Bergkarabach-Konflikt: Warum die Türkei Gewinner und Verlierer zugleich ist

Die Region Bergkarabach gehört zu den wichtigsten Konfliktzonen des Kaukasus. Nach Jahren der stetigen Anspannung brach dort ein brutaler Krieg aus, der nun – vorerst – sein Ende gefunden hat. Eine Zusammenfassung des Geschehens von Muhammed Enes Öztürk*.

Nach rund anderthalb Monaten wurde in Bergkarabach ein Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien Aserbaidschan und Armenien geschlossen. Der Konflikt wurde fürs Erste beendet, und die Folgen davon werden sofort sichtbar. Aserbaidschan erhält jenes Land zurück, welches es im Karabachkonflikt von 1988 bis 1994 an Armenien verloren hatte. Währenddessen gilt Armenien militärisch wie diplomatisch als geschlagen. Wichtig im Kontext dieser Entwicklungen ist vor allem die geopolitische Rolle weiterer Akteure.

Dies gilt insbesondere für die Türkei, die ihre Macht in der Region weiter ausbaut. Die Türkei gehört zu den engsten Verbündeten Aserbaidschans – eine Tatsache, die historische Gründe hat, die bis heute dominieren.

Im Laufe des 44-tägigen Krieges dominierte Aserbaidschan die Gefechte auf dem Schlachtfeld mithilfe der türkischen Drohnen des Typs Bayraktar TB2 (benannt nach Selcuk Bayraktar, dem türkischen „Drohnen-Kopf“) und hatte dadurch einen massiven Vorteil. Bayraktars Drohnen flogen Operationen en masse und bombardierten zahlreiche armenische Stellungen. (1)

Die türkische Unterstützung beschränkte sich allerdings nicht nur auf Waffen und Logistik. Mehreren Berichten zufolge entsandte die Türkei syrische Rebellenmilizen zur Unterstützung der aserbaidschanischen Truppen nach Karabach. Die genaue Anzahl der Kämpfer ist bis heute  nicht bekannt. Das US-Magazin Foreign Policy berichtete von rund 1.500 syrischen Milizen. (2)

Die Türkei und Aserbaidschan pflegen seit langem enge Kontakte. Dies hat sowohl historische als auch kulturelle Gründe, die die jeweiligen Bevölkerungen der beiden Länder betreffen und weit über die üblichen diplomatischen Beziehungen zwischen zwei Staaten hinausgehen. Die politische und militärische Ebene wurde von diesen Beziehungen allerdings nicht immer tangiert.

Während des Karabach-Konflikts der 1990er-Jahre etwa war eine türkische Unterstützung kaum zugegen. „Wir verlangten einige Helikopter, um Zivilisten in Karabach zu retten, doch die Türkei verweigerte sie uns“, meinte etwa Abulfaz Alchibey, der damalige Präsident Aserbaidschans, einst in einem Interview. (3)

Die Situation von damals ist mit der heutigen nicht vergleichbar. Die Türkei ist stolz auf ihre Großmachtrolle in diesem Konflikt, und sie macht keinen Hehl daraus.

Am 9. November fanden die Kämpfe ein Ende und ein Waffenstillstand wurde vereinbart. Die Hauptfolge davon ist eine Verschiebung der Machtverhältnisse im Südkaukasus. Armenien gilt dabei als Verlierer – sowohl militärisch als auch politisch. Während des Krieges wurden mindestens 2.300 armenische Soldaten getötet. Hinzu kam der Verlust des Landes, das von Aserbaidschan zurückerobert wurde. (4)

Für Aserbaidschans Präsidenten, Ilham Aliyev, war dies ein massiver Erfolg. Doch der größte Gewinner dieses Prozesses war  Russland, welches sich eher passiv verhielt, als Mediator auftrat und dadurch eine Vereinbarung absegnen ließ, die die Stationierung von rund 2.000 russischen Soldaten in Karabach vorsieht. Zwar soll die russische Präsenz vorerst auf fünf Jahre begrenzt werden, allerdings ist eine Verlängerung möglich, die wahrscheinlich auch eintreten und dem Kreml einen geopolitischen Vorteil verschaffen wird. Trotz der Tatsache, dass die Türkei nicht nur auf der Seite des Siegers steht, sondern diesen womöglich auch zum Sieg verholfen hat, konnte Ankara keinen ähnlichen Erfolg für sich verbuchen. Die Türkei hat militärisch gewonnen, doch auf dem Papier hat sie mehr oder weniger verloren. Im Vergleich zum Karabach-Konflikt der 1990er-Jahre steht sie dennoch besser da. (5)

Denn der große türkische Gewinner ist wohl die heimische Waffenindustrie. Die bewaffneten Drohnen der Türkei standen abermals im Fokus der Weltöffentlichkeit, nachdem sie zuvor schon in Libyen und Syrien zum Einsatz gekommen waren. Neue Kunden stehen womöglich schon Schlange, was den militärisch-industriellen Komplex am Bosporus erfreuen wird.

