„Muss erst etwas Schlimmes passieren, bis etwas getan wird?“

Der FDP-Gesundheitsexperte und Professor für Infektiologie Andrew Ullmann im ausführlichen Interview über Lehren aus der Flut, den Delta-Herbst, die „Politik der Angst“ und seine Empörung über sozial bedingte Chancenungleichheit.

Der Würzburger Professor Dr. med. Andrew John Ullmann, „born & rise“ in Los Angeles/CA und später zur Schule gegangen im tiefsten Ruhrgebiet, ist seit 2017 für die FDP im Bundestag und als Abteilungsleiter seit 2012 Professor für Infektiologie am Universitätsklinikum Würzburg und der dortigen Julius-Maximilians-Universität. Er ist zudem Facharzt für Innere Medizin, Onkologie/Krebserkrankungen und Hämatologie. Er arbeitete in Deutschland zunächst als Aushilfspfleger und studierte dann Infektiologie an der Harvard Medical School und hospitierte als Assistenzarzt am St. Clare´s Hospital in New York City auf einer HIV/AIDS-Spezialstation in den 1980ern zu Beginn der ersten Erkrankungswelle  . In Bayern und in Würzburg war und ist er sehr aktiv in der Kommunal- und Gemeindepolitik, im Bundestag ist er u.a. Obmann der FDP im Gesundheitsausschuss. Einer der Arbeitsschwerpunkte im Bundestag für das Vorstandsmitglied des Berufsverbandes der Internisten (BDI) ist auch „Globale Gesundheit“. Ullmann ist bekennender Feminist und beschreibt seinen Weg in die Politik selbstkritisch gegenüber der kapitalisierten und bürokratisierten Medizin auf  www.andrew-ullmann.de .

Zuerst die Pandemie, jetzt die Flut-Katastrophe: Manchmal wirkt Deutschland wie ein anarchistisches Chaos-Kollektiv, überspitzt gesagt. Herbert Reul meinte nun selbstkritisch, in einem Industrie-Land fühle man sich manchmal zu sicher und unverletzbar. Hat man in vielen Dingen der Infrastruktur, Vorsorge und Gefahrenabwehr für die ganze Bevölkerung in Deutschland einfach den Anschluss verpasst? Ist Deutschland nicht mehr ganz vorne mit dabei? Mit der bürokratischen Aktenordner-Behäbigkeit der Nachkriegsjahre ist man doch nicht für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet?

Andrew Ullmann: Wir sind zu langsam. Schlicht und einfach. Bei früheren Katastrophen konnte der Staat nur im Nachhinein etwas tun. Es fehlte zum großen Teil die Technik, präventiv tätig zu werden. Heute ist das anders. Ich beobachte die Debatte um das SMS-Warnsystem sehr genau. Viele Menschen hätten frühzeitig gewarnt werden können. Sie hätten sich in Sicherheit bringen können.

Andere Staaten benutzen so ein System bereits seit Längerem. Da kann es keiner verstehen, warum es in Deutschland nicht möglich ist. Zumal die SMS keine Erfindung aus dem letzten Jahr ist. Diese Behäbigkeit gibt es in allen Politikbereichen. Die Bundesregierung wird zumeist erst nach einer Katastrophe aktiv. Aber muss erst etwas Schlimmes passieren, bis etwas getan wird?

Diese Bundesregierung hat im Juni die Arbeit eingestellt“

Manche Politiker wirken auf viele Bürger sehr unglaubwürdig, einige Bilder von Armin Laschet kamen gerade auch nicht so gut an. Die FDP dagegen ist die einzige Partei mit sehr stabilem Wählerzuwachs in den Umfragen, in der ARD-Umfrage von diesem Freitag sogar sehr nahe an der SPD, und sie ist als einzige Partei in keinen Skandal der letzten Jahre verwickelt. Woran liegt das: Machen die anderen so viel falsch oder Ihre Partei so viel richtig?

