Afghanistan am Rand des Zusammenbruchs, USA wollen „over-the-horizon“-Angriffe

Gray Eagle Extended Range. Bild: General Atomics

Nach der FAO wird bald die Hälfte der Afghanen hungern, die Lage wir explosiv. Pentagon will einen Luftkorridor über Pakistan, das aber versucht, das Land zu stabilisieren – mit den Taliban.

US-Präsident Joe Biden propagiert, seitdem er die Truppen aus Afghanistan abgezogen hat und die Taliban die Macht übernommen haben, gegen die die Nato 20 Jahre lang kämpfte, dass das US-Militär keine Bodentruppen brauche, um Gegnerin einem Land zu bekämpfen. In Afghanistan könne  man auch weiterhin islamistische Terroristen durch „Over-the-horizon“-Angriffe (OTH) bekämpfen. Das ist mittlerweile ein viel verwendeter Begriff für Angriffe geworden, die aus der Ferne durchgeführt werden, also mit Raketen, Flugzeugen oder Drohnen, die außerhalb des Landes gestartet werden.

Das Pentagon macht die Angelegenheit für Washington dringlich. Während einer Senatsanhörung erklärte General Mark Milley, man habe ein Zeitfenster von 12 bis 36 Monate – also innerhalb der Biden-Präsidentschaft -, bis Terrorgruppen wie al-Qaida oder der Islamische Staat Khorosan (ISK) sich in „unregierten Räumen“ einrichten und versuchen, die USA auf eigenem Territorium anzugreifen. Das ist eine etwas seltsame Lagebeurteilung, denn ganz offensichtlich ist bereits jetzt ISK auf Kosten der Taliban erstarkt und übt viele Angriffe und Anschläge auf diese aus, die nun vermutlich ohne große Vorbereitung vom Terrorkampf auf Ordnungsmacht umschalten mussten. Und wenn die Taliban die verheerende wirtschaftliche Lage und die Hungersnot, die sich mit beginnendem Winter verschärfen wird, nicht schnell in den Griff bekommen, wird ihre Herrschaft, sowieso von internen Konflikten zerrissen, zu wanken beginnen. Absehbar ist nicht, dass al-Qaida und ISK größere Terrorangriffe auf amerikanischen Boden planen.

Aber dem Pentagon ist wichtig, angeblich weiter „das amerikanische Volk vor Terrorangriffen aus Afghanistan zu schützen. Man will also weiter in Afghanistan militärisch  mitmischen, wenn auch von außerhalb. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin versicherte in der Anhörung, dass das Pentagon die von Biden immer erwähnten „OTH“-Kapazitäten hätten. Das seien „Assets und Zielanalysen außerhalb des Landes, in dem die Operation geschieht“. Bei der Anhörung ging es auch darum, dass dabei die Atommacht Pakistan, das schon immer die Finger in Afghanistan hat und selbst mit eigenen Taliban zu kämpfen hat, eine wichtige Rolle spielt. Colin Kahl, Staatssekretär im Pentagon, berichtete gestern dem Streitkräfteausschuss des Senats, dass ISK schon in einem halben Jahr nach Ansicht der US-Geheimdienste die USA angreifen könnten. Der ISK verfüge über einige tausend Kämpfer, es sei die Frage, ob die Taliban ihn wirksam bekämpfen können.

Wie sich gerade auch an Afghanistan zeigt, kann over the horizon zwar technisch möglich, politisch aber delikat sein, wenn der Luftraum eines Staats durchquert werden muss. Das US-Militär hat bislang einmal einen Drohnenangriff in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban durchgeführt, der zum Desaster wurde, weil man vermutlich ohne Informanten im Land und nur angewiesen auf belauschte Verbindungsdaten – wie so oft – keine verlässlichen Informationen hatte und in Kabul ausgerechnet eine Familie mit Kindern tötete, deren Vater mit den Amerikanern zusammengearbeitet hatte – ein Kriegsverbrechen oder schlicht ein Mord. Man hatte geglaubt, IS-Mitglieder im Visier zu haben, die einen erneuten Anschlag ausführen wollten.

Die Taliban haben nach dem Angriff klargestellt, dass sie Luftangriffe nicht dulden werden. Es werde Konsequenzen haben, wenn die Amerikaner Drohnen im afghanischen Luftraum einsetzen. Mit dem Drohnenangriff auf die Familie hätten die USA internationales Recht und das Abkommen von Doha verletzt. Welche Konsequenzen das Eindringen von US-Drohnen in den afghanischen Luftraum haben könnte, sagten die Taliban allerdings nicht, die dringend darauf angewiesen sind, Hilfsgelder aus dem Ausland zu erhalten und sich als Staatsmacht zu etablieren, aber auch nicht den Anschein gegenüber ihren Anhängern erwecken dürfen, mit den Amerikanern im Kampf gegen andere Islamisten nun auf einmal nach 20 Jahren Krieg zu kooperieren.

