Äthiopien: Vom Bürgerkrieg zum antikolonialen Krieg?

TPLF-Kämpferinnen

Mittlerweile nimmt die Propaganda rund um den Konflikt in Äthiopien zu. Während sich die Tigray Defense Force (TDF) immer weiter aus zuvor eroberten Gebieten in Amhara zurückzieht, wird seitens der Unterstützer des äthiopischen und des eritreischen Regierungschefs eine weltweite Propaganda- und Lobbyinitiative organisiert

 

Am 4. November vor einem Jahr marschierte die äthiopische Zentralarmee im Verbund mit eritreischen Kräften und amharischen Milizen in Tigray ein. Deklariert war die Operation als zeitlich begrenzte Polizeiaktion.

Begonnen hatten die Kriegsvorbereitungen lange vorher. Heute kann davon ausgegangen werden, dass auch der seinerzeit gefeierte „Friedensvertrag“ mit Eritrea eher als Pakt gegen die Tigray Peoples Liberation Front (TPLF) – und somit als Kriegsbündnis – zu verstehen ist.

Schien es anfangs noch so, als wenn die Zentralarmee leichtes Spiel gegen die Verbände der TPLF hätte, gelang es der Tigray Defense Force im Juli 2021 weite Teile Tigrays einschließlich der Hauptstadt Mekelle zurückzugewinnen. Trotz einer Kommunikationsblockade von Telefon, Internet und Reisemöglichkeiten für Journalisten sickerten mehr und mehr Informationen über unbeschreibliche Menschenrechtsverletzungen wie Massenvergewaltigungen, Plünderungen und Exekutionen von Zivilisten an die Öffentlichkeit durch. Teils durch wenige verbliebene NGO-Mitarbeiter, vor allem aber durch Zeugenaussagen der Tigrayer, die es geschafft hatten in den Sudan zu flüchten.

Es gibt Einschätzungen, dass nicht zuletzt das ungeheure Ausmaß der Verbrechen an der Zivilbevölkerung Abiy Ahmed Ali den Sieg gekostet hat, da dadurch praktisch die gesamte Bevölkerung Tigrays gegen die Besatzer aufstand und sich hinter ihrer Führung versammelte. Gleichzeitig wurden die Stimmen in der tigraischen Community lauter, die eine Unabhängigkeit von Äthiopien forderten. Angesichts der Tatsache, dass kaum eine Familie in Tigray von Gräueltaten verschont blieb, schien ein weiteres Zusammenleben Seite an Seite mit den Peinigern nicht mehr möglich.

Die Truppen des äthiopischen Herrschers Abiy Ahmed Alis und seiner Verbündeten gingen nach ihrem Rückzug dazu über, Tigray komplett abzuriegeln und jegliche Lieferung – einschließlich Nahrungsmittel und medizinische Güter – zu blockieren. Tigray mit seinen ca. 6 Millionen Einwohnern sollte ausgehungert werden.

Die Strategie der Regierung Tigrays und der TDF konzentrierte sich nun darauf, die Blockade für die hungernde Bevölkerung zu brechen. Richtung Sudan war Westtigray von starken Kräften der Eritreer und Amharen besetzt, zudem eignete sich die ebene Landschaft dort kaum für eine Guerillataktik. In allen anderen Richtungen grenzt Tigray entweder an Äthiopien oder an Eritrea und ist somit von allen Seiten blockiert.

Die TDF rückte deshalb nach Süden in das Amharengebiet vor und gelangte bis auf ca. 200km in die Nähe der Hauptstadt Addis Abeba. Verknüpft wurde dies mit dem Angebot, sich wieder nach Tigray zurückzuziehen, sofern das besetzte Westtigray wieder geräumt würde. Weitere Forderungen waren unter anderem eine unabhängige Untersuchung aller Kriegsverbrechen (egal von welcher Seite), eine Aufhebung der Blockade von Hilfslieferungen, die Zulassung von humanitärer Hilfe und die Wiederaufnahme der Versorgung mit Elektrizität, Telekommunikation und Bankdienstleistungen.

Die Armee der Zentralregierung war deutlich geschwächt, zunehmend wurden eritreische Truppen und Geheimdienstler sowie amharische Milizen zu den bestimmenden Kräften. Auf Seiten der TPLF entstand eine Allianz mit Kräften verschiedener anderer Bevölkerungsgruppen. Vor allem innerhalb von Äthiopiens größter Bevölkerungsgruppe, den Oromo, bildete sich ein bewaffneter Widerstand.

Militärisch und politisch hatte sich mittlerweile auch eine große Koalition zur Stützung des äthiopischen Regimes gebildet. Waffenlieferungen vor allem aus arabischen Staaten, der Türkei, China, Israel und Russland nahmen zu. Insbesondere Drohnenlieferungen aus der Türkei und dem Iran waren – ähnlich wie zuvor in Libyen oder im armenisch-aserbaidschanischen Krieg – militärisch von großer Bedeutung. Bedient wurden diese Waffensysteme teilweise von ausländischen Fachkräften der Lieferländer.

Gleichzeitig startete das Regime Abiy Ahmed Ali eine Propagandaoffensive in Äthiopien, um alle waffenfähigen Einwohner und Einwohnerinnen des 110 Millionen Landes gegen Tigray zu mobilisieren. Die Regierung scheute sich dabei nicht, auf ethnisch konnotierte Hasspropaganda zurückzugreifen und willkürlich Zivilisten – vom Kleinkind bis zum Greis – auch außerhalb Tigrays zu inhaftieren und in Lager zu deportieren. Um die teils demotivierten Truppen zu motivieren und der landesweiten Rekrutierungskampagne den nötigen Schwung zu verleihen, beschloss Abiy Ahmed Ali selbst an die Front zu gehen. Medienwirksame Bilder im Kampfanzug entstanden.

Insbesondere aufgrund der Drohnenangriffe und um die eigenen Kräfte zu schonen, zog sich die TDF seit Anfang Dezember weitgehend aus Amharengebiet zurück.

Propagandakrieg

Begleitet wird der Bürgerkrieg von Propaganda innerhalb und außerhalb von Äthiopien. Innerhalb von Äthiopien ist keine freie Berichterstattung möglich. Äthiopische Medien sind gleichgeschaltet, und auch die leiseste Kritik am Vorgehen der Regierung wird als Unterstützung von Terroristen gewertet. Ausländische Journalisten – abgesehen von handverlesenen – haben keine Bewegungsfreiheit oder keine Einreiseerlaubnis und somit ist eine Recherche kaum möglich. Berichten ausländische Medien kritisch gegenüber der Politik des äthiopischen Regimes, werden sie der Einmischung beschuldigt oder gar als TPLF-Unterstützer und bezahlte Agenten bezeichnet.

Außerhalb von Äthiopien gibt es auf allen Seiten eine rege Auseinandersetzung in sozialen Medien, Demonstrationen für die eine oder die andere Seite und Versuche, auf Medien und Politik in den jeweiligen Ländern Einfluss zu nehmen.

Ist der Bürgerkrieg in Äthiopien ein antikolonialer Kampf?

Von Unterstützern der Regime in Äthiopien und Eritrea wird seit kurzem gerne der antikoloniale Kampf beschworen. Abiy Ahmed Ali und Isaias Aferwerki kämpfen sozusagen heldenhaft einen Stellvertreterkrieg gegen die USA und den Westen, um eine erneute Kolonisierung ganz Afrikas zu verhindern.

Damit hofft man nicht nur die afrikanische Diaspora und andere afrikanische Staaten für die eigene Sache zu gewinnen, sondern darüber hinaus versuchen Abiy Ahmed Ali und seine Unterstützer antikoloniale Reflexe bei Linken und Antirassisten in aller Welt zu wecken.

Dabei wird gerne unter den Tisch gekehrt, dass sich die USA durchaus für einen Verbleib der Regierung Abiy Ahmed Ali eingesetzt hat, als die Kräfte der TDF relativ nahe an Addis Abeba herangerückt waren. Der US-Beauftragte Feltman forderte die TDF kategorisch auf, sich komplett aus allen Gebieten außerhalb Tigrays zurückzuziehen. Eine Regime-Change-Politik sieht anders aus.

In der Argumentation stützt sich die Koalition um Abiy Ahmed Ali auf die vermeintliche Unterstützung der USA für die TPLF und die teilweise kritische Berichterstattung westlicher Medien zum Bürgerkrieg in Äthiopien.

Schaut man sich die Lage am Horn von Afrika genauer an, wird diese Argumentation allerdings schnell zur Farce.

Neoliberale Agenda Abiy Ahmed Alis

Nicht umsonst war Abiy Ahmed Ali bei Amtsantritt der Liebling des Westens. Anders als die TPLF-dominierten Vorgängerregierungen machte er sich doch unverzüglich daran, wichtige Wirtschaftszweige – wie Ethiopian Airlines, Banken und die Telekommunikation – zu privatisieren und auf dem internationalen Markt anzubieten.

Ein Ausverkauf des Landes an ausländische Investoren kommt Forderungen und Begehrlichkeiten von Wirtschaftsmächten wie den USA oder China durchaus entgegen. Nicht umsonst hatte gerade die USA in den vergangenen Jahrzehnten die marxistische ideologische Plattform der TPLF kritisiert und sie vergeblich dazu aufgefordert, die Wirtschaft zu liberalisieren. Neoliberale Wirtschaftspolitik und antikoloniale Attitüde gehen hier eine seltsame Allianz ein.

Ausländische Einflussnahme

Immer wieder wird von Abiy Ahmed Ali ausländische Einflussnahme in dem Konflikt am Horn von Afrika beklagt und eine Nichteinmischung gefordert. Während diese Argumentation vollmundig vorgetragen wird, werden gleichzeitig unterschiedliche ausländische Mächte in den Konflikt hereingeholt.

Eritrea wurde eingeladen, in Tigray einzumarschieren und war während der Besatzung Tigrays für einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen dieses Krieges mitverantwortlich.  Die Vereinten Arabischen Emirate waren von Beginn an mit Drohnenangriffen am Krieg beteiligt. In der aktuellen Phase des Konfliktes wurden Waffen und Experten aus Russland, China und der Türkei sowie Drohnen aus dem Iran eingekauft und eingesetzt. Im Übrigen fällt auf, dass viele Unterstützer und Waffenlieferanten enge Verbündete der USA sind. Die Türkei – einer der engsten Verbündeten Abiy Ahmed Alis – ist sogar NATO-Mitglied.

Während der selbsternannte König von Äthiopien ausländische Mächte wie Eritrea oder die Emirate in das Land einlädt, um Teile des eigenen Volkes zu schlachten, wird jede Kritik an diesem Vorgehen als Einmischung und Neokolonialismus abgewiesen.

Antirassismus und Antikolonialismus

Absurd wirkt der Vorwurf des Neokolonialismus und Rassismus durch die äthiopische Regierung und ihrer Unterstützer. Während Regierungsunterstützer in aller Welt laut no more rufen, werden gleichzeitig in Äthiopien ethnische Konflikte geschürt und im ganzen Land tigraystämmige Menschen – egal ob sie die TPLF unterstützen oder nicht – umgebracht, inhaftiert oder deportiert. All dies begleitet von einer durchaus rassistisch aufgeladenen Hasspropaganda. Die Rede ist von „Unkraut“ oder „Krebs“, welche beseitigt werden müssten.

Antirassismus und Antikolonialismus sind – ebenso wie ein Widerstand gegen das Vormachtstreben der USA – wichtige Haltungen und Positionen. Allerdings wird die berechtigte Kritik am Neokolonialismus geradezu diskreditiert und in den Dreck gezogen, wenn sie dazu benutzt wird, Teile des eigenen Volkes zu unterdrücken, das Land an die – ebenfalls neokoloniale – Politik Chinas zu verkaufen, ethnisch bestimmte Hasspropaganda gegen das eigene Volk zu organisieren und unzählige Kriegsverbrechen damit zu bemänteln.

Wenn versucht wird, Völkermord, Hass, Vergewaltigung, Zerstörung und neoliberale Wirtschaftspolitik als antikoloniale Haltung zu verkaufen, wird echte Kritik am Vormachtstreben der USA und an Neokolonialismus und Rassismus entwertet und pervertiert.

Legenden & Propaganda

Wie immer in derartigen Konflikten, werden eine Fülle von Falschmeldungen produziert und wiederholt. Einige halten sich hartnäckig. Die folgende Aufstellung erhebt somit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden lediglich einige besonders beliebte Aussagen aufgegriffen.

Beginn des Bürgerkrieges

Teil der Legendenbildung ist die Darstellung, wer den Bürgerkrieg begonnen hat. Gerne wird hier behauptet, der Konflikt hätte mit dem Überfall auf das in Tigray stationierte äthiopische Nordkommando durch Kräfte der TPLF begonnen. Mittlerweile wissen wir, dass die Kriegsvorbereitungen lange vor dieser Aktion begonnen hatten.

Jeder, der sich auch nur ansatzweise mit Militärtaktik auskennt, weiß, dass es schlicht unmöglich ist, einen koordinierten Einmarsch, wie er durch äthiopische und eritreische Kräfte am 4. November stattfand, innerhalb von ein paar Tagen auf die Beine zu stellen. Die Truppen waren Wochen vor der Aktion gegen das Nordkommando an den Grenzen aufmarschiert und bereit zuzuschlagen. Hinzu kommt, dass es bereits vor dem Überfall auf das Nordkommando Kommandoaktionen in Tigray gegeben hatte, um die Führung der TPLF zu verhaften.

Lange wurde von Abiy Ahmed Ali jegliche Anwesenheit von eritreischen Truppen in Äthiopien geleugnet. Als dies so offensichtlich war, dass es nicht mehr verbergen ließ, wurde behauptet, die Eritreer hätten in einem Akt der Selbstverteidigung auf Raketenbeschuss durch die TPLF geantwortet. Auch dies ist so nicht richtig, wie wir heute wissen. Es flogen tatsächlich Raketen auf eritreische Ziele. Allerdings wurden Ziele in Tigray bereits vorher von Eritrea aus mit Drohnen angegriffen und äthiopische Kampfflugzeuge nutzten den Flughafen in Asmara für Luftangriffe.

Freie Wahlen

Gerne wird behauptet, dass Abiy Ahmed Ali seine Macht durch freie Wahlen legitimiert hätte. Auch hier sind Zweifel angebracht. Wenn wichtige Oppositionskräfte – insbesondere aus der zahlenmäßig stärksten Bevölkerungsgruppe der Oromo – inhaftiert werden, keine freie Berichterstattung und kein freier Wahlkampf zugelassen wird und in einigen Bundesländern Wahlen ausgesetzt und verschoben werden, kann von freien Wahlen kaum die Rede sein.

In seinem kürzlich veröffentlichten Report über den globalen Status der Pressefreiheit stufte das Committee to Protect Journalists in einer Aufstellung zu Afrika Äthiopien als das Land mit den meisten inhaftierten Reportern knapp hinter Eritrea ein.

Friedensvertrag mit Eritrea

Bis heute ist der Wortlaut des sogenannten Friedensvertrages mit Eritrea selbst den Parlamentariern in Addis Abeba nicht bekannt und wird unter Verschluss gehalten. Immerhin führte dieser Vertrag – auch ohne Kenntnis des Inhalts – zu der insbesondere vom Westen gefeierten Ehrung von Abiy Ahmed Ali mit dem Friedensnobelpreis.

Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass dieser „Friedensvertrag“ vor allem dazu diente, ein Kriegsbündnis gegen die TPLF zu schmieden. Beide Parteien sahen die TPLF als Bedrohung ihrer Machtposition, und es gab seitens des eritreischen Diktators noch offene Rechnungen aus der Vergangenheit.

TPLF will wieder die Macht in ganz Äthiopien ergreifen

Spätestens nachdem die Kräfte der TDF weit in Amharengebiet Richtung Addis vorgerückt waren, wird ihnen unterstellt, sie wollten erneut die Macht in Äthiopien ergreifen. Allerdings hat sich in der TPLF mittlerweile die Position durchgesetzt, für Tigray die Unabhängigkeit von Äthiopien anzustreben und dazu ein Referendum durchzuführen.

Mittlerweile erheben allerdings Amharen Anspruch auf das besetzte Westtigray. Ohne Westtigray wäre ein unabhängiges Tigray nicht lebensfähig, da es von allen Seiten von feindlichen Gebieten umschlossen wäre. Nach Aussage der TPLF diente der Vormarsch nach Süden vor allem dazu, ein Verhandlungspfand in der Hand zu haben, um damit den Rückzug aller Besatzer durchzusetzen. Eine Rückkehr an die Macht war nicht angestrebt.

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