Andrew Ullmann: Die Szene, wo Armin Laschet lacht, war unglücklich. Das weiß er auch selber. Meines Erachtens haben sich Grüne und Union die Debatten um Äußerlichkeiten und Verhalten selber eingebrockt. So wie ich Journalisten kenne, würden sie gerne über Inhalte sprechen.

Wenn wir ehrlich sind, kommt von beiden Parteien dazu nicht viel. Man weiß grob, für welche Oberthemen sie stehen, aber an Konzepten fehlt es. Die Freien Demokraten fallen hingegen durch Themen auf. In der Pandemie waren wir die Einzigen, die Gegenvorschläge zur Lockdown-Politik gemacht haben. Die letzten Debatten um uns gab es bei den Fragen, ob das Versprechen, keine Steuern zu erhöhen, einzuhalten sei und wie wir den öffentlichen Rundfunk neu ausgestalten wollen. Wir bieten eine Plattform für inhaltliche Diskussionen. Das trifft in der Öffentlichkeit auf Zuspruch.

Nach zwei Sommern sind wir aber immer noch in der Pandemie, in einigen Regionen der Welt sogar stärker denn je zuvor. Und obwohl der Sommer in Deutschland immer noch nicht richtig da ist, kommt der nächste Winter ganz bestimmt … Warum geht es in der Bekämpfung nicht richtig weiter?

Andrew Ullmann: Man hat das Gefühl, dass die Bundesregierung im Juni mit dem Spruch “die Pandemie isch over” die Arbeit eingestellt hat. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich erlebe ein Deja-Vu. Es läuft genauso ab wie im letzten Sommer. Es gibt kein richtiges Konzept für Reiserückkehrer, es gibt endlose Debatten, ob Luftreiniger sinnvoll sind, und Peter Altmaier verspricht, dass es keinen weiteren Lockdown gibt. Der Sommer muss endlich genutzt werden, um Konzepte zu erarbeiten. Wir brauchen Stresstests für das Gesundheitssystem, Bildungseinrichtungen und die Wirtschaft.

Die Bundesregierung darf der nächsten kein Chaos hinterlassen. Denn die Pandemie ist noch nicht vorbei. Mindestens diesen Winter brauchen wir noch Schutzmaßnahmen. Schutzmaßnahmen für Schulen und KiTas, weil es keinen Impfstoff für die Kleinsten in unserer Gesellschaft gibt. Genauso müssen gute Hygienepläne für Alten- und Pflegeheime bestehen bleiben. Ein 24/7-Betrieb und die bessere digitale Ausstattung von Gesundheitsämtern wird voraussichtlich auch ein unerfüllter Wunsch von mir bleiben. Ich spreche mich auch dafür aus, dass vollständig Geimpfte und Genesene ihre Freiheitsrechte zurückerhalten.

Ich kann Kleinstaaterei in einer globalen Krise nicht nachvollziehen“

In vielen Ländern werden die Menschen unruhig, von Corona-Leugnern abgesehen, teilweise berechtigt – nicht nur Corona ist lebensbedrohlich, auch die materiellen Folgen der Lockdowns können es sein, in Zypern wurde ein TV-Sender von einem Mob gewaltsam angegriffen … Fehlt nicht sowohl national als auch global immer noch eine klare Linie in der Pandemiebekämpfung?

Andrew Ullmann: Natürlich. Ich kann nicht nachvollziehen, dass viele Staaten während einer globalen Krise in Kleinstaaterei zurückfallen. Die Pandemie muss global und koordiniert bekämpft werden. Überschüssige Impfdosen müssen schnell und unbürokratisch an die COVAX Facility gespendet werden. Zudem wollen wir Freie Demokraten die multilaterale Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich langfristig ausbauen, denn die nächste Krise kommt bestimmt. Wir wollen ein globales Frühwarnsystem für Zoonosen, eine bessere Finanzierung der Pandemieprävention und –reaktion sowie eine Reform der WHO.

