Bulgarien nach den Wahlen

GAZwithme-Proteste am Freitag gegen die Ankündigung der Übergangsregierung von Ministerpräsident Galeb Donev, mit Gazprom um die Wiederaufnahme der Gaslieferungen verhandeln zu wollen. Bild: F. Stier

Restaurierung des „Modells Borissov” oder Spirale politischer Auswegslosigkeit?

Rückblende: Am Abend des 17. März 2022 führen Polizeibeamte in Boiko Borissovs Haus im Sofioter Vorort Bankja eine Razzia durch und nehmen Bulgariens langjährigen Ministerpräsidenten unter Vorwürfen der Korruption und Nötigung für vierundzwanzig Stunden in Gewahrsam. Noch am selben Abend verbreiten Medien ein für Bulgariens jüngste Geschichte ikonisches Foto. Es zeigt den verhafteten Ex-Regierungschef aus dem Heck des ihn abfahrenden Polizeiautos demoralisiert nach draußen blicken.

In seiner Bedeutung scheint der Schnappschuss zu korrespondieren mit der historischen Aufnahme des verdutzten Gesichtsausdrucks von Staats- und Parteichef Todor Schivkov, als er nach vier Jahrzehnten absoluter Herrschaft am 10. November 1989 vom Zentralkomitee seiner Kommunistischen Partei seiner Ämter enthoben wird.

Zum Zeitpunkt von Borissovs Verhaftung weilt EU-Generalstaatsanwältin Laura Kövesi in Sofia. Besteht zwischen ihrem Aufenthalt und dem Arrest ein Zusammenhang? Ist dieser gar auf Veranlassung der Europäischen Staatsanwaltschaft erfolgt? Dazu gibt es eher widersprüchliche Spekulationen als belastbare Informationen.

Plausibel erscheint die Annahme, dass die seit Dezember 2021 regierende Link-Rechts-Viererkoalition von Ministerpräsident Kiril Petkov mit Borissovs Festnahme Brüssel ihre Entschlossenheit im Kampf gegen Korruption und Organisiertes Verbrechen demonstrieren will. Die Überwindung des „Modells Borissov”, ihr Synonym für den mafiösen Status quo im Land, hat sie zu ihrer höchsten Priorität erklärt. Ermöglichen soll dies eine grundlegende Justizreform und die Absetzung von Generalstaatsanwalt Ivan Geschev, den viele für eine Marionette der Oligarchie halten.

Letztlich bleibt die Verhaftungsaktion folgenlos, abgesehen davon, dass das Oberste Verwaltungsgericht Sofia sie Ende August 2022 für unrechtmäßig erklärt und Borissov eine vom Innenministerium zu leistende Entschädigungszahlung in Höhe von 480 BGN (240 €) zugesprochen bekommt. Regierungschef Petkov wird wenige Tage später sein Amt räumen, nachdem die 47. Bulgarische Volksversammlung bereits im Juni 2022 seiner Koalition ihr Misstrauen ausgesprochen hat.

„Das nächste Mal können sie mich umbringen”, spricht Boiko Borissov am Abend des 18. März nach seiner Entlassung aus dem Gewahrsam zu hunderten Anhängern, die ihn vor den Toren der 7. Polizeidirektion erwarten. Während seiner Amtszeiten als Regierungschef von 2009 bis 2021 haben seine Innenminister dutzende Menschen aus juristisch haltlosen Gründen von der Straße wegfangen und eingesperrt. Dafür ist Bulgarien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mehrfach zu Entschädigungszahlungen verurteilt worden.

Nun beklagt sich Borissov bitterlich über die ihm zuteilgewordene repressive Behandlung, die er zuvor zig anderen hat angedeihen lassen. „Brutal, widerlich, sie haben uns in den Kommunismus zurückgebracht. Gestern essen wir zu Abend mit den Kindern – es treten Zivile ein, Uniformierte, Zeugen. Ohne Anklage. Nichts. Sie bringen alles durcheinander und finden nichts”, schildert der Ex-Premier seinen Anhängern sein Erlebnis wie einen Alptraum. Diese skandieren „Pobeda, Pobeda!” (Sieg, Sieg!).

