Jonas Pieper vom Paritätischen über die gesellschaftliche Sichtbarkeit des Klassenfrage, seine politischen Erwartungen an Howard Carpendale und die Forderung seines Verbandes an die Ampel: Hartz IV-Erhöhung um 200 Euro sofort!
#ArmutAbschaffen: Dr. Jonas Pieper ist Autor des jährlichen und aktuell gerade wieder erschienenen Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und dort auch Referent für übergreifende Fachfragen. Der Armutsbericht dient politischen Kreisen und Sozialverbänden als regelmäßiger Zustandsbericht und Leitfaden für soziale Fragen und die Entwicklung der Gesellschaft. Bereits zuvor beschäftigte er sich intensiv mit Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik, der Ungerechtigkeit und der sozialen Ausgrenzung. Auf Twitter kommentiert er mit klarer Haltung politische Entscheidungen und das gesellschaftliche Verbrechen der Armut und fordert gelebte Parität. Die aktuelle Kampagne des Verbandes zur Abschaffung der Armut kann jede*r in den sozialen Medien und außerhalb proaktiv unterstütze .
„Der Paritätische“ ist mit fast 11.000 Mitgliedsorganisationen in Deutschland der wichtigste Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege im Sozial- und Gesundheitsbereich und ist vernetzt auch in die Spitzenpolitik, in Wirtschaft und Kultur. Zugleich ist er die weltweit größte nationale Lobby- und Interessen-Organisation für Beschäftigte in der Sozialen Arbeit. Zu seinen Gründungsprinzipien gehören finanzielle Gerechtigkeit und Selbstbestimmung für jede*n. Mitglieder sind unter anderem der ASB, die Aidshilfe, die Tafeln, der VdK, die Krebshilfe, die DLRG, das Jugendherbergswerk, der Weiße Ring, die SOS-Kinderdörfer, der LSVD, die Freimaurer, Anti-Psychiatrie-Gruppen, Autonome Frauenhäuser, aber auch Antifa-Initiativen und christliche, religiöse und anthroposophische Vereine.
„Es ist möglich, Armut abzuschaffen“
Es war zu Beginn der Pandemie in Europa im März 2020 ja viel von Solidarität und Zusammenhalt die Rede. Im Lichte Ihres Berichtes: Ist nicht nun eher das Gegenteil übriggeblieben?
Jonas Pieper: Wir beobachten in der Pandemie durchaus neue Formen der Solidarität und des Engagements. Vor allem im vergangenen Frühjahr haben sich vielerorts lokal Einkaufshilfen für Menschen aus der Nachbarschaft gebildet. Auch aktuell beobachten wir einiges an ehrenamtlicher Unterstützung beim Organisieren von Impfterminen oder beim Transport dorthin. Politisch bleibt jedoch ein zweigeteiltes Bild: Einerseits haben die milliardenschweren Hilfen der Bundesregierung sehr zu einer Abfederung der Pandemiefolgen beigetragen. Das Kurzarbeitergeld beispielsweise hat dafür gesorgt, dass 2020 nicht noch sehr viel mehr Menschen unter die Armutsgrenze gerutscht sind. Für die bereits Armen hat die damalige Große Koalition andererseits jedoch viel zu spät etwas gemacht und dann auch noch zu wenig.
In der Pandemie haben aber viele materielle Ansprüche angemeldet, denen es aber dennoch insgesamt sehr gut ging, die Medien waren voll von Gastronomen, die in Markenkleidung über angebliche Umsatzrückgänge jammerten … Aber die, denen es wirklich schlecht ging materiell, kamen so gut wie nicht vor in den öffentlichen Debatten. Geht es nicht auch immer um Sichtbarkeit – nicht nur bei Race, Diversity und Gender, auch bei Class? Wie könnte das von der Ampel politisch umgesetzt werden?
Neben den Auswertungen von Zahlen zur Einkommensarmut sind die Stimmen von armen Menschen Teil unseres diesjährigen Armutsberichts. Wir möchten damit ihre prekären Situationen stärker sichtbar machen. Denn das sind sehr eindrückliche Schilderungen aus einem Alltag in Einkommensarmut. Was es bedeutet, zu wenig Geld zu haben, um wenigstens einigermaßen gut über den Monat zu kommen.
Die neue Bundesregierung hat sich einige Maßnahmen vorgenommen, die durchaus zu einer Verringerung der Einkommensarmut beitragen dürften: Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, Einführung einer Kindergrundsicherung oder Verbesserungen beim Wohngeld und BAföG. Um wirklich Armut abzuschaffen, und das ist möglich, fehlt es jedoch an einer Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes, an Maßnahmen gegen die steigende Altersarmut und an einer Eindämmung von Mietpreisen. Denn in immer mehr Gegenden werden die Mieten zu einem neuen Armutsrisiko.
„Insbesondere Solo-Selbstständige haben Einbußen erlitten“
Vielen Unternehmen geht es jedoch sehr gut, es gab keine Pleitewellen, die offiziellen Zahlen belegen sogar das Gegenteil, TUI erwartet neue Höchstflüge in den Umsätzen. Andererseits haben sich ganze Straßenbilder zum Beispiel in Hamburg völlig verändert, weil kleine Läden schlossen … Hat der Ex-Wirtschaftsminister Scholz mit der Kimme seiner Bazooka falsch geschossen? Es scheint fast, nur die wurden gefördert, denen es eh schon viel zu gut ging?
