Wahl in Argentinien: Peronisten verlieren – Chaos für die nächsten zwei Jahre

Bild: telesur.tv

Gewonnen haben bei der Wahl in Argentinien angesichts der Wirtschaftskrise, der ausufernden Kriminalität und Fehlern bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie konservative und rechtsradikale Parteien.

 

Am Sonntag brachten die argentinischen Parlamentswahlen den regierenden Peronisten herbe Verluste. Sie verloren ihre absolute Mehrheit im Senat (von insgesamt 72 nur noch 35) und  Abgeordnetenhaus (von 257 noch 118). Gewonnen haben das konservative Wahlbündnis „Juntos por el Cambio” (Gemeinsam für den Wandel) sowie ein neuer Akteur: die gerade erst gegründete rechtsradikale Allianz „La Libertad Avanza” (die Freiheit schreitet voran), die von der Familie Bolsonaro unterstützt wird und mit Trump-Plakaten wirbt.

Die Wahlen in Argentinien haben in einer tiefen Wirtschaftskrise stattgefunden; das Bruttosozialprodukt ist 2020 fast im gleichen Umfang gesunken wie bei der Zahlungsunfähigkeit 2001/2002, nämlich um fast 11 %. In der Innenstadt ist jedes zweite Geschäft geschlossen, Familien leben auf der Straße. Und dann wurde, kurz vor den Wahlen, im Arbeitervorort Ramos Mejía ein Kioskbesitzer erschossen. Es kam zu einem regelrechten Volksaufstand, das Kommissariat wurde fast gestürmt, und tagelang gab es kein anderes Thema.

Die Kriminalität ist der einzige Wirtschaftszweig, der Arbeitsplätze schafft; und es trifft die Mittelschicht und die Armen. Die Polizei steckt mit den Narcos unter einer Decke. Der Todesschütze von Ramos Mejía war während der Corona-Monate auf freien Fuß gesetzt worden, wegen der Menschenrechte. Doch diese Parole der einst mächtigen Bewegung greift angesichts der heutigen Sicherheitslage nicht mehr. Zwar wissen alle, dass viele der jungen Kriminellen keinen Arbeitsplatz finden und nicht einmal mehr eine „industrielle Reservearmee” sind, von der Polizei eingespannt, malträtiert und oft genug einfach exekutiert werden. Aber sie bringen andere für ein Handy oder ein paar Turnschuhe brutal um; sie sind Täter und Opfer zugleich.

Die Bürger, und gerade die, die sich nicht mit Überwachungstechnologie ausrüsten und in den privaten Stadtvierteln verbarrikadieren, rufen nach einer harten Hand oder zumindest einer funktionierenden Strafverfolgung.

Die Linke ohne Perspektive

Es fehlen Perspektiven und Humankapital geht für immer verloren. Argentinien hatte früher ansehnliche Forschungseinrichtungen, heute verlassen die Wissenschaftler das Land. Jeden Tag emigrieren 100, meist junge Leute. Wegen ihrer Vorfahren haben viele einen europäischen Pass und in Deutschland sind qualifizierte Arbeitskräfte aus katholischen Ländern erwünscht. Für den globalen Norden ist die argentinische Krise ein Gewinn, für Argentinien eine Katastrophe.

Die Linke hat kein Projekt. Die Kommunistische Partei unterstützt die Peronisten und ist, was Quantität und Quantität angeht, eine zu vernachlässigende Größe. Die Trotzkisten erhielten bei der Wahl in Argentinien 10 Prozent der Stimmen und feierten dies als Sieg – früher bekamen sie noch weniger. In der Anden-Provinz Jujuy bekam ihr Kandidat, ein ehemaliger Müllsammler, ein Viertel aller Stimmen. Aber das blieben Ausnahmen. Während der Pandemie hatten sie, gemeinsam mit den Gewerkschaften, noch längere Schließung der Schulen und Büros gefordert, schnellere Impfungen und eine Freigabe der Patente. Kritische Einwände kamen aus dieser Ecke nicht, vom Unmut der eingesperrten Leute profitiert die Rechte.

Die peronistische Regierung hatte bei der Bekämpfung der Pandemie ziemlich alles falsch gemacht, was theoretisch falsch zu machen war. Ihre Maßnahmen waren unlogisch, widersprüchlich und wenig effektiv – und das war von vorneherein abzusehen. Sie übernahm die Rezepte der WHO: den Lockdown und die Hoffnung auf einen Impfstoff.

Aber Argentinien ist längst in der Dritten Welt angekommen. Dort leben die Leute auf engstem Raum oder in Slums, Abstand und Hygiene sind unmöglich; und viele leben von der Hand in den Mund – da brachte der Lockdown, den man im Sommer begann und gnadenlos fast ein halbes Jahr durchsetzte, den Hunger. Man hätte auf die Durchseuchung der Bevölkerung setzen und gleichzeitig Krankenhausbetten und Medikamente bereitstellen müssen.

