Artensterben in der inneren Umwelt

Darmbewohner E. coli. Bild:  Volunteer7/CC BY-SA-4.0

Seit der neolithischen Revolution nimmt die Artenvielfalt in unserem Verdauungstrakt ab. Das hat möglicherweise Folgen für unsere geistige Gesundheit.

Es hat sich herumgesprochen, dass unsere Umwelt verarmt. Manche sprechen bereits vom sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte: Nach den Trilobiten, den Ammoniten und den Dinosauriern erwischt es diesmal nahezu alle Ordnungen des Lebendigen: Insekten verschwinden großflächig auf der ganzen Welt, in ihrem Gefolge sterben auch die Vögel aus; auch viele Säugetierarten sind bedroht, die Meere sind überfischt, die Korallen leiden unter der Hitze . . .

Was dieser Verlust an biologischer Vielfalt ökologisch bedeutet – für die Stabilität von Ökosystemen, das Klima, die landwirtschaftlichen Erträge, die Lebensbedingungen des Menschen, und, last but not least, auch für die Schönheit der Welt –, das ist wohl noch kaum abzusehen. Und dabei wird noch übersehen, dass uns diese Verarmung auch ganz unmittelbar betrifft, in der Person jedes Menschen.

Auf zwei ganz unterschiedliche Weisen spiegelt sich die Umweltverarmung in jedem von uns: einerseits als Innenweltverarmung, andererseits als Verarmung der inneren Umwelt.

Wie außen, so innen

Das Wort „Umwelt“ geht auf den Biologen und Philosophen Jakob von Uexküll zurück, der es vor etwas mehr als 100 Jahren in seinem Grundlagenwerk über „Umwelt und Innenwelt der Tiere“ einführte. Die Umwelt ist dabei all das, was ein Lebewesen wahrnehmen und auf das es zurückwirken kann. Die Innenwelt ist das innere Abbild der Umwelt, und umgekehrt: Umwelt ist für jedes Tier das, wovon es ein inneres Abbild formen kann.

Daraus folgt geradlinig, dass jede Innenwelt umso reicher ist, je reicher die Umwelt. Auf Tiere bezogen, gerade auf einfache (von Uexküll forschte bevorzugt an Quallen und Seeigeln), ist dieser Zusammenhang phylogenetisch erhellend, aber nicht sehr spektakulär. Die Umwelten der meisten Tiere sind ihnen artspezifisch gegeben; für Regenwürmer reicht ihre Umwelt kaum über ihre Haut und die Gegenwart hinaus; Libellen kennen ein paar hundert Quadratmeter Uferbereich optisch, akustisch und olfaktorisch; Säugetiere und Vögel schließlich erfassen unterschiedliche Artgenossen, zahlreiche Nutzungsmöglichkeiten von Pflanzen, Tieren und Gegenständen, erinnern lang vergangene Ereignisse und planen zukünftige. Es ist seit von Uexküll faszinierend geblieben, sich die unterschiedlichen Umwelten von Lebewesen zu erarbeiten und vorzustellen.

Etwas Besonderes ist es beim Menschen. Unsere Umwelt, die bis zu den Sternen reicht, und vom Urknall bis zum Wärmetod, ist die wahrscheinlich umfangreichste der Tierwelt. Dinge und Begebenheiten, die aktuell nicht anwesend sind, spielen eine große Rolle darin, ebenso Bedeutungen, Symbole, Erzählungen. Dadurch wird unsere Umwelt auch ungeheuer variabel: Weiter noch als bei jedem Tier, das wir experimentell in einen reizlosen Käfig stecken können, tut sich eine gewaltige Spanne auf zwischen der Umwelt eines bildungsfernen Stubenhockers im Plattenbau einerseits und eines amazonischen Schamanen andererseits. Nicht nur die physische Umgebung unterscheidet sich in ihrem Reichtum, sondern mehr noch das Wissen, das der Mensch damit verbindet – und das zur Innenwelt gehört. Umwelt und Innenwelt nähren sich gegenseitig: Wie jeder bestätigen kann, der sich ein wenig mit Formenkenntnis beschäftigt, sieht und hört man umso mehr Pflanzen, Insekten, Singvögel, je mehr mal zu unterscheiden gelernt hat.

Aber leider gilt eben auch das Umgekehrte: Was nicht mehr gekannt wird, wird nicht mehr wahrgenommen – und daher auch nicht mehr geschätzt und geschützt. Doch was nicht mehr da ist, kann auch nicht mehr erlebt werden. Mit dem Wissen schwinden auch die Bedeutungen: Welche Kräuter dienen zur Speise, zur Heilung, zum Rausch? Welche Rituale und Feste verbinden sich damit? Welche Geschichten gibt es darüber? Wer versteht noch, weshalb der Storch die Kinder bringt, wenn er ihre Rückkehr nie miterlebt hat?