Jonas Pieper: Die alte Bundesregierung, dazu zählt auch der ehemalige Finanzminister Olaf Scholz, hat mit den massiven Hilfen ab dem Frühjahr 2020 verhindert, dass die Armutszahlen für das erste Pandemiejahr in die Höhe schnellen. Auch das Arbeitslosengeld I hat sich hier in vielen Fällen als wirksamer Schutz vor Armut erwiesen. Die Krise hat allerdings viele kleine Betriebe, von kleinen Läden bis hin zur Gastronomie, stark getroffen und offenbar haben hier die staatlichen Hilfen in vielen Fällen nicht ausgereicht.
Laut Ihres Berichts gehören aber vor allem Selbstständige zu den Pandemie-Verlieren. Was heißt das konkret?
Jonas Pieper: Für Selbstständige ist die Situation im ersten Pandemiejahr deutlich schlechter als für abhängig Beschäftigte gewesen. Über ein Drittel haben nach Befragungen Einkommenseinbußen erlitten, insbesondere viele Solo-Selbstständige. Das spiegelt sich auch in einer höheren Armutsquote wieder. Für 2020 gelten dreizehn Prozent der Selbstständigen als einkommensarm. 2019 waren es noch neun Prozent.
Hartz IV und damit auch die gekoppelten Sätze für die Grundsicherung zum Beispiel für Schwerstkranke und Mehrfach Schwerstbehinderte wurden zum Jahreswechsel auch kaum erhöht und real „bereinigt“ sogar sehr stark gesenkt. Die Inflation ist hoch wie fast noch nie, dies betrifft realiter eigentlich nur die Ärmsten – etwa die haushaltsbudgetprozentualen Energiekosten – , und das sehr schwerwiegend im Alltag und in ihrer gesundheitlichen und physischen Existenz: Nun hatte die Ampel auch noch angekündigt, durch die sogenannte Nachholregel auch höhere Sätze für 2023 zu begrenzen. Sind das nicht die völlig falschen Signale?
Jonas Pieper: Die Regelsätze in Hartz IV, aus der sich weitere Leistungen ableiten, beispielsweise auch die Höhe der Grundsicherung im Alter, werden 2022 um weniger als ein Prozent steigen. Angesichts der starken Preissteigerungen ist das tatsächlich besorgniserregend. Ein von uns beauftragtes Rechtsgutachten kommt zu dem Schluss, dass dies sogar verfassungswidrig ist. Wir erwarten deshalb von der neuen Bundesregierung, dass sie nicht die Fehler der Großen Koalition wiederholt. Die Regelsätze in Hartz IV müssen deutlich erhöht werden, nach unseren Berechnungen auf 644 Euro.
„Menschen erleben Schicksalsschläge, die zur Armut führen“
Es wird ja viel über Spaltung diskutiert zur Zeit, materiell aber war diese doch schon vorher vorhanden, wenn man mit Betroffenen spricht. Was wären Ihre Forderungen für Sofort-Maßnahmen gegen mörderische Armut und um die Diskriminierung von Menschen zu beenden, die durch Zufall unverschuldet in die Armut geboren wurden – auch eine stabile Familie ist ein geldwerter Vorteil für die spätere berufliche Entwicklung – und denen es die Mehrheitsgesellschaft bewusst verweigert, dort raus zu können?
Jonas Pieper: Wir brauchen eine armutsfeste Überwindung von Hartz IV. Die Ampel-Parteien kündigen auf den ersten Blick eine umfassende Reform der Grundsicherung an, die die Würde der Einzelnen achte, zur Teilhabe befähige und digital und unkompliziert zugänglich sei. Auf den zweiten Blick ist zwar durchaus eine Reform zu erkennen, aber keineswegs die Überwindung von Hartz IV formuliert, die die Umbenennung in „Bürgergeld” rechtfertigen würde. Das für die Lebens- und Armutssituation der Hartz IV-Beziehenden entscheidende Faktum, Entbehrung und Ausgrenzung aufgrund kleingerechneter und deshalb nicht bedarfsdeckender Regelsätze, soll mit dem Bürgergeld offenbar fortgeschrieben werden.
Menschen werden aber nicht nur „durch Zufall in Armut geboren”, sondern erleben in ihrem Lebenslauf auch Schicksalsschläge, die zur Armut führen können. Auch diesen Menschen muss geholfen werden. Die steigende Altersarmut ist wirklich besorgniserregend. Hier schlagen wir beispielsweise die Einführung einer Mindestrente vor, die das soziokulturelle Existenzminimum bedarfsgerecht sichert. Die bestehende Grundrente leistet dies nicht in ausreichendem Maße, da sie sich nur an langjährig Versicherte richtet und in der Höhe deutlich zu knapp bemessen ist.
Howard Carpendale, der politisch bekanntlich eher links steht und aktuell die Corona-Politik kritisiert, meinte einmal: „Jedes gesellschaftliche und materielle Problem auf der Welt ist nur darauf zurückzuführen, dass die einen unberechtigt viel Geld haben und die anderen unberechtigt wenig.“ Ist dem noch etwas hinzuzufügen?
Jonas Pieper: Zu Howard Carpendale kann ich nicht viel sagen, aber ich würde mich gerne mit ihm darüber austauschen, wie wir gemeinsam dafür sorgen können, dass der große private Reichtum in diesem Land und auf dieser Welt stärker dazu beitragen kann, die Welt sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger zu machen. Popkulturell halte ich es ansonsten mit Tocotronic: Wenn ihr nicht mehr weiter wisst / Und jede Zuneigung vermisst / Wenn ihr vor dem Abriss steht / Ihr habt meine Solidarität.