11.9.2001 – 6.1.2021

Bild: National Park Office. Kapitol. Bild: Tyler Merbler/CC BY-2.0

Angriffe auf die amerikanische Demokratie

Am 6.1.2021 bestürmte ein Mob, vom US-Präsidenten dazu angetrieben, das Capitol in Washington. Die Bilder riefen weltweites Entsetzen hervor. Nicht von ungefähr sprachen viele vom Niedergang der amerikanischen Demokratie. Das wäre zu erörtern – ein inneramerikanischer Angriff auf die politische Raison d’être der USA. Stattdessen sei hier ein vor rund zwei Jahrzehnten geschriebener Text nochmals publiziert. Der lautete so.

* * *

Wie soll man bloß den Anblick der von den oberen Geschossen der Wolkenkratzer in ihren Tod springenden Menschen ertragen? Dabei haben gerade sie sich doch die Form ihres Todes gewählt, als ihnen klar wurde, dass ihre Chancen, gerettet zu werden, nichtig seien. Ein Paar war zu sehen, das, sich an den Händen haltend, gemeinsam in den Abgrund sprang …

 

Eine große Kluft öffnete sich zwischen den Berichten über das „Ereignis“ samt seinen begreif- und erörterbaren Aspekten und der grauenvollen Tragödie der aus den Fenstern Springenden und derer, von denen selbst die Überreste nicht mehr auszumachen sein werden. Der Anblick der ersten war unerträglich, der der letzten wird nicht mehr möglich sein. Nur noch die leeren Worthülsen „Tragödie“, „Grauen“, „Entsetzen“ blieben übrig.

 

Wenige Stunden nach der Katastrophe verkündeten bereits Stimmen in den Medien: „New York wird nie mehr das sein, was es gewesen ist.“ Andere gingen gar weiter mit der Behauptung, die Vereinigten Staaten werden nicht mehr das sein, was sie gewesen waren, und ganz auf die Spitze trieben es jene, die mit der Überschrift aufwarteten, die ganze Welt habe sich am Katastrophentag verändert.

Über die triviale Erkenntnis hinaus, dass New York, die Vereinigten Staaten und die Welt sich jeden Tag unablässig verändern, was meinten jene, die diese wesenhafte Veränderung auf die Ereignisse in New York und Washington bezogen? Haben doch Personen des amerikanischen öffentlichen Lebens darauf insistiert, dass man so schnell wie möglich zu dem zurückkehren möge, was sie als business as usual apostrophierten. Andere stellten fest, dass der „amerikanische Geist unbeugbar“ sei. Auch der amerikanische (wie denn der globale) Kapitalismus stand und steht nicht vor einer Veränderung – geschweige denn vor der seines Wesens. Was meinten also jene, die die USA leichterdings mit der gesamten Welt identifizierten? Etwa die Überschrift der deutschen Bild-Zeitung, die am Tag nach der Landung des ersten Menschen auf dem Mond im Jahre 1969 mit den Worten aufwartete: „Der Mond ist jetzt ein Ami“?

Die Geschwindigkeit, mit der (vor allem von US-amerikanischer Seite) unmittelbar nach den Terroranschlägen gegen die USA beschlossen wurde, dass eine neue Geschichtsphase angebrochen sei, war beunruhigend: Jedesmal, wenn sich die erste Welt wegen etwas ihr Widerfahrenem entsetzt, neigt sie dazu, ihren Schmerz zu verallgemeinern und ihn nach Möglichkeit zu universalisieren.

Warum hat sich beispielsweise die Welt nicht „verändert“, als in den 1990er Jahren eine Million Menschen in Ruanda innerhalb weniger Monaten ihr Leben verloren? So grauenvoll die Katastrophe in den USA tatsächlich ist, das Gerede über die vermeintlich wesenhafte Veränderung, die sich in der ganzen Welt vollzogen habe, ist nur unter der Voraussetzung verständlich, dass diejenigen, die von ihr reden, die USA als „die Welt“ begreifen, und verzeihlich nur wegen des Ausmaßes der Katastrophe.

Man soll einer Nation nicht ihr Leid und ihren Zorn zum Vorwurf machen. Das Problem besteht nur darin, dass sich der Zorn der USA sofort in einen Krieg in globalem Maßstab umsetzt, nicht zuletzt, um der Grundannahme Geltung zu verschaffen, dass die USA tatsächlich die Welt seien. Bereits eine oder zwei Stunden nach den Terrorattacken, bevor auch nur ein Wort über die menschliche Tragödie, die sich zugetragen hat, verloren wurde, sprachen bereits Personen wie der amerikanische Außen- und der britische Premierminister von einem „Gegenschlag“, davon, dass es sich um eine „Kriegserklärung“ gegen die „demokratischen Staaten“ / die „freie Welt“ / die „westliche Zivilisation“ handle.