Ein weiterer Erfolg aus der Sicht Ankaras ist jenes Prestige, das mit dem militärischen Sieg in Karabach verbunden ist. In der Region spielt dies eine enorm wichtige Rolle. Sowohl die Türkei als auch Recep Tayyip Erdogan werden immer mehr als eine militärische Großmacht wahrgenommen.

Doch auch geopolitisch konnte die Türkei durch ihren Sieg einen nennenswerten Erfolg verzeichnen. Es geht hier vor allem um den Zugang zu historisch wichtigen Handelsrouten, die durch den Südkaukasus führen. Man spricht in diesem Kontext auch vom sogenannten „Tor des Orients“ oder dem „türkischen Tor“, das nun die Türkei umfassender mit Aserbaidschan und der turksprachigen Welt verknüpfen wird. Die Türkei könnte im Hinblick auf die Vereinbarung vom 9. November diese Gelegenheit nutzen, um eine Route über Aserbaidschan, dem Kaspischen Meer und den turksprachigen Ländern in Zentralasien zu etablieren. Das „Tor des Orients“ wäre geöffnet.

Welche Rolle spielt Russland?

Die größte Enttäuschung Ankaras dürfte dennoch die Tatsache sein, dass die militärische Kontrolle der Region in den Händen Russlands liegt. Ein langfristiger russischer Einfluss ist offensichtlich. Bereits zuvor waren russische Streitkräfte in Armenien stationiert. Allerdings fiel die russische Unterstützung im Laufe des Karabach-Konflikts eher gering (bis gar nicht) aus. Nachdem die Niederlage Armeniens offensichtlich wurde, nutzte Russland die Gunst der Stunde, um sich in der Region stärker zu positionieren. Der russische Erfolg kann auch als ein direkter Schritt gegen den türkischen Einfluss in der Region interpretiert werden. Diesbezüglich muss man natürlich auch die Stellungen auf dem großen geopolitischen Schachbrett im Blick behalten. Ähnliche Machtspiele finden nämlich zeitgleich in Syrien und Libyen statt. Der Türkei wird Russland weiterhin ein Dorn im Auge bleiben. (6)

Nun stellt sich die Frage, wie der russische Einfluss in Armenien künftig aussehen könnte. Bereits im Laufe des Konflikts wunderte sich so mancher Beobachter über die passive Haltung Vladimir Putins gegenüber dem armenischen Premierminister, Nikol Pashinyan.  Dieser ist in seiner Heimat nun womöglich unbeliebter denn je. Es liegt auf der Hand, dass Putin hier einschreiten wird, um jene inner-armenischen Akteure zu stärken, die ihm lieb sind. Ein pro-russischer Regierungswechsel könnte die Folge sein.

Auch dies würde ein weiteres Mal verdeutlichen, dass die Vereinbarung vom 9. November lediglich als ein kurzfristiger Erfolg Ankaras betrachtet werden kann. Langfristig wird es dagegen Russland sein, das von diesem Abkommen profitiert und seinen Einfluss in der Region ausweitet – auch gegen die Türkei.

 

*Muhammed Enes Öztürk ist freier Journalist, Redakteur und politischer Analyst. Er lebt und arbeitet in der Türkei.


  1. Über die türkischen Drohnen wurde auch anderswo prominent berichtet, etwa in der Washington Post: https://www.washingtonpost.com/world/europe/nagorno-karabkah-drones-azerbaijan-aremenia/2020/11/11/441bcbd2-193d-11eb-8bda-814ca56e138b_story.html; Anmerkung: Russische Anti-Drohnen-System kamen in Bergkarabach aufseiten Armeniens ebenfalls zum Einsatz: https://asiatimes.com/2020/10/russia-knocking-turkish-drones-from-armenian-skies/
  2. Foreign Policy und andere bekannte Medien berichteten über die syrischen Söldner, die zum Teil unfreiwillig eingesetzt und als Kanonenfutter missbraucht wurden. Offiziell wurden sie weder von der Türkei noch von Aserbaidschan erwähnt: https://foreignpolicy.com/2020/10/05/nagorno-karabakh-syrians-turkey-armenia-azerbaijan/
  3. Mehr zu diesen Beziehungen kann man u.a. hier lesen: http://turkishpolicy.com/images/stories/2005-04-neighbors/TPQ2005-4-ismailzade.pdf
  4. Bergkarabach hatte während des Zerfalls der Sowjetunion einseitig seine Unabhängigkeit erklärt. Darauf folgte in den Neunzigerjahren ein Krieg mit 30.000 Todesopfern. Die selbst ernannte Republik wird bis heute international nicht anerkannt und gilt völkerrechtlich als Teil Aserbaidschans. Sie wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt: https://www.spiegel.de/politik/bergkarabach-aserbaidschan-uebernimmt-zurueckeroberte-gebiete-a-69aa5607-19f2-42e7-8e95-a7a541b847d8
  5. Die Deutsche Welle berichtet von russischen “Friedenstruppen”: https://www.dw.com/de/russische-truppen-in-berg-karabach/a-55662834
  6. Der Waffenstillstand vom 9. November wurde von der politischen Führung Aserbaidschans und Armeniens unterzeichnet sowie von Vladimir Putin: https://de.wikipedia.org/wiki/Waffenstillstandsabkommen_im_Bergkarabachkrieg_2020

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