“Bolsonaro war ziemlich allein in Lateinamerika, weil es überall progressive Präsidenten gibt”

Luiz Inácio Lula da Silva im Wahlkampf. Bild: @lulaoficial/@ricardostuckert

Carlos Soares über die Wahl in Brasilien und die beiden Hauptkonkurrenten Bolsonaro und Lula. Schon im ersten Wahlgang könnte bislang Lula gewinnen, was Brasilien und seine Außenpolitik stark verändern würde. Unsicher ist, wie es um den Schutz des Regenwaldes steht.

 

Am Wochenende sind Wahlen in Brasilien. Es gibt zwar an die elf oder zwölf Kandidaten, aber es geht wohl um ein Duell zwischen Bolsonaro und Lula. Wie sieht es denn aus? Lula scheint in Umfragen vorne zu liegen. Hat Bolsonaro überhaupt noch eine Chance?

Carlos Soares: Es ist unglaublich, was in Brasilien geschehen ist. Obwohl Lula wegen der Korruptionsaffäre, die man ihm anhängte, und seiner Gefängnisstrafe ein schlechter Ruf anhing, ist er in der Bevölkerung noch immer beliebt. Bolsonaro könnte der erste Präsident werden, der nicht wiedergewählt wird. Cardoso wurde wiedergewählt, Lula wurde wiedergewählt, auch Dilma wurde wieder gewählt.

Die Bolsonaro-Regierung kann dieses Jahr auf eine ganz positive wirtschaftliche Entwicklung verweisen. Sie hat die Inflation von 14 % auf 9 % gesenkt und die Arbeitslosigkeit von 14 Millionen 2020 auf jetzt 9 Millionen. Warum kann er von der guten Wirtschaftsentwicklung nicht profitieren?  Meiner Meinung nach, weil er in der Krise das Volk in Stich gelassen hat.

Die Menschen haben das nicht vergessen. Die Menschen haben ihm nicht verziehen, dass er nichts gegen die 700.000 Toten unternommen hat. Und jetzt kriegt er die Quittung. Lula muss gar nichts machen. Er hatte in seiner Zeit als Präsident 40 Millionen Menschen aus der Armut herausgeholt und es gab ein jährliches Wirtschaftswachstum von 5 %. Dann kam die Korruptionsaffäre, aber Lula kann nach Umfragen am Sonntag vielleicht beim ersten Wahlgang gewinnen. Er kann nach den Umfragen zwischen 50 und 52 % erzielen, Bolsonaro trotz der guten Wirtschaftslage nur 33 %.

Wie unterscheidet sich denn im Groben die politischen Programme, die die beiden anbieten?

Carlos Soares: Bolsonaro hat das Volk bewaffnet. Wir haben jetzt mehr Menschen mit Waffen in Brasilien als die ganze Polizei in allen Bundesländern. 2022 gibt es 650.000 Menschen, die eine Schusswaffe besitzen. Und in diesem Jahr allein sind 2300 Schützenverein gegründet worden.

Hängen diese Leute einer politischen Ausrichtung an?

Carlos Soares: Ja, natürlich, sie wollen eine Partei wie in den USA. Das läuft genau in die gleiche Richtung. Eine reine Kopie von Nordamerika. Sie haben 39 Kandidaten, das sind Vorsitzende dieser Schützenvereine. In Brasilien darf man eine Waffe tragen, wenn man zu einem Schützenverein geht und dort das Schießen lernt. Früher konnte man nur fünf Schusswaffen kaufen, jetzt darf man 20 Waffen und 6000 Schuss Munition besitzen. Lula will dieses Gesetz ändern.

Eine Frage dazwischen: Gibt es seit den verstärkten Waffenkäufen auch mehr Tote?

Carlos Soares: Es gibt mehr Tote, weil jeder jetzt eine Waffen kaufen kann, der nicht schießen kann. Es sind sehr viele Unfälle passiert. Vor einem Monat hatte ein junger Vater seine Waffe auf dem Rücksitz seines Autos gelegt und seine beiden Kinder von der Schule abgeholt. Ein Kind mit acht Jahren nahm die Pistole und erschoss aus Versehen seinen Vater damit. Gestern ist dasselbe mit einem dreijährigen Kind passiert. Der Vater wollte zum Schützenverein gehen und legte die Pistole auf die Couch. Der Dreijährige nahm die Waffe, schoss und verletzte den Vater am Bein. Also es gab sehr viel Verletzungen, während sich die Kriminalität nicht geändert hat. Für den Kauf einer Waffe braucht man ein Führungszeugnis und muss eine Prüfung machen. Aber die Banditen und Drogengangs haben dadurch einen günstigeren Zugang zu den Waffen. Man sagt, dass 1/3 der Schusswaffen in Brasilien jetzt im Besitz der Drogenhändler sind.

