Covid-19 in Schweden – Hilferuf an die Nachbarn?

Abstandshinweis auf dem Bürgersteig in Stockholm. Bild: Frankie Fouganthin/CC BY-SA-4.0

Für Schweden ist noch keine Entspannung in der Epidemie angesagt – das Land hat aktuell die zweithöchste Infektionsrate in der EU. Besonders in den Krankenhäusern ist die Lage wegen Überlastung des Personals angespannt, auch wenn die Belegung auf den Intensivstationen und die Infektionszahlen langsam zurückgehen.

 

Der Verbund der Kommunen und Regionen (SKR) setzte darum am Freitag vor einer Woche die rotgrüne Regierung unter Stefan Löfven mit einer Anfrage unter Druck, Personal von den skandinavischen Nachbarn „auszuleihen“.

David Konrad, Chef der Intensivabteilung der Karolina Universitätsklinik bei Stockholm, gehört zu den Medizinern, die seit Monaten vergeblich um Verstärkung gebeten haben. „Wir haben vor allem nicht genug Intensivkrankenschwestern, der Sommer wird eine harte Herausforderung“, sagte der Facharzt gegenüber dem schwedischen Sender SVT. Denn dann wollen viele der überarbeiteten Kräfte Urlaub nehmen würden viele Menschen mit nicht coronabedingten Krankheiten auf die Intensivstationen drängen.

Die Anfrage der Regionen, Krankenhauspersonal aus den Nachbarländern zu ordern, wird von der schwedischen Regierung „eilig analysiert“, versprach Gesundheitsministerin Lena Hallengren. Umgehend reagierte der erste Intensivmediziner Dänemarks Joachim Hoffmann-Petersen und bot am gleichen Tag an, ausgeruhte und geimpfte Kräfte innerhalb von 24 Stunden zu schicken.

Doch so hoppla-hopp läuft die „eilige Analyse“ nicht, erst nach einer Woche gab Hallengren bekannt, dass die schwedische Regierung Gespräche mit Dänemark und Norwegen führen wolle. „Es gibt die Einsicht, dass wir eine herausfordernde Situation haben“, räumte Hallengren am Wochenende ein.

Derzeit  sind 214 Personen mit Covid-19 auf der Intensivstation, 35 weniger als in der vergangenen Woche. Das Land mit seinen zehn Millionen hat es auch geschafft, bereits über 44 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu impfen. Überdies sind eine Million Schweden bereits genesen. Warum ist die Lage in Schweden dennoch so angespannt?

Aus dem angefragten Gesundheitsamt kommt die Antwort von Anders Tegnell, dem Staatsepidemiologen, per Email: „Die Infektionsraten sind im deutlichen Rückgang, besonders bei den Älteren, die am meisten in Gefahr sind, ernsthaft krank zu werden oder zu sterben. Es dauert eine Weile, bis die Wirkung auf Bevölkerungsebene sichtbar wird. Darüber hinaus erreicht der Impfstoff bis jetzt nicht die Gruppen, die derzeit zur Ausbreitung der Infektion beitragen.“

Ein Verweis von Schwedens bekanntesten Mediziners auf die junge Bevölkerung, wovon sich ein Teil immer weniger an die Restriktionen halten würde, „coronamüde“ sei, wie auch die Behörde für Zivilschutz moniert.

Dabei gibt es in dem skandinavischen Land gar nicht so viele Maßnahmen. Der schwedische Sonderweg machte im Frühjahr 2020 Schlagzeilen, da Anders Tegnell als führender Experte des Gesundheitsamtes von einem Lockdown abriet und die Regierung dies auch unterließ. Weiterhin arbeitet das schwedische Krisenkonzept mehr mit Empfehlungen als mit Verboten. Wie ein Mantra wird von Regierungspolitikern und Experten des Gesundheitsamtes das Abstandhalten gepriesen.

Derzeit haben die Schulen bereits allesamt auf Präsenzunterricht gewechselt, wobei die Grundschulen während der gesamten Pandemie nie geschlossen waren. Weiterhin gibt es auch keine Maskenpflicht, die Geschäfte und Lokale haben auf, letztere müssen um 20.30 Uhr jedoch schließen.

Trotz der hohen Inzidenzzahlen sollen ab Juni die Restriktionen gelockert werden – Lokalitäten dürfen dann zwei Stunden länger offen haben, Vergnügungsparks werden die Tore öffnen, die Versammlungsbeschränkungen drinnen wie draußen werden gelockert.

Einige halten dies für verfrüht. Gegner der Gesundheitspolitik argumentieren, dass die Aerosolverbreitung nicht ernst genommen werde, weswegen viele Schweden keinen Mundschutz trügen, auch würde das Problem Long Covid vernachlässigt.  Dies meint etwa Marcus Carlsson.  Er gehört zu der Gruppe von anfangs 22  Wissenschaftlern, die seit März 2020 die Politik von Regierung und Gesundheitsamt kritisiert und einen Lockdown verlangt haben.

Unter den bekannten Kritikern hätten mittlerweil bereits viele „das Handtuch geschmissen oder das Land verlassen, aufgrund von Drohungen gegen sie und ihre Familie“, sagt der Mathematikdozent in Lund auf Anfrage. Carlsson sieht die Schweden einer „massiven Desinformation“ und „Propagandamaschine“ ausgesetzt.

Nach jüngsten Umfragen vertrauen 52 Prozent dem Staatsepidemiologen, 23 Prozent erklären, dass sie kein Vertrauen verspüren.

Die Gruppe der Skeptiker und Gegner, die sich seit dem Herbst vergrößert hat, weist darauf hin, dass Tegnells Prognosen, etwa Schweden würde von einer zweiten Welle verschont, oft daneben lagen.

Der schwedische Weg teilt das Land, vor allem die 14.451 Toten bringen viele auf, während in dem knapp halb so großen Nachbarland Norwegen 783 Personen an oder mit Covid-19 verstorben sind.

Wie man auch den schwedischen Weg beurteilen mag – wer die Umsetzung der Krisenpolitik in Schweden seit Beginn verfolgt, hat den Eindruck, dass die Gesundheitsbehörde Schwierigkeiten hat, Fehler einzugestehen und ein großer Akzent auf die Beruhigung der Bevölkerung gelegt wird.

Sollte Hallengren nun rasch medizinisches Personal aus den  Nachbarländern holen, könnte dies als Geständnis eines Scheiterns der Krisenpolitik gesehen werden. Die Regierung steht vor einer wichtigen Entscheidung.

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