Wie steht es heute um die Ideale der Aufklärung?

Französischer Salon mit prominenten Aufklärern, darunter auch Condillac. Bild: public domain

Um die Demokratie ist es Jahr für Jahr schlimmer bestellt, autokratische Tendenzen werden immer deutlicher.

Die Ideale der Aufklärung werden oft in der Parole der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zusammengefasst. Dieser Wortlaut kommt uns heute ein wenig unzeitgemäß vor. „Freiheit“ ist von der politischen Rechten beschlagnahmt und wird in diesen Kreisen zumeist auf „ökonomische Freiheit“ reduziert. „Brüderlichkeit“ schließt die weibliche Hälfte der Bevölkerung aus.

Eine modernisierte Version der Parole wäre „Rationalität, Gleichheit, Demokratie“. „Rationalität“ bezeichnet das Recht, im Prinzip alles in Frage zu stellen – philosophische und religiöse Dogmen, gesellschaftliche Institutionen –, und bewahrt damit die breitere Bedeutung des Freiheitsbegriffes. „Demokratie“ umfasst im weiteren Sinne allgemeine und gleiche Wahlen, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichstellung von Frauen und Männern, Freiheit der Presse und andere Aspekte der liberalen Demokratie.

Unsere Rationalität ist naturgemäß begrenzt. Moderne und archaische Denkweisen existieren in unseren Gesellschaften Seite an Seite. Aus allen Teilen der Welt bekommen wir täglich Nachrichten über religiös oder politisch begründeten Fanatismus, und es ist unmöglich, eine deutliche Bewegung in Richtung fortschreitender Modernität zu erkennen. In den Vereinigten Staaten wurde gerade ein demokratischer Kandidat als Gewinner der Präsidentschaftswahlen bestätigt, aber nur mit einer schwachen Mehrheit. Bei einem großen Teil der amerikanischen Bevölkerung scheint ein tiefes Misstrauen gegenüber Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie langfristiger und nachhaltiger Sozial- und Umweltpolitik zu bestehen.

Um die Demokratie ist es Jahr für Jahr schlimmer bestellt. Die jährlichen Berichte der Organisation „Freedom House“ zeigen seit mehreren Jahren eine deutliche Schwächung der demokratischen Institutionen auf allen Kontinenten, auch in Europa. Rein quantitativ ist die Anzahl der Länder, in denen die Demokratie schwächer wird, inzwischen größer als die der Länder mit sich festigenden Demokratien.

Autokratische Tendenzen werden immer deutlicher – sowohl in neuen Demokratien, wie Ungarn, Polen, als auch in den alten, wie den USA. Während der letzten vier Jahre sind die leitenden Politiker der Republikanischen Partei mit wenigen Ausnahmen durch einen  totalen Mangel an Integrität aufgefallen. Ebenso müssen wir feststellen, dass ökonomisches Wachstum und eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie nicht zwangsläufig Hand in Hand gehen, wie die Beispiele China und Singapur zeigen.

Was die Ungleichheit betrifft, ist das allgemeine Bild durchaus gemischt. Wenn man die Weltbevölkerung als Ganzes betrachtet, hat vor allem das Wirtschaftswachstum in China und Indien zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse beigetragen. Innerhalb der meisten Länder gibt es allerdings eine gegenläufige Entwicklung, was darauf zurückzuführen ist, dass das Wachstum nicht allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen zugutekommt. Aus diesem Grund sind Organisationen wie der IWF und die OECD bestrebt, sowohl starkes als auch inklusives Wachstum zu schaffen.

Die Pandemie hat nun viele traditionelle Standpunkte auf den Kopf gestellt. In politischen Kreisen, in denen man sich häufig gegen einen starken Staat ausspricht, befürwortet man jetzt freigiebige Konjunkturpakete, um den Konsum nach dem Vorbild von Keynes wieder anzukurbeln. Die noch bis vor kurzem beschworene finanzielle Disziplin scheint im aktuellen politischen Umfeld nicht mehr besonders wichtig zu sein. Sollte die Erfahrungen der Pandemie und ihrer Bekämpfung letztlich zu einer Rehabilitierung des Staates beitragen, könnten wir am Ende vielleicht sogar davon profitieren – wenngleich zu sehr hohen Kosten.