Auf nationaler Ebene müssen wir die Bürgerinnen und Bürger bei der Pandemiebekämpfung mitnehmen. Maßnahmen müssen sinnvoll und verständlich sein. Ein Beispiel: Im Frühjahr dieses Jahres war der Einzelhandel noch lange geschlossen. Obwohl die Leopoldina eine Schließung nur zwischen den Feiertagen empfohlen hat, um die Mobilität der Bevölkerung in diesem Zeitraum zu verringern. Die Schließung über Wochen und Monate war hingegen keine Empfehlung der Wissenschaft. Für viele Menschen hängt die Lebensgrundlage an ihrem Geschäft. Mit dem ängstlichen Blick auf die Inzidenzwerte wurde die Verhältnismäßigkeit von Seiten der Bundesregierung häufig genug fallen gelassen.

Minister Altmaier betonte aber nun mehrfach, es werde keinen neuen Lockdown geben – was etwas kurios ist, da der alte ja noch gar nicht ganz vorbei ist, zum Beispiel für Clubs. Wie sehen Sie das?

Andrew Ullmann: Peter Altmaier ist eine Fehlbesetzung … Er fällt nur durch Wortbeiträge auf, die er wenig später zurücknehmen muss. Das ist eine Katastrophe. Man denke an die Novemberhilfen. Für die Wirtschaft wäre es das Beste, wenn sie einen neuen Minister erhält.

Der Aufbau einer Drohkulisse ist eine typische Handlung der Konservativen“

In letzter Zeit wurde ja auch eine teils enorme Drohkulisse gegen noch nicht Geimpfte aufgebaut. Kann das denn der richtige Weg sein?

Andrew Ullmann: Der Aufbau einer Drohkulisse ist eine typische Handlung der Konservativen. Überall lauert Gefahr und man muss mit Angst Politik gestalten. Dieses Weltbild ist mir fremd. Ich bin Liberaler. Ich möchte mit den Menschen Politik machen. Es ist wie in der Wirtschaft: Wenn Angebote nicht ausreichend angenommen werden, sollte man sich überlegen, wie man das Angebot attraktiver machen kann. Die Kunden zu beschimpfen, bringt nichts.

Die Realität sieht ja anders aus als im politischen Berlin. Viele Menschen haben keinen Hausarzt oder haben Schwierigkeiten zwei Impftermine einhalten zu können. Daher sollte die Politik niedrigschwellig impfen und auch das Angebot ausweiten. Wer keine Zeit für eine Zweitimpfung hat, sollte den Impfstoff von Johnson & Johnson niedrigschwellig erhalten.

In England wurden nun fast alle Corona-Lockerungen aufgehoben, bei Inzidenzen nahe der 400. Was sagen Sie als Mediziner dazu? Ist das nicht katastrophal?

Andrew Ullmann: Es mutet katastrophal an. Die Debatte dahinter ist aber richtig. Wir werden keinen Dauerlockdown machen können. Die Pandemiebekämpfung war immer darauf ausgerichtet, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Deshalb sind niedrigschwellige Maßnahmen wie Hygienekonzepte oder Maskenpflicht, also einfache Schutzmaßnahmen, die nicht tief in Grundrechte eingreifen, sinnvoll bedarfsgerecht fortzusetzen. Bis zur Auslieferung der ersten Impfstoffe war unser Immunsystem zudem nicht ausreichend auf das Coronavirus vorbereitet. Wenn die Daten zeigen, dass durch die Impfstoffe Infektionen und schwere Verläufe verhindert werden können, werden wir in Deutschland auch diese Debatte führen.

Es sei aber gesagt, selbst wenn die Maskenpflicht fällt, heißt das nicht, dass Maskentragen verboten ist. FFP-2-Masken bieten einen guten Eigenschutz.