 Die Gesellschaft ist ziemlich zwischen den Befürwortern und Gegnern von Schusswaffen gespalten. Lula will das Gesetz ändern, die Frage ist, wie groß seine Partei im Parlament wird, um das auch machen zu können. Lula will auch in Amazonien Goldsucher verbieten und gegen illegale Landbesitzer vorgehen. Manchen nutzen die Gelegenheit, jetzt noch schnell Feuer zu legen und das Land zu besetzen, weil sie vermuten, dass Bolsonaro vielleicht nicht gewinnen wird. Dieses Land will Lula zurückgewinnen, überdies will er die Indianerreservate vermessen und markieren. Mit einem Gesetz sollen die Indianer wieder ohne Angst  Land besitzen können. Jede Suche nach Bodenschätzen soll in den Indianer-Gebieten verboten werden.

Also soll wohl auch Klimaschutz ernst genommen werden. Während seiner Präsidentschaft war das doch nicht ganz so?

Carlos Soares: Das ist das Problem, besonders mit dem Öl. Brasilien hat große Öl- und Gasfelder vor der Küste im Meer in einer Tiefe von 6000 bis 7000 km. Die Ausbeute dieser Pre-Salt-Felder wäre sehr gefährlich. Das ist ein Gebiet, in dem jetzt viele Tiere, auch viele Wale leben. Wenn da ein Unfall passiert, wäre der Schaden ungeheuer groß.

Und Lula will die Erschließung vorantreiben?

Carlos Soares: Ja, weil er die Löhne erhöhen will. Dafür muss er Öl und Gas exportieren, um mehr Geld einzunehmen. Er verspricht, dass jeder Brasilianer wieder ein Rindersteak essen kann. Daher wird die Viehzucht auch nicht reduziert. Also wir wissen nicht genau, wie Lulas Umweltpolitik aussehen wird. Hoffentlich erfährt er Widerstand, auch vom Ausland wegen der Globalisierung und der Klimaerwärmung.

Unterscheiden sich denn die Positionen von Bolsonaro und Lula in der Außenpolitik, also jetzt aktuell im Hinblick auf Russland? Beide sind offenbar nicht gegen Putin.

Carlos Soares: Nein, beide sind nicht Anti-Putin. Brasilien gehört zu BRICS, Argentinien hat jetzt auch einen Antrag zur Aufnahme gestellt. Brasilien will mit China und Russland, mit dem Iran und all diesen Ländern Geschäfte machen. Lula hat eine ausgezeichnete Auslandspolitik gemacht. In Afrika war Brasilien überall vertreten. Lula hat alle Länder besucht und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit entwickelt. Bolsonaro hat das alles gestoppt. Das wird mit Lula sicher wiederkommen. Wegen der Sprache ist Brasilien in Afrika  mit Mozambique, Angola, Guinea oder Cabo Verde verbunden. Lula wird diese Politik wieder forcieren, weil das eine sehr gute Politik für den Mittelstand und für die kleinen Firmen in Brasilien ist.

Es ist ja offenbar so, dass ganz Lateinamerika mehr in die linke Richtung geht. Spielt das auch eine Rolle in Brasilien, dass Lula größere Chancen hat?

Carlos Soares: Im Grunde genommen war Bolsonaro ziemlich allein in Lateinamerika, weil wir haben überall progressive Präsidenten. In Argentinien mit dem Peronismus, in Chile gibt es den jungen Linken, in Peru und in Bolivien, Brasilien war ziemlich allein. Aber es muss etwa die Beziehungen zu Bolivien pflegen, weil es viel Gas aus Bolivien bezieht. Brasilien ist Mitglied in Mercosur, in dem es mit Argentinien, Uruguay, Brasilien und Paraguay einen Binnenmarkt ohne Zölle betreibt. Brasilien braucht auch Getreide von Argentinien. Und so weiter. Diese Beziehungen werden sicher mit einer neuenLula- Regierung leichter und intensiver. Auch die Beziehungen zu Nicaragua, Kuba und Venezuela werden sich stabilisieren und  eventuell normalisieren.