Borissov wieder da. Screenshot von GERB-YouTube-Video

Borissov: „Triumph über die Finsternis“

Ein gutes halbes Jahr später: Am Dienstagmorgen des 4. Oktobers 2022, zwei Tage nach der vierten Parlamentswahl in nur eineinhalb Jahren, gibt sich Boiko Borissov nach dem Wahlsieg seiner rechtsgerichteten Partei „Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens” (GERB) versöhnlich. Er signalisiert Bereitschaft zu Verhandlungen über eine Regierungsbildung mit allen in der 48. Bulgarischen Volksversammlung vertretenen Parteien, auch mit denen, die Verantwortung tragen für seine Verhaftung.

„Meine Freunde werfen mir vor, dass ich mich nicht sofort nach der Wahl zu Wort gemeldet und ´Hurra` gerufen habe”, spricht er zu Journalisten in der GERB-Zentrale. „Ja, es ist ein moralischer Sieg von GERB, ein Triumph über die Finsternis.” GERB werde eine Kontaktgruppe und Verhandlungsteams vorschlagen.

Das Wichtigste für Bulgarien sei jetzt, wer auf der Seite der Ukraine stehe und wer nicht, plädiert Borissov für die Bildung einer „Anti-Putin-Koalition”, denn „drei Viertel der Bevölkerung ist dafür, den euro-atlantischen Weg fortzusetzen”. „Inflation, Wirtschaft, Energie” nennt er als weitere Themen, um die sich das Parlament zu kümmern habe.

Borissovs selbstbewusste Interpretation des Wählerwillens ist gewagt, denn gerade mal vier von zehn wahlberechtigten Bulgaren und Bulgarinnen haben ihr Wahlrecht überhaupt ausgeübt. Von ihnen haben 25 Prozent ihre stimme GERB gegeben. Obwohl damit lediglich einer von zehn Wahlberechtigten für seine Partei gestimmt hat, verfügt Boiko Borissov offenbar noch immer über den härtesten Kern an Sympathisanten aller politischen Führer in Bulgarien.

Kiril Petkovs mit großen Versprechungen für tatsächliche Veränderungen in die Regierung eingetretene liberale Partei „Wir setzen den Wandel fort” (PP) erreicht mit fünf Prozent der Stimmanteile weniger nur Rang Zwei. Es ist die Quittung dafür, dass sie in den sieben Monaten ihrer regulären Regierungszeit die großen an sie geknüpften Erwartungen nicht hat erfüllen können.

Als drittstärkste politische Kraft behauptet sich die „Bewegung für Rechte und Freiheiten” (DPS) der bulgarischen Türken vor ihren natürlichen Feinden von der radikal-nationalistischen Partei „Vazrazhdane“ (Wiedergeburt). Die postkommunistische „Bulgarische Sozialistische Partei” (BSP) setzt den Prozess ihrer Marginalisierung weiter fort, landet mit einem nurmehr einstelligen Stimmanteil auf Rang Fünf vor dem konservativen Parteienbündnis „Demokratisches Bulgarien” (DB).

Die vom früheren Ministerpräsidenten der beiden Übergangsregierungen im Jahr 2021 Stefan Janev erst vor wenigen Monaten gegründete Partei „Bulgarischer Aufstieg” (BV) überspringt knapp die Vier-Prozent-Hürde, die Partei des Showmasters Slavi Trifonov „So ein Volk gibt es” (ITN) scheitert an ihr.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen im Juli 2021 war ITN noch die stärkste politische Kraft, sah sich zur Bildung einer Regierung aber nicht in der Lage. Aufgrund von Unstimmigkeiten über die Politik Bulgariens gegenüber seinem südwestlichen Nachbarn Nordmazedonien zog Trifonov im Juni 2022 seine Minister aus Petkovs Koalition des Wandels ab. Ihr Auseinanderbrechen machte die vorgezogenen Neuwahlen erst notwendig.

Vorbereitung für den nächsten Wahlkampf?