Auch auf Mallorca haben die Inzidenzen in dieser Woche wieder die 300 überschritten. Ist der „gute Sommer“ damit vorbei?

Andrew Ullmann: Die Delta-Variante beherrscht das Infektionsgeschehen in Deutschland. Die bisherigen Daten zeigen jedoch, dass die Impfstoffe auch gegen diese Variante schützen. Uns war allen klar, dass das Virus mutieren wird. Wir werden mit dem Virus leben müssen. Diesen Winter wird es wieder eine angespannte Lage geben. Der morgendliche Blick auf die Inzidenz wird bleiben. Aber nach und nach wird der Schutz gegen das Virus besser werden und der Blick darauf wird sich verändern.

Die Kritik an der staatlichen Handlung wurde lauter und differenzierter“

Die Bedeutung des Staates hat in der Corona-Krise enorm zugenommen – aber eher in einer Kontroll- und Leitfunktion, leider weniger als funktionierender Beschützer vor sozialen Härten und Ungerechtigkeit. Staatskritik aus einer aufgeklärten Perspektive aber war immer schon das Fundament jeder liberalen Kritik an einem „Leviathan Staat“ – vom Heiligen Augustinus über Abraham Lincoln und Walter Benjamin bis zu Johannes Agnoli, in der Kult-Serie „Mord mit Aussicht“ fällt in der Holländer-Folge ein schöner Satz über den „Kontrollwahn der Deutschen“. In einer modernen Gesellschaft hat ja der Staat für den Bürger da zu sein und nicht der Bürger für den Staat … Wird es nach der Pandemie immer noch eine diverse Zivilgesellschaft freier Individuen geben – oder sehen Sie als Liberaler die Gefahr eines neuen Untertanengeistes, aus der bedrohlichen Krise geboren, welche Konformismus gebiert?

Andrew Ullmann: Die Krise ist die Zeit der Exekutive. Das ist mit der Gefahr des Unbekannten zu begründen. Diese Sachlage hat sich mit der Zeit verändert. Das Informations-Gap zwischen Bürger und Staat hat sich geschlossen. Die Kritik an der staatlichen Handlung wurde lauter und differenzierter.

Es liegt in der Verantwortung der Regierenden, eine liberale Staatsgestaltung auch während einer Krise zu gewährleisten. Die Bundesregierung hat sich gleich zu Beginn der Pandemie viele Kompetenzen gesichert, die sie auch während der Pandemie kaum an das Parlament zurückgegeben hat. Später wurde unser Land von nächtlichen Runden der Ministerpräsidenten regiert. Die Öffentlichkeit fand kaum statt. So geht das natürlich nicht.

Trotz all dieser negativen Beispiele möchte ich doch ein Beispiel positiv hervorheben: Jens Spahn stand während der Pandemie in nahezu jedem Ausschuss für Gesundheit für Fragen und Antworten bereit. Man kann zu Jens Spahn stehen, wie man will. Aber während der Pandemie hat er großen Respekt vor dem Parlament gezeigt. Dieses Selbstverständnis haben nicht alle Unions- und SPD-Politiker an den Tag gelegt.

Das Sommerloch in den Medien fällt ja dieses Jahr aus, nicht nur in Deutschland aufgrund der Wahlen. Gefüllt wurde es aber auch mit der Katastrophen-Berichterstattung über vermeintliche Hitzeereignisse in aller Welt – dabei sind Temperaturen von über 42 Grad in Südkalifornien, Sevilla oder Las Vegas völlig normal. Muss man sich nicht Phänomene erst einmal genauer ansehen, anstatt vorschnell zu urteilen, wie manche es tun?