Hinter die Taliban stellte sich auch die chinesische Führung, die in Afghanistan größeren Einfluss erreichen und verhindern will, dass uigurische Extremisten Widerstand organisieren und nach China importieren. Die Taliban haben versprochen, dass dies nicht geschehen wird, auch sie eng mit TIP (Turkistan Islamic Party) kooperiert haben, die uigurische Kämpfer in Afghanistan rekrutieren. Offenbar scheint sich jetzt der afghanische Ableger des Ismalischen Staats (ISK) zu bemühen, Uiguren zu rekrutieren, um gegen die Taliban und China vorzugehen. Der Selbstmordschlag am 8. Oktober auf die schiitische Moschee, bei dem 140 Menschen getötet wurden, soll nach ISK von dem Uiguren Muhammad al-Uyghuri als Reaktion auf die Ausweisung von Uiguren durch die Taliban auf Wunsch von China ausgeführt worden sein. Um die Taliban zu unterstützen, hat China erst einmal eine Million US-Dollar für humanitäre Hilfe bereitgestellt, weitere 5 Millionen sollen folgen. Aber das ist nur eine symbolische Geste, da nach der FAO bald 23 Millionen Afghanen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, Hunger leiden und auf Hilfe angewiesen sein werden.

Die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums hatte sich jedenfalls den Taliban angeschlossen und am 29. September gesagt: „Die USA sollten die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität Afghanistans ernsthaft respektieren.“ Die Tötung der Familie in Kabul durch einen Drohnenangriff sei nur die Spitze des Eisbergs aller Tragödien und Untaten der USA in Afghanistan. Die USA sollten aufhören, „gewohnheitsmäßig mutwillige militärische Interventionen durchzuführen und anderen ihren eigenen Willen aufzuzwingen, und dass sie vermeiden, die Tragödien zu wiederholen, die Menschen in Elend und Leid stürzen.“

Die USA führen inzwischen Gespräche mit der pakistanischen Regierung, um für „Over-the-horizon“-Angriffe weiter den pakistanischen Luftraum benutzen zu können. Joe Biden meidet allerdings ein Gespräch mit dem pakistanischen Regierungschef Imran Kahn. Bislang hatte das US-Militär den pakistanischen Luftraum ebenso benutzen können wie den Landweg, um die Truppen in Afghanistan zu versorgen. Aber für die Benutzung des Luftraums gibt es keine offizielle Vereinbarung,  was aber nicht für Angriffe wichtig wäre, sondern auch wenn wieder Menschen aus Afghanistan ausgeflogen werden. Die letzten Drohnenflüge wurden von Stützpunkten am Golf ausgeführt. Die Drohnen flogen um den Iran herum, um dann über den pakistanischen Luftraum nach Afghanistan zu gelangen. Da die Flugstrecke so lange ist, können die Drohnen zur Aufklärung oder für Angriffe nur für relativ kurze Zeit in Afghanistan sein, was die Möglichkeiten beschränkt.

Die USA hatten nach 2004 häufig heimlich in Pakistan Drohnenangriffe ausgeführt, zeitweise auch von einem pakistanischen Stützpunkt,  und dabei auch viele Zivilisten getötet. Sie wurden von Militärs geduldet, die auch auf die Finanzierung aus den USA angewiesen sind, die Regierungen haben diese öffentlich abgelehnt. Ab 2014 wurden von den Amerikanern nur noch selten Drohnenangriffe geflogen. Jetzt ist für die Amerikaner nicht nur unklar, ob sie weiterhin den pakistanischen Luftraum benutzen können, die Taliban lehnen auch die Benutzung des afghanischen Luftraums ab, was eine neue Situation ist. Schon länger haben sich die USA bemüht, in den angrenzenden Staaten Tadschikistan oder Usbekistan Stützpunkte für „Over-the-horizon“-Angriffe einrichten zu können, bislang ohne Erfolg. Moskau wäre davon auch alles andere als begeistert.

Am Samstag zirkulierte die von CNN veröffentlichte Meldung, dass die US-Regierung sich einem Abkommen mit Pakistan nähere, einen Korridor im pakistanischen Luftraum benutzen zu können. Das sei Thema gewesen in einer geheimen Unterrichtung von Kongressabgeordneten. Am Samstag veröffentlichte daraufhin das pakistanische Außenministerium eine Mitteilung, in der es hieß, es gebe keine Vereinbarung mit den USA zur Benutzung des Luftraums für militärische oder geheimdienstliche Operationen in Afghanistan. Man kann davon ausgehen, dass Pakistan, um seinen Einfluss in Afghanistan aufrechtzuerhalten, kein Abkommen mit den USA schließen wird. Fragleich ist, ob man es sich leisten will, Überflüge zu dulden, da dies nicht nur zum Konflikt mit den Taliban, sondern auch mit Teilen der eigenen Bevölkerung, insbesondere mit den Anhänger von Tehreek-i-Taliban (TLP), führen würde.

Und Pakistan – ebenso wie China, Russland, Tadschikistan und Usbekistan – hat Sorge, dass noch mehr Chaos in Afghanistan ausbricht. Gerade hat der Regierungschef den Chef des mächtigen Geheimdienstes ISI ausgetauscht, der auch bei der Regierungsbildung der Taliban seine Hand im Spiel hatte. Der pakistanische Informationsminister Fawad Chaudhry sagte Reuters, die Uhr ticke bereits, bis Afghanistan zusammenbreche. Man müsse mit den Taliban kooperieren, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Die im Westen eingefrorenen Milliarden müssten für die Hilfe freigegeben werden: „Stoßen wir Afghanistan ins Chaos oder versuchen wir, das Land zu stabilisieren?“ Es zeichnet sich ab, dass Afghanistan zu einem zweiten Syrien wird, weil viele unterschiedliche Interessen von Regional- und Großmächten im neuen Great Game mitspielen.

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Ein Kommentar

  1. Es ist nicht begreiflich wieso in den 20 Jahren Krieg in Afghanistan die Menschen gut gelebt haben sogar ist die Bevölkerung enorm Angestiegen und heute in Friedenszeiten müssen sie hungern???

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