Nachdem zunächst Slavi Trifonov und danach Kiril Petkov beide mit ihren Anläufen, das ihrer Ansicht nach Korruption und Klüngel verkörpernde „Modell Borissov” zum Einsturz zu bringen, gescheitert sind, könnte es nun seine Restaurierung erfahren, fürchten Borissovs Gegner. Allerdings hat er sich mit seiner eigenmächtigen Art über die Jahre hinweg immer stärker in politische Isolation gebracht. So dürfte es ihm nun wie nach der Wahl im April 2021 schwerfallen, die für ein Regierungsbündnis nötigen Koalitionspartner zu finden.

Daher halten politische Beobachter die Prognose, dass Bulgarien im kommenden Februar zum fünften Mal in weniger als zwei Jahren ein Parlament wählen und dabei ein ähnliches Wahlergebnis reproduzieren könnte, für durchaus realistisch. Damit würde das Balkanland aber immer weiter in die Spirale politischer Auswegslosigkeit geraten.

„Die ganze Übung von Borissov ist nur eine Vorbereitung für den nächsten Wahlkampf“; mit diesen Worten erteilte der Ko-Vorsitzende des konservativen Parteienbündnisses „Demokratisches Bulgarien” Hristo Ivanov Borissovs Vorschlag zur Bildung einer „euro-atlantischen Mehrheit” zusammen mit Kiril der Partei „Wir setzen den Wandel fort” eine Absage. Auch PP-Führer Kiril Petkov schloss Verhandlungen mit Borissovs GERB aus.

Bulgarien wird voraussichtlich ohne reguläre Regierung in die kalte Jahreszeit gehen. Die wirtschaftlich krisenhafte Situation mit einer exorbitant hohen Inflation von 17 Prozent geht mit politischer Instabilität einher. Dabei fürchten die kaufkraftschwachen Bulgaren nicht nur, ihr für die Heizung ihrer Wohnungen im Winter benötigtes Gas nicht bezahlen zu können, sie fragen sich, ob dieses überhaupt vorhanden sein wird. Im April 2022 war Bulgarien zusammen das erste EU-Land, dem Gazprom die Gaszufuhr einstellte, weil sich das Kabinett Petkov weigerte, die geforderte Zahlung in Rubeln zu akzeptieren. Alternative Flüssiggas-Lieferungen per Tanker konnten nicht im ausreichenden Maße gesichert werden.

Die Ankündigung der Übergangsregierung von Ministerpräsident Galeb Donev, mit Gazprom um die Wiederaufnahme der Gaslieferungen verhandeln zu wollen, hat nicht nur den Widerstand der Führer der euro-atlantisch orientierten Parteien PP und DB erregt, die darin eine Rolle rückwärts in Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen sehen. In Sofia und anderen Städten gab es auch Protestdemonstrationen unter dem Motto #GAZwithme.

Zwar wurde zum 1. Oktober 2022 endlich der seit Jahren überfällige Interkonnektor zwischen dem bulgarischen Gasnetz und dem griechischen in Betrieb genommen. Er ermöglicht die Lieferung aserbaidschanischen Gases nicht nur nach Bulgarien und die Balkanregion, sondern auch nach Moldawien und die Ukraine. Seine Jahreskapazität von einer Milliarde Kubikmeter deckt allerdings gerademal ein Drittel von Bulgariens Jahresbedarf. Zu seiner feierlichen Eröffnungszeremonie waren außer EU-Kommissionspräsidentin Ursula von Leyen auch die Staats- und Regierungschefs von Griechenland, Aserbaidschan, Rumänien, Nordmazedonien und Serbien nach Sofia gereist.

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3 Kommentare

  1. Bulgarien ist die Ukraine 2.0, es liegt nur etwas abseits und kaum jemand hat es auf dem Schirm.
    Schon vor Jahrzehnten konnte man eine blühende Korruption erleben, die im „real existierenden Sozialismus“ ihresgleichen suchte.
    Auch hier findet ein Kampf zwischen Oligarchen um die Macht statt, alle Seiten der politischen Parteien buhlen um die Gunst der EU, der es nur um die zuverlässigsten Partner gegen Russland geht.
    Borrisow liegt da nicht an erster Stelle.

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