumm macht, und nicht umgekehrt, kommt aus tierexperimentellen Untersuchungen. Es ist nicht leicht, eine so komplexe soziale Situation wie Armut im Mäusekäfig nachzubilden: Mäuse kennen weder Geld noch Ängste um die Zukunft der Kinder, und auch der Vergleich mit anderen und das Gefühl der Scham dürften ihnen fremd sein.
Einige Forscher ließen sich davon nicht schrecken und entwickelten ein Mäusemodell der Armut, das sie in derselben Studie mit den Ergebnissen einer Längsschnittuntersuchung an Kindern abglichen. Arm waren ihre Mäuse nur an einem: an Holzspänen. Während die Mäusemütter in der Kontrollbedingung bequem auf vier Zentimetern Einstreu lagerten und ein gemütliches Nest für ihre Jungen bauen konnten, bekamen die Mangelmäuse nur eben genug Einstreu, dass der Boden bedeckt war. Schon das genügte, um Hirnfunktion der Mäusekinder messbar zu verändern.
Das Hauptergebnis der Studie aber ist der Weg dorthin: Die Forscher beobachteten, dass Mäusemütter, die mit einem untauglichen Nest zurechtkommen mussten, sich viel schlechter um ihre Jungen kümmerten. Sie kuschelten seltener mit ihnen im Nest, stattdessen lagen die Jungen oft verstreut herum, wurden grob herumtransportiert, und die Mutter trat versehentlich auf sie drauf.
Derselbe Mechanismus zeigte sich auch bei der Kohorte von über 1200 Kleinkindern in Familien mit geringem Einkommen, die parallel beobachtet wurde: Je ärmer die Eltern, desto nachlässiger kümmerten sie sich um ihre Kinder, und desto schlechter entwickelten diese sich kognitiv.
Zusammengenommen legen die beiden Teile der Studie nahe, dass der sozioökonomische Status sich auf Kinder indirekt durch das Verhalten der Eltern auswirkt. Fehlt es den Eltern an materieller und sozialer Sicherheit, dann sind sie gestresst. Sie verlieren auch im Umgang mit ihren Kindern leichter die Geduld, und verletzen damit Seele und Denken der Kinder. Armut schädigt Kinder also nicht erst, wenn sie hungern oder kein Dach über dem Kopf haben. Sie leiden schon, wenn die Eltern sich gesellschaftlich ausgegrenzt, chancenlos und zu kurz gekommen fühlen.
Der Teufelskreis
Wer wenig verdient, trägt seinen Stress mit nach Hause. Die Kinder werden achtloser betreut, daher reifen ihre Gehirne übereilt, um sich in einer feindseligen Umwelt bald behaupten zu können. Leistungsfähig aber werden sie so nicht, im Gegenteil: Planungs- und Gedächtnisfähigkeiten bleiben unterentwickelt. Darunter leiden die schulischen Fähigkeiten. Die Jugendlichen erreichen nur schlechte Abschlüsse, und häufig nicht einmal diese. Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlte Jobs sind die Folge, und mithin: Armut. Und wer wenig verdient, trägt seinen Stress mit nach Hause . . .
Programme wie das erwähnte Oportunidades-Programm (mittlerweile heißt es Prospera) zeigen, dass die Gesellschaft diesen Teufelskreis durchbrechen kann. Und es kostet nicht einmal sehr viel. Oportudinades ist längst in vielen anderen Ländern kopiert worden, meist in Lateinamerika, aber auch der Türkei, Malawi oder Kambodscha. Dass im angeblich so reichen Deutschland ein Fünftel der Kinder in Armut aufwachsen muss, das ist vor diesem Hintergrund weder belanglos noch zu rechtfertigen.