Daher erleben wir gerade mit dem Verlust der biologischen Vielfalt auch eine Verarmung nicht nur unseres Wissens, sondern auch der ganzen inneren Bedeutungswelt, der Erzählungen, Mythen, Riten und Feiern. Doch wenn der Kosmos seine Bedeutung verliert, wird er zum sinnlosen Universum, und der Mensch zum vergänglichen Unfall der Evolution auf einem Planeten in einem Sonnensystem außen im Spiralarm irgendeiner Galaxie, zum Krümel in der Unendlichkeit.

Der Mensch braucht kollektive Erzählungen von Sinn und Wert, um Mensch zu sein. Das Märchen, dass gewisse Dinge und Taten Bedeutung hätten – das ist es, das uns am Leben hält. Den Zustand, dieses Märchen als schöne Lüge zu durchschauen und ungeschminkt zu erkennen, wie vollkommen sinnlos das Dasein tatsächlich ist – diesen Zustand bezeichnen wir als Depression. Vielleicht liegt hier ein Grund dafür, dass sie heute so viele Menschen überfällt: weil ein gefleddertes inneres Ökosystem die Kraft verliert, den Stürmen des Zweifels mit der Produktion von Bedeutung zu begegnen.

Drinnen ist draußen

Die andere Folge der Umweltverarmung geschieht zwar ebenfalls in unserem Inneren, und doch nicht in der Innenwelt. Denn was wir in unserem Verdauungstrakt mit uns herumtragen, ist innen, aber Umwelt. Es befindet sich außerhalb des Epithelgewebes, das nicht nur unsere äußere Hautschicht bildet, sondern sich fortsetzt im Mundraum, in der Speiseröhre, der Magen- und Darmschleimhaut.

Und auch diese Umwelt verarmt. Seit Jahren schon ist bekannt, dass moderne Bewohner des Abendlandes ganz andere und viel weniger Mikrobenarten in ihrem Gedärm beherbergen als die letzten verbliebenen Jäger und Sammler. Hingebungsvoll untersucht werden die Fäkalien der Hadza, eines Wildbeutervolkes in Tansania – insbesondere von Jeff Leach, dem seine Forschung den Spitznamen „Dr. Shit“ eingebracht hat. So kommt es, dass das Mikrobiom – also die Gesamtheit der Kleinstlebewesen im Körper – der Hadza als das reichste heute bekannte gilt.

Das könnte prinzipiell auch nur daran liegen, dass es in Tansania vielleicht mehr Mikrobenarten gibt als anderswo, oder dass Hadza-Gene eine größere Mikrobiomvielfalt begünstigen als Engländergene. Beides ist nicht der Fall, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie im englischen Magazin Nature gezeigt hat. Nordamerikanische Forscher untersuchten tausend bis zweitausend Jahre alte, gut durchgetrocknete, nun ja, Scheißhaufen, die in geschützten, halboffenen Höhlen in Utah und Nordmexico gefunden worden waren. „Paleofaeces“ ist der englische, wissenschaftliche Euphemismus dafür – „Paläofakalien“. Sie bestimmten die mikrobielle Artenzusammensetzung darin genetisch und verglichen sie mit Stuhlproben von sowohl industriell lebenden US-Amerikanern und Europäern, als auch vorindustriellen Gesellschaften aus aller Welt, darunter Tansania.

Mehrere Bakterienstämme sind im Kot von Menschen aus industrialisierten Gesellschaften deutlich seltener zu finden als sowohl in jenem von heute lebenden Mitglieder vorindustrieller Kulturen, als auch in Paläofakalien. Letztere beide sind dabei statistisch nicht zu unterscheiden, doch scheinen die Mikrobiome der Bauern und Wildbeuter zwischen den Extremen zu liegen. Die geographische Herkunft hingegen spielt überhaupt keine Rolle, in keiner der beiden modernen Gruppen. Die Hinterlassenschaften von Amerikanern vor zweitausend Jahren unterschieden sich von denen ihrer heutigen Nachfahren ebenso grundlegend wie von jenen von Spaniern oder Dänen.

Im Laufe der menschlichen Kulturevolution ist also auch unser inneres Ökosystem evolviert. Es liegt nahe anzunehmen, dass unsere Ernährung dafür die Ursache ist. Jeff „Dr. Shit“ Leach hat das bei den Hadza beobachtet. Sobald sie Mais kaufen oder sogar selbst anbauen, stirbt die Vielfalt in ihren Gedärmen. „Mais ist ein Alarmsignal“, sagt er. Zum Glück aber ist diese Entwicklung keine Einbahnstraße. Wer sich abwechslungsreich ernährt, füttert damit auch wieder eine bunte Mikrobenmischung heran.

