Wie Israels Straflosigkeit ein Ende setzen?

 

Bombardierung des Gebäudes, in dem sich viele Redaktionsbüros befanden, am 15. Mai. Bild: Osps7/CC BY-SA-4.0

Wem gilt dieser jüngste verheerende Angriff auf Gaza? Die mächtigste und schlagkräftigste Armee der Region richtet seine Macht gegen Flüchtlinge und ihre Nachfahren. Einige wurden 1948 aus ihren Häusern vertrieben, andere 1967. Warum wurden sie aus ihrer Heimat vertrieben? Weil sie Palästinenser sind. Darin liegt die Wurzel der Tragödie.

Die Asymmetrie besteht nicht nur hinsichtlich der militärischen Macht zwischen Israel und den zusammengewürfelten Widerstandsgruppen der Palästinenser. Sie besteht vor allem hinsichtlich der Menschenrechtslage. Eines dieser Rechte ist das Recht auf Selbstverteidigung. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung vor den Augen der „internationalen Gemeinschaft“.

Jene hat diese Situation überhaupt erst geschaffen, als 1947 Länder, die nicht in dieser Region liegen, beschlossen, Palästina aufzuteilen – gegen den Willen der Mehrheit seiner Bewohner und seiner Nachbarstaaten. Niemand hat ein moralisches Recht, den Unterdrückten zu diktieren, wie sie sich wehren sollen. Palästinenser hätten keine selbstgebauten Raketen auf Israel abgeschossen, hätte man ihnen erlaubt, raffinierte Waffen zu besitzen, die sie gezielt auf militärische Anlagen hätten richten können. Doch in der heutigen neokolonialen Welt dürfen manche ausgeklügelte Waffen haben, andere dagegen nicht.

Als einige dieser primitiven Raketen in Tel Aviv landeten – übrigens einen Häuserblock entfernt vom Wohnort meiner Tochter – wurden die Israelis aus einem gefährlichen Schlummer geweckt. Viele von ihnen lebten in einer Blase, genossen das Strandleben, Cafés und andere Annehmlichkeiten eines hohen Lebensstandards, während wenige Autominuten entfernt 95 Prozent der Palästinenser, die im Gazastreifen leben – die Hälfte von ihnen Kinder – keinen Zugang zu sauberem Wasser haben.

Israel ist ein wohlhabendes Land geworden, es hat in Bezug auf das Pro-Kopf-Einkommen den 20. Platz weltweit erklommen. Die Lebensqualität ist hoch und die große Mehrheit der Israelis nimmt das Schicksal der Palästinenser gar nicht wahr. Die Situation ähnelt anderen Fällen von Siedler-Kolonialismus wie Südafrika, und es ist nur logisch, dass sich Vergleiche zwischen Israels Herrschaft und der Apartheid zunehmen aufdrängen.

Die zionistischen Gründerväter nannten das „afrada”, Separation. Diese Politik hat die Palästinenser in den 1920er Jahren der Arbeit beraubt. Später, als die Zionisten ihren Staat gründeten, wurden tausenden Palästinensern ihre Wohnungen entzogen. Die Politik, „ein Maximum an Territorium mit einem Minimum von Arabern“ zu erringen, wird seit dieser Zeit verfolgt. Diese Strategie hat den aktuellen Brand verursacht, dieses Mal, als zionistische Siedler kamen, um gebürtige Palästinenser in Jerusalem zu vertreiben. Warum diskriminiert, vertreibt und tötet der israelische Staat immer wieder Palästinenser? Weil sie zufällig dem zionistischen Projekt, einen „jüdischen Staat“ zu errichten, im Wege stehen. Die Palästinenser sind also mit anderen Worten die „falsche“ Sorte, auch wenn sie seit Jahrhunderten auf ihrem Land leben.

Oft verliert man das große Ganze aus den Augen, wenn man sich auf einen bestimmten Vorfall konzentriert. Es ist aber wichtig, den Wald hinter den Bäumen zu sehen, wahrzunehmen, was hinter der jüngsten Gewalt steckt. Israel wurde auf Ungerechtigkeit errichtet, auf systematischer ethnischer Säuberung und Vertreibung. Einige, die diese erlitten, sind Juden, die aus ihrer Heimat in Europa vertrieben wurden.

Pogrome in Polen und der Ukraine, der nationalsozialistische Staat und lokale Abwandlungen des Faschismus waren für ihre Vertreibung verantwortlich. Die meisten dieser jüdischen Flüchtlinge haben nun ein Anrecht auf Entschädigung, Abfindung und Entschuldigung. Nichts davon wird den Palästinensern angeboten, die ihr Zuhause verlieren, weil das der politischen Strategie des zionistischen Staates entspricht. Die Palästinenser müssen für die Sünden der Europäer zahlen, von denen viele den Nazismus enthusiastisch unterstützt haben.

Es mag gut gemeint sein, wenn die Europäer Israel uneingeschränkte Unterstützung anbieten. Aber sie verwechseln die Juden mit dem Staat Israel, dessen grundlegende Ideologie und tagtägliche Praxis ethnische Dominanz ist. Israels zionistische Ideologie geht davon aus, dass nur ein ethnischer Staat mit einer tonangebenden jüdischen Mehrheit den Juden eine wahre Zufluchtsstätte bietet. Viele Juden teilen diesen Glauben nicht, der fortwährend Gewalt hervorbringt.

Doch diese Vorstellung ethnischer Reinheit gefällt nicht wenigen Europäern. Rechte Politiker bewundern Israel, einen aggressiven militarisierten Staat, der sozial, ökonomisch und ethnisch extrem gespalten ist und dessen hoch entwickelte Wirtschaft für ausländische Investitionen offen ist. Israels immense Erfahrung in der Aufstandsbekämpfung – gesammelt in einem Jahrhundert des Konflikts mit den Arabern – wurde genauso wie die israelische Ausrüstung in die Kriegführung in Afghanistan, im Irak, Libyen und Mali sowie in Operationen der inneren Sicherheit integriert. Kein Wunder, dass Israel der Liebling rechter Politiker, inklusive der aktuell in Wien regierenden ist.

Israelische Flaggen, die auf öffentlichen Gebäuden gehisst werden, stehen nicht für ein schlechtes Gewissen wegen der ethnischen Säuberung während der Nazi-Jahre. Sie sind vor allem ein Zeichen der Solidarität mit einem Land, das viele rechte Europäer als Bollwerk gegen eine angebliche muslimische Expansion ansehen. Sorgte sich die österreichische Regierung um unschuldige Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft aus ihren Häusern vertrieben wurden, hätte sie die Palästinenser unterstützt. In der Tat unterstützte Österreich die Palästinenser während der Kanzlerschaft von Bruno Kreisky, einem verantwortungsbewussten jüdischen Bürger, der den Zionismus ganz prinzipiell ausdrücklich ablehnte, nicht nur die aggressive Politik, die ihn verkörpert. Die europäischen Politiker von heute täten gut daran, sich eine Scheibe seines Mutes abzuschneiden und Israels Straflosigkeit ein Ende zu setzen.

 


Aus dem Englischen von Susanne Hofmann. Der Text erschien zuerst auf den Nachdenkseiten. Yakov M. Rabkin ist emeritierter Professor für Geschichte an der University of Montreal und Autor des Buches Im Namen der Tora: Eine Geschichte des jüdischen Widerstands gegen den Zionismus, Frankfurt-am-Main: Fifty-Fifty Verlag, 2020.

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