Aber die Versuchung war zu groß und der Peronismus war und ist autoritär. Es war sehr praktisch, das gesamte Volk, Journalisten und Opposition einzusperren und sie zu bevormunden, während man selbst rauschende Feste feierte. Pech nur, dass die Fotos von den Regierungsparties im Netz die Runde machten, kurz vor den Vorwahlen. Dies kostete eine Menge Stimmen. Der Lockdown war verheerend. Inzwischen wurden die meisten Verbote wieder zurückgenommen – in Südamerika herrschen sommerliche Temperaturen.

Eine neue Rebellion?

In der argentinischen Presse warnen Politiker vor einem „neuen 2001”, die Eliten fürchten das drohende Chaos. Bei den Protesten in Ramos Mejía wurde die damalige Parole gerufen: „Que se vayan todos” (Alle sollen verschwinden). Verschwinden sollten vor zwanzig Jahren alle Parteien, die konservativen Liberalen wie die Peronisten. 2003 war diese Bewegung von Néstor Kirchner und seiner Frau Cristina vereinnahmt worden; dank des hohen Soja-Preises konnten sie das unregierbare Land, in dem alles hätte möglich sein können, befrieden. Auch der Schuldendienst wurde wieder bedient.

Jetzt befindet sich das Land am Abgrund wie 2001, doch den Leuten fehlt nach anderthalb Jahren Corona-Maßnahmen die Kraft. Und die Leute, die Plünderungen organisieren, werden den Peronisten zugerechnet.

Auf der anderen Seite ist der Dezember immer der Monat der Rebellionen. Die Sonne scheint, die Leute wollen feiern – nur das Geld fehlt. Die Stimmung im Land ist aufgeheizt.

In den kommenden zwei Jahren – bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen – wird Präsident Alberto Fernández mit Dekreten regieren, wenn im Kongress trotz Stimmenkauf keine Mehrheit zustande kommt. Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner wird Macht einbüßen, denn sie gilt als die große Verliererin der Wahl in Argentinien. Sie setzte den letzten Austausch der Minister durch, was keinen Erfolg brachte. Eine Einigung mit dem Internationalen Währungfond ist nicht in Sicht und wäre auch nicht besser als der derzeitige Status quo. Seit anderthalb Jahren tut die Regierung nichts anderes, als Geld zu drucken, die Inflation liegt trotz Preisbremse bei 3 Prozent monatlich; die Reserven der Zentralbank schmelzen. Die großen Firmen haben Argentinien verlassen, neue Jobs sind nicht in Sicht, die Leute leben von staatlichen Zuwendungen.

Eigentlich hatte man den Tourismus wieder beleben wollen, aber nur halbherzig. Wer dem deutschen Winter entfliehen will, der fliegt nach Mexiko oder Brasilien. Argentinien ist zwar wegen des Wechselkurses sehr billig, aber inzwischen ist die Kriminalität bedrohlich wie in Rio de Janeiro.

Noch in der Wahlnacht rief Fernández die Opposition zur Zusammenarbeit auf, ob er damit auch seine Vizepräsidentin einschloss, ist fraglich. Ihr Verhältnis gilt als mehr als schlecht. Und die Opposition wird sich kaum in die Beseitigung des Scherbenhaufens einbinden lassen. Die verbleibenden zwei Jahre bis zur nächsten nationalen Wahl werden chaotisch sein.

Die Ultrarechten Sieger der Wahl in Argentinien

Wahlsieger ist „Libertad Avanza” (die Freiheit schreitet voran), eine Allianz, die vor wenigen Wochen in Buenos Aires entstanden ist. Ihr Anführer, der Ökonom Javier Milei, war früher für General Antonio Bussi beratend tätig, während der Militärdiktatur der siebziger Jahre als „Schlächter von Tucumán” berüchtigt, einer Provinz im Norden, wo die Guerilla operierte. Er soll eigenhändig Verdächtige auf dem Grill gefoltert haben.

Milei ist bekennender Antikommunist und wirtschaftspolitisch Ultra-Liberaler. Er kam bei den Wahlen in der Stadt Buenos Aires auf über 17 %. Er will die Zentralbank abschaffen, die Steuern senken und die Sozialhilfe kürzen. Seine Anhänger haben im Wahlkampf Plakate von Menschenrechtsorganisationen wie den Maiplatz-Müttern abgerissen, und bei der Wahlparty zogen ihre Ordner Pistolen. Doch viele Jugendliche haben Milei gewählt. Er bedient sich der Sprache der Linken, fordert die Entmachtung der „politischen Kaste” und schreit und beleidigt, was das Zeug hält. Aber bei den von den Berufspolitikern Enttäuschten kommt das an.

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