Leach hat dazu einen Selbstversuch eines britischen Kollegen mitbetreut. Der Epidemiologe Tim Spector verbrachte drei Tage bei den Hadza und ernährte sich nur von dem, was auch sie aßen. Vorher, dabei und danach nahm er Stuhlproben. Obgleich sein Mikrobiom schon vorher überdurchschnittlich artenreich war, nahm die Bakterienvielfalt innerhalb dieser wenigen Tagen um noch einmal 20% zu – und brauchte wiederum nur Tage, um daheim in England diese Vielfalt wieder zu verlieren.

Die üppige Auswahl von Lebensmitteln in den Supermärkten verführt uns zu glauben, dass wir uns heute vielfältig ernährten. Avocados, Mangos und Süßkartoffeln sind heutzutage Standard in der Küche; vor einem halben Jahrhundert kannte man sie hierzulande kaum. Ich denke unwillkürlich an die 85-jährige Vermieterin unserer ersten gemeinsamen Wohnung. Im Flur roch es täglich nach Kohleintopf, doch als meine Frau Avocadoschalen auf den Kompost warf, schimpfte die Vermieterin, was das Plastik da sollte. „Ist das neu?“ fragte sie konsterniert. Viele Leute haben ein ähnliches Bild von der Ernährung in früheren Zeiten. Haben unsere Vorfahren nicht vorwiegend Kohl, Kartoffeln und Schweinespeck gegessen?

Anscheinend nicht. Anhand der Kohlenstoff- und Stickstoffisotope in fast 14.000 Kollagen- und Keratinproben aus aller Welt und den letzten über hundert Jahren konnten australische Forscher in einer ebenfalls jüngst veröffentlichten Studie abschätzen, wie abwechslungsreich sich die Menschen ernährt hatten. Als große Wasserscheide der Ernährung stellte sich das Jahr 1910 heraus, als das Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von Stickstoffdünger entwickelt wurde. Bis zu diesem Jahr unterschied sich die Ernährung von Stadtmenschen in ihrer Breite nicht von jener der Landbevölkerung. Mit der Einführung der industrialisierten Landwirtschaft aber stürzte die Vielfalt der Ernährung um zwei Drittel ab.

Das könnte zu großem Schulterzucken führen: Alles ganz interessant, aber warum sollte ich meinen Darm zum Bakterienmuseum machen? Was habe ich davon, aufwändig ein inneres Arterhaltungsprogramm durchzuführen?

Möglicherweise habe ich tatsächlich etwas davon. Nämlich körperliche und geistige Gesundheit. Es häufen sich die Hinweise darauf, dass die Mikroben in unserem Inneren auf den ganzen Körper zurückwirken (Rohes fresst! – oder jedenfalls nicht den üblichen Feiertagsmampf). Neuere Studien bestätigen dies laufend: Eine Längsschnittuntersuchung hat soeben festgestellt, dass die seelische Gesundheit von Obst, Nüssen und einem ordentlichen Frühstück profitiert – bei Männern auch von Fleischgerichten –, hingegen unter Fast Food enorm leidet. Und bei Mäusen gelang gerade der Nachweis, dass das Mikrobiom auf die hormonelle Stressachse wirkt und so das Sozialverhalten verändert.

Da Ursache-Wirkungs-Beziehungen in dem komplexen Netzwerk von Nährstoffen, Mikroben und Nerven schwer zu ergründen sind, setzte eine ebenfalls gerade in Nature veröffentlichte Studie Menschen und Mäuse zunächst auf eine ungesunde Diät, und gab ihnen dann einige Wochen lang zusätzlich speziell designte Ballaststoffriegel mit ein bis vier verschiedenen Pflanzenfasern zu essen. So konnten sie bestimmen, wie sich bestimmte Faserstoffe darauf auswirken, was für Nährstoffe im Blut zirkulieren – ein erster Schritt zu einem mechanistischen Verständnis davon, wie Nahrungsmittel die Gesundheit beeinflussen.

Schon jetzt aber scheint sicher, dass wir mit der Verarmung unseres inneren Ökosystems auch selbst an Resilienz verlieren. Die einseitige Ernährung in den industrialisierten Gesellschaften zerstört die Bakterienvielfalt im Darm und schafft damit die organischen Bedingungen für psychische Störungen, wie etwa Depressionen.

Dass wir die Vielfalt unserer Umwelt vernichten, schadet also auf zwei unterschiedlichen Wegen umgekehrt unserer Innenwelt. Wir verlieren die Fülle und den Sinnreichtum unserer Innenwelt, und wir verlieren auch den Reichtum unserer inneren Umwelt, die unsere seelische Gesundheit zu bewahren hilft. Denn der Mensch ist nie abgelöst von seiner Umwelt. Er ist über zehntausend Netzfäden in sie eingewoben, und wenn er seine Umwelt zerstört, zerstört er dadurch auch sich selbst.

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