Vorbereitung einer neuen Offensive der äthiopischen Zentralregierung gegen Tigray

Bild: UNICEF/Christine Nesbitt

Seit einem knappen Jahr tobt am Horn von Afrika – in Äthiopien – ein Bürgerkrieg. In Tigray verschlechtert sich die humanitäre Lage drastisch.

Was als sogenannte „law enforcement operation“ durch die äthiopische Zentralregierung unter Abiy Ahmed Ali begonnen hatte, zieht zunehmend die gesamte Region am Horn von Afrika in einen Strudel der Destabilisierung (Was steckt hinter dem Konflikt in Tigray?). Während Abiy Ahmed Ali Anfang Oktober 2021 die Bildung seiner neuen Regierung feiert, leidet das nördlichste Bundesland Äthiopiens -Tigray – unter einer umfassenden Blockade. Mittlerweile sind im Norden Äthiopiens Millionen Menschen vom Hungertod bedroht.

Großmächte wie die USA und China versuchen ihre ökonomischen und geopolitischen Interessen auf jeweils unterschiedlicher Seite in diesem Konflikt zu verteidigen.

Wie immer sind die kriegerischen Auseinandersetzungen begleitet von einer Propagandaschlacht der beteiligten Parteien.

Ausweisung von humanitären UN-Organisationen, während sich die Hungerkrise in Tigray drastisch verschärft

Kurz vor den Feierlichkeiten zur Bildung seiner neuen Regierung in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba am 4.10.2021 sorgte Premierminister Abiy Ahmed Ali mit einem diplomatischen Coup am 30.9. für internationales Aufsehen.

Seitens der Regierung wurden sieben Verantwortliche von humanitären UN-Organisationen (u.a. UN Children Fund, UNICEF und UN-Office of Humanitarian Affairs, UNOCHA) zu unerwünschten Personen erklärt und des Landes verwiesen. Sie hatten 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

Dieser Vorgang ist nicht nur außergewöhnlich, sondern auch juristisch umstritten. In einer ersten Reaktion hat der UN-Generalsekretär den Standpunkt vertreten, dass Äthiopien zwar das Recht hat, Vertreter eines anderen Staates des Landes zu verweisen, nicht jedoch Vertreter der UN.

Die Regierung in Addis Abeba begründet diese drastische Maßnahme mit einer Einmischung der UN-Vertreter in die inneren Angelegenheiten Äthiopiens.

Offensichtlich war der äthiopischen Regierung ein Dorn im Auge, dass UN-Vertreter wiederholt und offen die Zentralregierung dafür kritisiert hatten, dass durch Abiy Ahmed Ali jegliche humanitäre Hilfe für vom Hungertod bedrohte Menschen in Tigray blockiert und behindert wurde.

Nach wie vor ist das Bundesland Tigray durch die äthiopische und die eritreische Armee sowie amharische Milizen komplett abgeriegelt. Der Westen Tigrays, über den theoretisch vom Sudan aus ein humanitärer Korridor geschaffen werden könnte, ist von eritreischen und amharischen Truppen besetzt. Somit kann jede Versorgung mit lebenswichtigen Gütern durch die Zentralregierung kontrolliert und nach Belieben unterbunden werden. Der Hungertod von Millionen Menschen wird nicht nur in Kauf genommen, er scheint beabsichtigt. „Niemand wird uns retten, die Welt hat uns vergessen.“ Es ist diese Erfahrung, die die Menschen in Tigray machen und die sie hinter der TDF zusammenschweißt (UNOCHA-Bericht).

Nach Einschätzung der UN müssten täglich mindestens 100 Trucks mit Lebensmitteln und Medikamenten Tigray erreichen. Bis heute erreichen nicht einmal 10% davon die betroffene Region. Entweder werden die Transporte durch die Regierung gar nicht genehmigt oder sie werden durch regionale Milizen gestoppt, bevor sie Tigray erreichen. Hinzu kommt, dass die leeren LKWs teilweise den Rückweg nicht schaffen, da die Regierung auch eine umfassende Blockade für Treibstoff verhängt hat.

In Äthiopien aktive UN-Organisationen haben auf die humanitäre Lage hingewiesen. Sie haben – wie es ihre Pflicht ist – auch die äthiopische Regierung für die Behinderungen und die Blockadepolitik kritisiert.

Daraus wird seitens Abiy Ahmed Ali eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten konstruiert, und die Verantwortlichen der entsprechenden UN-Büros werden zu personae non gratae erklärt.

Die Ausweisung der UN-Vertreter passt zu einer Entwicklung, in der deutlich wird, dass das Regime in Addis Abeba zunehmend dünnhäutig und restriktiv auf jede Art von Kritik – sei es von innen oder von außen – reagiert.

Daher passt es ins Bild, dass Äthiopien in 30 Ländern handstreichartig seine Botschaften geschlossen hat und sich international gerne mit anderen autoritären Diktatoren verbündet. So gehört der türkische Präsident Erdogan mittlerweile zu den wichtigen Verbündeten Abiy Ahmed Alis und liefert Waffen (u.a. Drohnen).

Vorbereitung für eine neue Offensive von Abiy Ahmed Ali und seinen Verbündeten gegen Tigray und die TPLF

Beobachter glauben, dass die Ausweisung zum jetzigen Zeitpunkt auch im Zusammenhang mit einer angekündigten neuen Offensive gegen Tigray und die TPLF (Tigray Peoples Liberation Front) steht. Kritiker und unabhängige Beobachter stören zunehmend, zumal auch in Äthiopien die Repression immer groteskere und brutalere Züge annimmt.