Und mit den USA?

Carlos Soares: Gestern hat die amerikanische Botschaft in Brasilien versichert, dass die USA jeden Präsidenten, der die Wahl gewinnt, sofort anerkennen werden. Sie setzen auf Demokratie und werden keine antidemokratische Haltung eines Präsident dulden. Sie möchten, dass der Gewinner bleibt und es keinen  Streit gibt.

Im Unterschied zur USA selber. Lula war in Washington aber auch nicht sonderlich beliebt.

Carlos Soares: Lula war nicht beliebt. Gegen Washington hat er sich getraut, einige Sachen zu sagen und eine Grenze zu setzen. In Europa war er sehr beliebt, auch in China und in Moskau. Überall war Lula beliebt, weil er eine super neutrale Außenpolitik gemacht hat. Er hat sich mit allen gut verstanden. Brasilien hatte auch die Rohstoffe, die viele Länder brauchen. Und diese Rohstoffe sind auch das Kapital, das Lula anbieten kann.

Okay, dann schauen wir mal, wie die Wahlen ausgehen werden.

Carlos Soares: Genau. In Brasilien gibt es eine Wahlpflicht. Wir rechnen mit einer Wahlbeteiligung von 80 bis 89 %.

Was passiert, wenn jemand nicht wählt?

Carlos Soares: Der muss eine Strafe bezahlen. Oder man muss begründen, warum man nicht gewählt hat.

Wird das  auch verfolgt?

Carlos Soares: Ja, der Wahlschein wird gestempelt. Ich muss hier in München wählen und habe heute über das Handy die Adresse erhalten, wo ich wählen kann. Wir kriegen alles per Handy aus Brasilien, das ist schon sehr entwickelt, auch mit den Wahlurnen. Um Punkt 18:00 Uhr werden wir wissen, wer gewonnen hatte, weil alles elektronisch ist.

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Das Gespräch wurde am Sonntagabend (25.9.)  geführt.

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4 Kommentare

  1. Stark veränderte Außenpolitik? Na immerhin hat sich Bolsonaro keineswegs als Freund der Biden-Administration erwiesen. Auch nicht bei der Russland-Ukraine-Geschichte. Es wäre schön, wenn es in Südamerika grundsätzlich nicht mehr zum guten Ton gehören würde, sich als Hinterhof und Befehlsempfänger der USA zu sehen. Von dieser Qualität ist die EU und vor allem Deutschland noch meilenweit entfernt. Auch politisch sind wir hier krasse Entwicklungsländer geworden.
    Dank unseren armseligen Regimen der letzten Jahrzehnte!

  2. Danke für die Veröffentlichung des Interviews. Ich finde es immer gut, wenn ich Landsleute direkt erzählen höre. Diese Gespräche sagen viel mehr aus, als Reportagen von vorein genommenen Journalisten, welche den Leuten eine Meinung auf zwingen wollen.

    Eine gewisse Kontinuität mit BRICS finde ich gut. Das Lula ein eher dem Volk zugewandter Präsident als der neokonservative Bolsorano sein wird, gilt zu vermuten.

  3. Klare – weil differenzierte – Worte von Lula über die Ukraine-Krise:

    “Wir Politiker ernten, was wir säen. Wenn ich Brüderlichkeit, Solidarität und Harmonie säe, werde ich Gutes ernten. Wenn ich Zwietracht säe, ernte ich Zwietracht. Putin hätte nicht in die Ukraine einmarschieren dürfen. Aber es ist nicht nur Putin, der schuldig ist.
    Auch die USA und die EU sind schuldig. Was war der Grund für den Einmarsch in die Ukraine? Die Nato? Dann hätten die USA und Europa sagen müssen: ‘Die Ukraine wird der Nato nicht beitreten.’ Damit wäre das Problem gelöst gewesen.”
    https://www.heise.de/tp/features/Selenskyj-ist-fuer-den-Krieg-genauso-verantwortlich-Er-wollte-den-Krieg-7078603.html

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