Terror oder Krieg?

Im Verlauf seines ersten Besuches am Ort des Anschlags im Pentagon sagte der US-Präsident, der Anblick erwecke in ihm Trauer und Zorn. Die Worte wurden in allen Nachrichtenprogrammen gesendet – nicht, weil den Gefühlen des Präsidenten besondere Bedeutung zukäme, sondern weil sie eine politische Aussage enthielten: Sie entsprachen den „Gefühlen der Öffentlichkeit“, wie man von ihnen am Tag nach dem Anschlag berichtete, und formulierten zugleich – vermutlich vorbewusst – das Paradigma der „amerikanischen Reaktion“. Nur, wenn der Angriff auf die amerikanischen Städte einen „Kriegsakt“ darstellte, wie vom US-Präsidenten und seinem Außenminister behauptet, in welchem Sinn war er dann auch eine „Terrorhandlung“ (auch dies eine Definition der beiden)?

Vielleicht muss man die Selbstmordpiloten den japanischen Kamikazefliegern im Zweiten Weltkrieg vergleichen? Der Unterschied liege darin, dass die Kamikazeflieger keine Zivilisten angegriffen haben, wird man dem entgegensetzen wollen. Wohl wahr. Wahr ist aber auch, dass westliche Armeen (und nicht nur sie) im Verlauf der im Irak, in Serbien und Tschetschenien geführten Kriege sehr wohl Zivilisten angegriffen haben. Vielleicht muss man also aufhören, von Terror zu sprechen, und alles für Kriege erachten? Vielleicht sollte man aber doch auch in Kategorien von Staatsterror denken?

Nach den grauenvollen Ereignissen in New York und Washington hat der Terror aufgehört, „hässlich“ zu sein, und ist nunmehr in die „Schönheits“-Liga aufgestiegen – ein Wandel, der sich u.a. daraus erklärt, dass er mittlerweile nicht nur als Waffe der wirklich Armen anzusehen ist, sondern durchaus reichen Quellen entstammen kann (etwa denen von Multimillionären oder gleich ganzen Staaten), die ihn fördern und finanzieren wollen. Nicht von ungefähr sah sich das amerikanische Establishment in seinen Definitionsversuchen gezwungen, zwischen „Terror“ und „Kriegsakt“ zu lavieren. Der Umfang an Planung, Organisation und Sophistikation ermöglichte es nicht mehr, schlicht von „Terror“ zu sprechen. Staaten bedürfen einer wohlorganisierten Armee und eines professionellen Stabs, um Operationen ähnlichen Maßstabs ins Werk zu setzen.

Der US-Präsident selbst erklärte, dass sich die amerikanische Reaktion gegen die Terroristen und deren Gastgeberländer richten werde. Man sah sich dabei freilich vor ein Problem gestellt: Vor lauter Gier nach einem gewalttätigen Racheakt bei gleichzeitiger Unfähigkeit, den anzugreifenden Feind mit Sicherheit zu bestimmen, mochte es für einen Moment scheinen, als sehnten sich regelrecht amerikanische Medienmenschen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nach der Zeit des „Kalten Krieges“, als „die Dinge“ noch klar und geordnet waren.

Der Feind musste zuerst geschaffen werden

Man kann es verstehen, denn angesichts des Ausmaßes an Zerstörung und Grauen hatte die Notwendigkeit, den Feind erst zu konstituieren, ehe man ihn angreifen kann, etwas Erschreckendes an sich. Dies ließ sich nicht zuletzt daran ausmachen, dass keine vierundzwanzig Stunden, nachdem Afghanistan als das erwünschte Konfliktland konstituiert worden war, der obligatorische „Kommentator“ einer amerikanischen Tageszeitung bereits mit der Forderung auftrat, taktische Nuklearwaffen zur Auslöschung der terroristischen Infrastruktur zu verwenden.

Also doch eine Neuerung in Weltmaßstab: die erste Kriegserklärung, die der Definition des Feindes, gegen den man Krieg zu führen trachtet, zuvorkam; und nicht nur der Feind musste erst erschaffen, auch seine Ziele mussten zuvor ausgemacht werden. Kein leichtes Unterfangen: Es ist nicht sicher, ob die Gerüchte, die unmittelbar nach den Ereignissen in New York und Washington die Runde machten, der Wahrheit entsprechen, aber wenn sie auch nur ein Körnchen Wahrheit enthalten, so hätte der voll verwirklichte Terrorangriff auf die USA nicht nur die Twin Towers und den Pentagon, sondern auch das Weiße Haus, den präsidialen Jet und Camp David zum Ziel haben sollen.