Innenpolitisch werden tigraystämmige Menschen mehr und mehr ethnisch verfolgt und grundlos verhaftet oder deportiert. Jüngstes Beispiel ist Abraha Desta, einer der wenigen Politiker aus Tigray, der die Zentralregierung bei ihrem Einmarsch im November 2020 unterstützt hatte. Abraha Desta war sogar Mitglied der in der Bevölkerung isolierten Interimsregierung, die Abiy nach der Eroberung von Tigrays Hauptstadt Mekelle eingesetzt hatte. Desta hatte einen Brief geschrieben, in dem er – vorsichtige – Kritik an der Regierung äußerte. Das reichte für eine Verhaftung.

TDF-Kämpferinnen und -Kämpfer

Immer offener verfällt Abiy Ahmed Ali in eine ethnische Hasspropaganda. Tigray und die TPLF werden als „Hyänen“, „Krebs“ oder „Unkraut“ bezeichnet, das es auszurotten gilt. Willkürliche Verhaftungen im ganzen Land sind an der Tagesordnung. Es reicht oftmals, als Tigrayer identifiziert zu werden, um verhaftet zu werden. Kleine und große Unternehmen von Tigrayern außerhalb von Tigray werden zwangsweise geschlossen und enteignet.

In Äthiopien geht die Regenzeit zu Ende, und die Zentralregierung bereitet eine neue große Offensive gegen das abtrünnige Bundesland Tigray vor. In ganz Äthiopien werden neue Rekruten ausgehoben und einer Art Blitzausbildung unterzogen. Offensichtlich versucht die Regierung – nach mehreren Niederlagen gegen die Tigray Defense Force – mit schierer Masse an Soldaten (Äthiopien hat 110 Millionen, das Bundesland Tigray lediglich 6 Millionen Einwohner) den Erfolg zu erzwingen. Drohnen aus der Türkei und dem Iran sollen dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Sollte es Abiy Ahmed Ali gelingen, erneut in Tigray einzumarschieren und das Land ganz oder teilweise zu besetzen, ist zu erwarten, dass sich die ohnehin katastrophale Lage der Zivilbevölkerung nochmals verschlechtert. Die Hasspropaganda der Regierung gegen Tigray würde sich bei einem Sieg in Racheakte und Gräueltaten ummünzen, die jene des ersten Einmarsches in den Schatten stellen könnten. Die Zivilbevölkerung würde allein deswegen nicht verschont, weil sie sich geschlossen hinter die TPLF und TDF gestellt hat. Bei einem solchen Vorgehen kann man keine Zeugen und keine Störenfriede gebrauchen. Vor diesem Hintergrund ist die Ausweisung von humanitären UN-Organisationen auch zu verstehen.

Wahrscheinlicher als ein schneller Sieg der Zentralregierung ist allerdings, dass Äthiopien noch viele Jahre Bürgerkrieg bevorstehen.

Äthiopien antwortet auf Sanktionsdrohungen durch die USA und gibt sich antikolonial

Wurde der Kurs von Abiy Ahmed Ali unter Präsident Trump noch begrüßt und unterstützt, gehört die neue amerikanische Regierung mittlerweile zu den Kritikern und droht aufgrund der humanitären Lage offen mit Sanktionen.

In der propagandistischen Auseinandersetzung setzt die äthiopische und eritreische Regierungspropaganda zunehmend auf antiamerikanische Reflexe und betont das Prinzip der Souveränität und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.

In sozialen Medien und teilweise in linken Medien wird dieses Vorgehen gefeiert. Endlich werde neokolonialen Bestrebungen des Wertewestens einmal die Grenzen aufgezeigt. Der unbeugsame Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed Ali im Verbund mit seinem neuen Freund Isaias Aferwerki zeigen den USA, dass sie sich nicht unterkriegen lassen.

Auf den ersten Blick und oberflächlich gesehen mag eine derartige Positionierung einleuchtend erscheinen. Dass die Verteidigung humanitärer Werte eher propagandistische Tarnung für westliche Machtpolitik ist, zeigen nicht nur die unzähligen Einmischungen, Destabilisierungen und Kriege durch die USA und ihre Bündnispartner in den letzten Jahrzehnten. Heute reicht ein Blick auf die Bündnispartner der USA, um die Verlogenheit der Wertefassade zu entlarven. Die Türkei und Saudi-Arabien seien als zwei von vielen Beispielen erwähnt.

Ist die Positionierung der amerikanischen Außenpolitik seit dem Amtsantritt von Biden gegenüber dem äthiopischen und eritreischen Vorgehen in Tigray durch humanitäre Überlegungen bestimmt? Davon ist nicht auszugehen. Letztendlich geht es den USA – wie auch China oder Russland – einzig und allein um eigene ökonomische und geopolitische Interessen am strategisch wichtigen Horn von Afrika. China und Russland blockieren jegliche Sanktion im UN-Sicherheitsrat.

Müssen also deswegen Abiy Ahmed Ali und Isaias Aferwerki in ihrem Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung unterstützt werden? Führt ein „linker“ antiamerikanischer Reflex immer auf die richtige Seite? Ganz sicher nicht.

Im Falle Äthiopiens hat die Politik Abiy Ahmed Alis und seiner Bündnispartner zunehmend faschistische Züge. Wer Imperialismus, Rassismus und Faschismus weltweit kritisiert, darf zur menschenfeindlichen Politik Äthiopiens und Eritreas nicht schweigen, nur weil die USA sich gegen Abiy Ahmed positionieren.

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