Andrew Ullmann: Man sollte nie aus Affekt handeln. Das muss man hier auch nicht. Was zu tun ist, wissen wir. Wir müssen den CO2-Ausstoß verringern und klimafreundlicher werden. Die Freien Demokraten haben das härteste Klimaprogramm aller Parteien. Nur den CO2-Preis zu erhöhen und dann zu hoffen, dass die gewünschten Erfolge eintreten, reicht uns nicht. Wir wollen den CO2-Ausstoß deckeln und durch einen Zertifikatehandel regulieren. Das lässt Raum für Innovationen und regelt den CO2-Preis über bewährte Marktmechanismen.

Antisemitismus gehört strafrechtlich verfolgt“

Aber wie kann man die Polarisierung in der Gesellschaft überwinden? RIAS und der Berliner Senat gaben bekannt, dass es im letzten Jahr rund 1000 antisemitische Straftaten alleine in Berlin gab, rund die Hälfte davon in Zusammenhang mit den Corona-Protesten …

Andrew Ullmann: Es ist bedauerlich, wenn Meinungsvielfalt sich in Polarisierungen verfestigt. Wir brauchen ja viele Meinungen und die Meinungsbildung muss in der Mitte der Gesellschaft stattfinden. Aber keiner sollte seine Meinung für allgemeingültig halten und gegen jedes Argument darauf beharren. In den Jahren der Großen Koalition haben wir erleben müssen, dass es einen breiten Konsens der großen Parteien gab. Die Polarisierung fand an den Rändern statt. Wir Freie Demokraten zeigen vielfältige Möglichkeiten auf, um eine Diskussion in der Mitte der Gesellschaft zu fördern.

Antisemitismus gehört bekämpft und strafrechtlich verfolgt. Er hat nichts mit einer Polarisierung der Gesellschaft zu tun. Denn Neonazis und rechte Populisten gehören nicht in unsere freiheitliche Gesellschaft.

Zur Finanzpolitik: Ist Finanzminister Olaf Scholz jetzt eigentlich auch FDP-Mitglied? Die FDP ist die einzige Partei, die keine Steuererhöhungen möchte – das ist sehr umstritten, aber auch sehr ehrlich. Von Ihren politischen Gegnern hieß es bisher, der Staatshaushalt bräuchte aber mehr Einnahmen … Scholz sagte in der vergangenen Woche Claus Kleber zur Frage nach der Finanzierung der Milliarden-Fluthilfen wörtlich: „An Geld wird es nicht fehlen.“ Also, sind die Kassen gar nicht leer und die FDP hatte Recht?

Andrew Ullmann: Olaf Scholz hat noch einen weiten Weg vor sich, um ein Liberaler zu werden, der bei uns einen Aufnahmeantrag stellen darf. Unsere Staatsfinanzen waren vor der Pandemie sehr ordentlich. Die schwarze Null war da. Die politische Linke hasst die schwarze Null. Sie hassen ordentliche Finanzen. Denn bei ordentlichen Finanzen kann man keine Steuern erhöhen. Die politische Linke liebt aber Steuererhöhungen. Weil es “die Anderen” trifft.

Bei einem Finanzminister Christian Lindner werden wir eine gute Führung der Staatsfinanzen erleben. Ohne Steuererhöhungen. Um soziale und ökologische Ziele umzusetzen und den Staat aus den Schulden zu befreien, braucht es eine starke Wirtschaft. Steuererhöhungen wären eine Sabotage für den Aufschwung. Das wird die politische Linke hassen und mich erfreuen.

Was wir brauchen, ist eine langfristige Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen“

Am Mittwoch wurde bekannt, dass die Erzeugerpreise stark angestiegen sind, was wohl an die Verbraucher weitergegeben wird, auch an finanzschwache. Droht nach der Pandemie eine finanzielle Überbelastung der Verbraucher? Wird die Union nicht die Mehrwertsteuer erhöhen müssen?

Andrew Ullmann: Verzeihen Sie mir, aber den Zusammenhang verstehe ich nicht.

In dem Sinne, dass zur Finanzierung der Pandemie-Kosten doch die Mehrwertsteuer erhöht werden muss, was dann eine erhebliche Mehrfachbelastung für Endverbraucher, damit jeden Bürger, darstellen würde …

Andrew Ullmann: Wenn die Preise steigen, ist das letzte Mittel eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Dann steigen die Preise ja noch stärker. Nein. Das was wir brauchen ist eine langfristige Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen.

Die Grünen hatten in den letzten Monaten immer mal wieder soziale Wohltaten nach einem Wahlerfolg angekündigt. Im Wahlprogramm ist davon jetzt aber gar nichts mehr zu finden, es geht eigentlich nur noch um den „ökologischen Umbau“. Haben die Grünen überhaupt noch eine klare Linie? Und wäre die überhaupt gut für wirklich alle, wie sie versprechen?

Andrew Ullmann: Das Kernproblem der Grünen ist es, dass sie jetzt versuchen, eine Volkspartei zu sein. Ohne Zweifel haben sie sehr linke Visionen an der Basis. Aber um breitere Wählerschichten anzusprechen, verheimlichen die Grünen ihre Identität. Sie versuchen jetzt einfach eine nettere Variante der CDU zu werden. Die hat als Kanzlerinnenwahlverein auch nie ein Programm gebraucht, sondern nur eine Kandidatin oder einen Kandidaten.

Die Basis-Grünen wollen einen radikalen Umweltschutz – koste es, was es wolle. Sie sagen uns aber nicht, wie das sozialverträglich gelingen soll, und sie wollen das auch gegen die Bürgerinnen und Bürger durchdrücken.Wir brauchen aber innovative Lösungen und vor allem müssen wir die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, ihre Ideen und Einwände aufnehmen und dann gemeinsam eine machbare und sinnvolle Politik umsetzen. Wir wollen zum Beispiel einen CO2-Deckel und Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommen. Das ist ganz einfach und ohne viel Bürokratie umsetzbar.

Karl Marx hat auch die große Freiheit als Traum gehabt“

Bürgerrechte und Freiheitsrechte waren ja immer das Steckenpferd der gesellschaftlichen Linken, Rio Reiser sang: „Der Mensch ist geboren, um frei zu sein“ … Nun hat sich manches verschoben: Unter der vermeintlich linken Ökologiepolitik leiden finanziell nur die finanzschwachen Teile der Bevölkerung und linke Parteien reden viel über Verbote und Gebote, aber nicht über Genuss und gutes Leben für alle? Ist die FDP mittlerweile viel eher links mit ihrem Eintreten für das Recht von jedermann und jederfrau, so zu leben, wie der- oder diejenige es will?

Andrew Ullmann: Naja, Karl Marx hat auch schon die große Freiheit als Traum gehabt, aber in der Realität sind linke Regierungen und linke Parteien immer autoritär gewesen, weil sie den Menschen vorschreiben, was Freiheit bedeutet und wie jeder frei zu sein hat.

Bürger- und Freiheitsrechte waren nie das Steckenpferd der Linken, sondern immer das der Liberalen. Uns lag immer daran, den Menschen vor zu großen staatlichen Eingriffen zu schützen, ihm einen privaten Raum zu geben, in dem nach seiner Vorstellung glücklich werden kann. Das ist das Versprechen jeder liberalen Demokratie. Dabei kann der Staat die Bürgerinnen und Bürger unterstützen. Wir wollen Aufstieg ermöglichen, indem wir beispielsweise Talentschulen entwickeln. Das heißt, dass die am besten ausgestatteten Schulen in den sozio-ökonomisch schwachen Wohnvierteln liegen. Damit zeigen wir den Kindern, dass wir an ihre Zukunft glauben und ermöglichen ihnen ihr Potential zu entfalten.

Auch für andere Altersgruppen gilt unser Aufstiegsversprechen: Wir wollen ein Midlife-Bafög statt einer Midlife-Crisis. Berufliche Neuausrichtungen müssen in der Mitte des Lebens ermöglicht werden.

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