Es gibt keinen Automatismus in Richtung einer aufgeklärteren gesellschaftlichen Grundordnung

Zusammenfassend kann man – wie immer – das Glas als halb voll oder halb leer beschreiben. Die Hypothese von Condorcet, dem dieses Buch gewidmet ist, war, dass die Ideale der Aufklärung sich mehr oder minder automatisch verwirklichen würden, wenn die Bevölkerung erst einmal das Joch des Ancien Régime abgeschüttelt hätte. Zweihundert Jahre später müssen wir feststellen, dass diese Hypothese allzu optimistisch war. Ein Automatismus ist definitiv nicht eingetreten, und vielerorts lässt sich nicht einmal eine klare Tendenz in Richtung einer aufgeklärteren gesellschaftlichen Grundordnung feststellen.

Jedes Land hat seine eigene Geschichte, aber die grundsätzlichen Werte der Aufklärung sind universell, und jedes Land kann von den geschichtlichen Erfahrungen anderer Länder lernen. Teile der deutschen Geschichte spielen in meinem Buch „Condorcets Irrtum“ eine wichtige Rolle, als Beispiel eines Zusammenbruches der Demokratie und der Wertegemeinschaft der Aufklärung.

Einigen deutschen Lesern mag es anmaßend vorkommen, dass ein Ausländer solch ausgiebigen Gebrauch von der deutschen Geschichte macht, aber das deutsche Beispiel ist für andere Länder und andere Zeiten doppelt wichtig. Erstens weil der deutsche Weg zum Zusammenbruch kein außergewöhnlicher Sonderweg war; ähnliche Voraussetzungen und Tendenzen waren auch in anderen Ländern sichtbar. Zweitens ist die deutsche Aufarbeitung dieser Vergangenheit vorbildlich, und das gesellschaftliche Klima in vielen anderen Ländern wäre besser geworden, wenn man ähnliche Anstrengungen unternommen hätte. Viele Probleme der heutigen US-amerikanischen Gesellschaft gehen auf eine mangelhafte Aufarbeitung der Geschichte der Sklaverei zurück.

Im Geiste ist Condorcet unser Zeitgenosse. Bei keinem anderen Philosophen der Aufklärung lässt sich ein derart entwickeltes Bild der modernen Gesellschaft finden und seine Forderungen waren seiner Zeit weit voraus: Ein allgemeines und obligatorisches Bildungssystem, Gleichstellung von Frauen und Männern, sozio-ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse und sogar der Entwurf einer Sozialversicherung sind in seinem Katalog enthalten. Umso wichtiger ist es, Condorcets Irrtum genau in den Blick zu nehmen, denn er erlaubt einen tieferen Einblick in die Mechanismen unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Eine wichtige Schlussfolgerung aus jenem Irrtum ist – so viel können wir hier schon vorwegnehmen –, dass die Ideale der Aufklärung sich nie endgültig realisieren lassen: Jede Generation muss sie aufs Neue verteidigen und weiterentwickeln.

 

Per Molander ist Mathematiker und ein anerkannter Experte für Verteilungsfragen und lebt in Schweden. In leitender Position war er für die schwedische Regierung an Reformprojekten in den Bereichen der Wohlfahrts- und Haushaltspolitik, sowie des Umweltschutzes beteiligt. Er war Berater unter anderem für die Weltbank, den IWF und die Europäische Kommission. Bis 2015 war er Generaldirektor der von ihm gegründeten Inspektion für Sozialversicherungen. Per Molander hat insgesamt über 100 wissenschaftliche Arbeiten, Ergebnisberichte und Bücher veröffentlicht.

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