Unabhängig davon, ob dies nun die wirklichen Ziele der Terroristen gewesen waren oder nicht, die Angriffsorte verweisen auf die Matrix der terroristischen Gewaltlogik: der Präsident als Symbol der politischen Macht der USA, des Überbaus dessen, was sich global im amerikanisch-westlichen Kapitalismus und in der militärischen Macht der Vereinigten Staaten von Amerika als einzig verbliebenen Weltpolizisten verkörpert, und – im Kontext von beidem – als Zentralinstanz der Politik im Nahen Osten. Überflüssig hervorzuheben, dass sich diese „Matrix“ aus der Realität der USA (und der ganzen Welt) ableitet, nicht etwa vom Terroranschlag, gleichwohl verleiht ihr der Terroranschlag eine feste, verdichtete Bedeutung.

Die Wiedereröffnung der Wall-Street-Börse wurde als „patriotischer Akt“ höchsten Ranges zelebriert

Das will wohlverstanden sein: Ein Angriff auf den amerikanischen Kapitalismus durch die Vernichtung einer seiner, wie immer großen und bedeutenden, Institutionen ist im Wesen reaktionär, und zwar nicht nur, weil die Protagonisten des Anschlags selbst übelste Reaktionäre sind, sondern weil ein angemessener Krieg gegen den Kapitalismus sich hüten wird, seine materiellen Errungenschaften zu vernichten; er wird sich vielmehr, wennschon, ihrer bemächtigen, um sie gerechten gesellschaftlich-menschlichen Zielen zuzuführen.

Und doch, sollte, wie prognostiziert, der Zusammenbruch von zwei Wolkenkratzern in New York – so groß und mächtig sie gewesen sein mögen – in der Tat die Beschleunigung der internationalen Wirtschaftsflaute, von der schon vor dem Terroranschlag die Rede war, bewirken, inkarnierte sich darin ironischerweise die Bedeutung des für die kapitalistische Produktionsweise typischen Musters der „Kapitalkonzentration“. Nicht von ungefähr erklärten Politiker, Wirtschaftsexperten und Medienkommentatoren schon am dritten Tag nach dem Unglück im Chor, dass die schnellstmögliche Wiedereröffnung der amerikanischen Börse unabdingbar sei, um die Nichtkapitulation der „Freiheit“ vor dem Terror zu indizieren.

In der Tat wurde die Wiedereröffnung der Wall-Street-Börse wenige Tage später als ein von religiösem Geist beseelter „patriotischer Akt“ höchsten Ranges zelebriert. Man muss die tränennahe Gerührtheit der US-amerikanische Fahnen schwenkenden Broker gesehen haben, um zu begreifen, von welchem Bewusstsein der „Wiederaufbau“ getragen war. Nein, es stand nichts zu befürchten – vom ersten Moment war vollkommen klar, dass der Geist des patriotisch genährten, zum „Kreuzzug“ bereiten Kapitalismus ungebrochen war: Keine zwei Tage nach Ausbruch der Krise stiegen die Goldpreise, eine in Kriegszeiten bekanntlich bevorzugte Investition.

Berichtet wurde auch, dass, als der US-Himmel für den Flugverkehr gesperrt wurde, viele Menschen in New York mithin ohne Flugmöglichkeit steckenblieben, die Preise gewisser Hotels der Stadt sofort anstiegen. Selbst im Verlauf des geschwätzigen Geredes über die horrenden Verluste an Menschenleben feierte der kapitalistische Geist Urständ: Wenige Stunden nach den katastrophischen Ereignissen begann man bereits in den Medien von „ausgebildeten Arbeitskräften“, „qualitativem Managamentpersonal“, „Spezialisten“ und „Professionellen“, die unter den Trümmern des World Trade Centers begraben worden seien, zu sprechen.

Zwar ist nicht ausgemacht, ob die Terroristen vorhatten, den „westlichen Kapitalismus“ zu attackieren, zweifelsfrei ist aber, dass sie ihm nicht nur keinen ernsthaften Schaden zuzufügen, sondern nicht einmal den geringsten Wandel im ihn antreibenden Zweckdenken hevorzurufen vermochten. Alles im Kapitalismus ist fungibel – erst recht „ausgebildete Arbeitskräfte“. Und dennoch, gemessen an der sentimentalen Rührseligkeit, die die öffentliche Sphäre US-Amerikas für gewöhnlich – auch diesmal – durchzieht, wäre zu erwarten gewesen, dass die Ausdrücke des „Entsetzens“ über den durch den Verlust von Menschenleben bewirkten ökonomischen Schaden zumindest für einige Tage, wenn schon nicht für Wochen zurückgehalten werden würden.

 

Eine leicht verwunderte Frage zum Schluss: Warum hat man die Freiheitsstatue nicht angegriffen? Handelt es sich doch um ein Symbol der USA par excellence. Oder ist dem nicht mehr so? Im Zeitalter der Globalisierung und moderner Völkerwanderungen muss man mit diesem Begriff – „Freiheit“ – vorsichtig umgehen.

Ähnliche Beiträge: