Andrej Hunko: „Ich habe keine Stimmen gehört, die von einem jetzt bevorstehenden Krieg ausgehen“

Auch beim Besuch von Bundeskanzler Scholz saß man am langen Tisch. Bild: Kreml

Gespräch mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko (Die Linke), der in Moskau mit Vertretern der russischen Regierung, der Opposition und der Zivilgesellgesellschaft gesprochen hat, über die Sicherheitsforderungen, die Bereitschaft zum Dialog und das Minsker Abkommen.

Sie waren gerade in Moskau und haben sich dort erkundigt, wie die Stimmung und die Lage ist. Was war denn Ihr Eindruck? Immerhin ist Russland vom Westen her gesehen möglicherweise ein Kriegsland. Wie fühlen sich denn die Menschen dort? Herrscht Aufregung oder sieht man das eher gelassen?

Andrej Hunko: Erst einmal muss ich sagen, dass es sehr positiv wahrgenommen wurde, dass ein Abgeordneter aus dem Bundestag auch in dieser Situation nach Moskau gefahren ist. Ich habe auch wirklich sehr kurzfristig sehr gute und auch hochrangige Gesprächspartner gehabt. Es gab eine tolle Zusammenarbeit auch mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und auch mit der deutschen Botschaft.

Wie ist die Stimmung? Eigentlich relativ entspannt. Sie sagen, es gebe keine Pläne, in die Ukraine einzumarschieren, wie das hier dargestellt wird. Man wundert sich eher über die Mediendarstellung im Westen. Selbst der ukrainische Präsident Selenskij geht nicht von einem russischen Einmarsch aus. Was im Mittelpunkt steht, sind die Wünsche, Sicherheitsgarantien zu verhandeln. Es gibt ja ein schon länger bestehendes Bedrohungsgefühl durch die NATO-Osterweiterung, einen möglichen Nato-Beitritt der Ukraine und dann möglicherweise auch noch eine Stationierung von amerikanischen Raketen, die in sieben Minuten oder so in Moskau wären.

Das ist so ein Grundgefühl. Man sieht diese Manöver an der ukrainischen Grenze auch als Druckmittel, hier wirklich einmal zu substanziellen Verhandlungen zu kommen.

 Es wird nicht bestritten, dass es diese Truppenbewegungen gibt?

Andrej Hunko: Das bestreitet niemand, was bestritten wird, ist, dass es hier um Kriegsvorbereitungen geht. Für mich war neu, was, glaube ich, hier auch wenig wahrgenommen wird, dass aus dem russischen Außenministerium kommuniziert wird, dass man sehr wohl positive Signale in zweitrangigen Fragen aus den USA sieht. Das betrifft solche Fragen, wie die Neuverhandlung des ausgekündigten  INF-Vertrags, in dem es um atomare Mittelstreckenraketen geht, oder Transparenzfragen sowie andere Kommunikationsstrukturen, die es im Kalten Krieg noch gab. Es gibt ernsthafte Bereitschaft, darüber Verhandlungen zu führen, auch bis dahin, wie strategische Sicherheitskonzepte aussehen könnten.

Nicht zugesagt wurden von den USA die Forderungen, von denen man sich auch auf der russischen Seite bewusst ist, dass es Maximalforderungen sind: den Status von 1997 vor der Nato-Osterweiterung wiederherzustellen, Garantien dafür, dass die Ukraine niemals der NATO beitreten wird. Russland hat im Dezember Papiere vorgelegt, über man gerne diskutieren würde. Und man sieht, wie gesagt, teilweise positive Reaktionen.

Angeblich hat Lawrow schon eine 10-seitige Antwort vorbereitet, von der man aber noch nichts Näheres weiß. Sie haben ja auch mit der Opposition gesprochen oder mit Putin kritischen Organisationen wie Memorial. Werden die Ansprüche auf Sicherheitsgarantien von allen als berechtigt gesehen?

Andrej Hunko: Ich habe nicht mit allen Gesprächspartnern nur über diesen Konflikt gesprochen. Bei Memorial ging es vor allen Dingen um die Schließung, die wir auch kritisiert haben, und um die Frage, ob die die Mitgliedschaft Russlands im Europarat und damit die Zuständigkeit des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof aus Sicht von Memorial sinnvoll ist. Ich habe mit Memorial jetzt gar nicht über die Frage der Ukraine gesprochen. Es gibt ja auch diese Auseinandersetzung, um die Schließung von Russia Today in Deutschland und die russische Reaktion in Russland der Schließung der Deutschen Welle. Auch darüber habe ich viel gesprochen. Ich habe ja auch Abgeordnete wie den Vizepräsidenten  Föderationsrats, wo es um die Frage des Europarates ging. Also es waren schon noch breite, vielfältige Themen. Gesprochen habe ich auch mit Vertretern der parlamentarischen Opposition gesprochen, mit Abgeordneten  von der Kommunistischen Partei, mit Nikolai Platoschkin, der zu den Wahlen nicht zugelassen wurde, oder mit Vertretern von Gerechtes Russland, die nicht so sehr oppositionell sind. Ich habe keine Stimmen gehört, die von einem jetzt bevorstehenden Krieg ausgehen.

Die Kommunisten haben eine Resolution in der Duma eingereicht, Einiges Russland ebenfalls. Putin wird aufgefordert, die beiden „Volksrepubliken“ anzuerkennen. Das wäre nun doch ein provokativer Schritt. Wahrscheinlich wird Putin dies nicht machen, aber er scheint doch großen Druck zu geben, da Stellung zu beziehen.

Andrej Hunko: Bei einigen gab es das Gefühl, dass nach sieben Jahren Verhandlungen über Minsk II keine Fortschritte erzielt wurden. Die geht es ja nicht nur um den Waffenstillstand und die Entflechtung an der Kontaktlinie, sondern auch um eine gewisse Autonomie für die sogenannten Volksrepubliken, die Abhaltung von Wahlen und dann die Reintegration.

Und um eine Amnestie …

Andrej Hunko: Amnestie für die Separatisten und dann eine mögliche Reintegration in eine föderalisierte Ukraine. Es gibt da leider keine Bewegung. Die Versuche wurden von Nationalisten in der Ukraine von rechtsextremen Kräften immer wieder torpediert. Und da gibt es eben solche Stimmen, die sagen, wir müssen jetzt diese „Volksrepubliken“ anerkennen. Russland erkennt sie nach wie vor nicht an. Jetzt wird Druck aufgebaut. Ich habe zum Beispiel mit der Partei Gerechtes Russland darüber gesprochen, die auch eine Resolution einbringen. Ich habe dann gesagt, dass das den Abschied von Minsk II bedeute. Am Ende haben sie dann erklärt, man wolle damit eigentlich Druck auf Umsetzung von Minsk II ausüben.

Vielleicht hat sich das schon ausgewirkt. Bundeskanzler Scholz war heute in Kiew und angeblich war ein Ergebnis der Gespräche mit Selenskij, dass die Ukraine nun „zeitnah“ die politischen Gesetze erlassen wird, um lokale Wahlen in der Ukraine durchzuführen, den Sonderstatus zu gewährleisten und eine Verfassungsreform einzuleiten. Das klingt gut. Glauben Sie daran, dass da tatsächlich etwas vorangehen könnte?

Andrej Hunko: Ich habe die Meldungen noch nicht lesen können, was besprochen wurde, ich komme gerade aus dem Ausschuss. Es wäre natürlich schön, wenn es wenigstens verbal solche Äußerungen gäbe. Das heißt, man orientiert sich an Minsk II, das würde ich als Fortschritt ansehen. Ich weiß, wie schwierig die innenpolitische Situation ist, und ich weiß auch, selbst wenn die Regierung das möchte, gibt es  ein Problem mit den sehr nationalistischen Kräften in der Ukraine. Als das vor einigen Jahren mal im Parlament versucht wurde, gab es Unruhen und sogar Tote außerhalb von der Rada. Also das müsste man auch innenpolitisch durchsetzen. Und da wäre es natürlich auch gut, wenn alle westlichen Akteure diese Signale auch aussenden, inklusive den USA. Ich glaube, die haben da auch ziemlich großen Einfluss.

Sollte man meinen, aber da hört man so konkret nichts, sondern es wird eher die Schuld auf Russland geschoben, dass nichts umgesetzt wird. Deutschland und Frankreich haben ja das Minsker Abkommen durchgesetzt haben, Könnte von beiden Ländern wieder eine andere Politik ausgehen als die von den USA, Großbritannien und den osteuropäischen Staaten betriebene?

Andrej Hunko: Im Prinzip ja. Ich habe mal an einer Sitzung des EU-Ausschusses des französischen Parlaments  teilgenommen. Da war schon sichtbar, dass der Russlanddiskurs quer über die Fraktionen vielleicht „kooperativer“ mit Blick auf Russland ist, in Deutschland ist das polarisierter. Es kommen die französischen Präsidentschaftswahlen. Da gibt es natürlich auch einen Druck, auch hier zu Ergebnissen zu kommen. Ich könnte mir vorstellen, dass gerade Frankreich, aber vielleicht auch Deutschland alle, ein Interesse haben, voran zu kommen. Das heißt aber eben auch, klare Signale an Kiew auszusenden, dass diese Verfassungsreform und die sogenannte Steinmeier-Formel mit einem konkreten zeitlichen Ablauf vorsieht, wirklich angegangen wird. In den letzten Jahren sind solche klaren Signale nicht von Frankreich und Deutschland ausgegangen.

Wenn es in der Ukraine-Frage einen Durchbruch geben sollte, meinen Sie, dass sich darüber dann auch die Fronten etwas mildern kann?

Andrej Hunko: Ich glaube schon, dass die Ukraine-Frage eingebettet ist in die großen strukturellen Fragen:  die Frage der Nato-Osterweiterung, die Frage von gegenseitigen Sicherheitsgarantien und die Frage eines möglichen europäischen Sicherheitssystems unter Einbeziehung Russlands. Und da liegt der Schlüssel letztlich in Washington. Ich bin mir hier aber nicht hundertprozentig sicher.  Die amerikanische Politik ist nicht nur eskalativ, was Washington traditionell auch in der Ukraine macht, auch mit den Verbindungen in die rechten Kräfte hinein. Aber ich stelle mir die Frage, ob es nicht Interesse in Washington gibt, wofür es ja auch ein paar Anzeichen gibt, hier nicht weiter zu eskalieren, weil der eigentliche Gegner aus US-amerikanischer Sicht – das ist nicht meine Sicht – China ist. Wenn man den  jetzigen Konflikt weiter zuspitzt, dann wird das zwangsläufig auch zum Schulterschluss zwischen Russland und China führen, wie sich das schon beim Treffen von Putin und Xi zu den Olympischen Spielen angedeutet hat. Das kann eigentlich auch nicht das Interesse  der USA sein.

Deswegen bin ich ein bisschen optimistischer zurückgefahren, als ich hingefahren bin, weil die russische Seite mir gesagt hat, dass hier durchaus auch positive Signale kommen. Das Telefonat zwischen Putin und Biden wurde in den russischen Medien ganz anders dargestellt als bei uns hier im Westen. Man hat manchmal den Eindruck, dass das, was medial dann hier vermittelt wird, etwas für die hiesige Bevölkerung ist, was aber relativ wenig zu tun hat mit dem, was tatsächlich real substanziell verhandelt wurde.

Vom Westen  wird gefordert, dass Russland einlenken müsse. Auch Scholz hat heute wieder gesagt, Russland müsse deeskalieren, das heißt, die Truppen aus dem Grenzgebiet zurückziehen. Das wäre ein erster Schritt, würde aber auch bedeuten, dass Russland  sich als die schwächere Partei zeigt, die überzogen hat. Offenbar tut sich in dieser Hinsicht bislang in Russland noch nichts.

Andrej Hunko: Was zum Beispiel die Manöver in Belarus angeht, sagen die Russen, das  haben wir jetzt abgeschlossen und dann ziehen wir uns wieder zurück.

Gut, die Manöver sind aber erst am 20. Februar abgeschlossen. Ich denke, es ist für alle schwierig, wie man sich aus dem Konflikt wieder gesichtswahrend heraus bewegen kann.

Andrej Hunko: Naja, aber wenn man einige substanzielle Sachen verhandelt, ich nehme noch einmal INF, weil das  ja ein Riesenproblem ist. Trump hatte den Vertrag für die atomaren Mittelstreckenraketen aufgekündigt, der ja ein Erfolg war. 90 oder 95 Prozent der atomaren Mittelstreckenraketen wurden in den Achtzigerjahren abgebaut. Ich bin ja aufgewachsen mit dem Bedrohungsgefühl. Und wenn man hier konkreten Vereinbarungen verhandelt, dann kann Putin sich hinstellen und sagen: Guckt mal, das habe ich jetzt erreicht! Und der Westen kann sagen, dass wir durch unsere Verhandlungen erreicht haben, dass Russland deeskaliert.

Aber wenn das für Russland ein Erfolg sein soll, dann müssten doch die beiden Raketenabwehrsysteme in Rumänien und in Polen zurückgebaut werden.

Andrej Hunko: Das ist natürlich ein Riesenproblem, wo auch hier niemand drüber redet, dass man tatsächlich in Polen und Rumänien Raketenabwehrsysteme gebaut hat, die aber auch mit Tomahawks und atomar umrüstbar sind. Es heißt, dass sie zur Abwehr von Raketen aus dem Iran gedacht seien. Also wenn ich da mal auf die Karte schaue, so erscheint mir das nicht glaubwürdig. Das wird im Westen kaum wahrgenommen, aber  ist in Russland ein Riesenthema. Das müsste auch ein Gegenstand in den weiteren Verhandlungsformaten. Die müssen einfach wieder aufgenommen werden. Das ist glaube ich ganz zentral. Das wäre jetzt das positive Szenario, das ich hier sehen würde.

Sie haben selbst ein etwas kooperativeres Verhältnis zu Russland. Wird man hier in Deutschland deswegen geschnitten? Man sieht an den Politikern in der Regierung, dass doch immer mehr sagen, die Aggressivität gehe einzig von Russland aus und Russland müsse sich bewegen, während die Politiker, die etwas verhandlungsbereiter sind, als Putin-Freunde gelten.

Andrej Hunko: Man versucht natürlich, einem so ein Etikett aufzustempeln. Ich fand schon ziemlich krass, wie  noch vor ein, zwei Wochen die SPD in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine unter Druck gesetzt wurde. Aber trotz aller medialen Stimmungsmache sind 70-80 Prozent der Bevölkerung gegen die Waffenlieferungen. Ich hatte diese Kontrovers-Debatte im Deutschlandfunk über anderthalb Stunden, wo sich Hörer dazu schalten können.  Da gab es sehr viele kritische Stimmen. Also ich glaube, das funktioniert an der Stelle nicht so ganz mit der Propaganda, mit dem Feindbildaufbau Russlands – teilweise natürlich schon, aber nicht breit in der Bevölkerung. Ich habe gerade eher schon wieder den Eindruck, dass es da etwas nachlässt. Das ist natürlich jetzt eine Situation, wo kein Mensch auf dieser Welt dir sagen kann, was  in ein, zwei Wochen sein wird. Es sind Eindrücke, die ich hier schildere.

Ich hoffe, dass es nicht zu einer Eskalation kommt und dass der Besuch morgen von Scholz in Moskau ein positives Ergebnis hat. Ich erwarte eigentlich auch, dass er standhaft bleibt in der Frage der Waffenlieferungen. Das würde  den Konflikt nur noch weiter eskalieren. Und dass er auch positive Signale sendet in Richtung Verhandlungen, in Richtung gegenseitiger Sicherheitsgarantien und dass er an dem Moratorium, das Angela Merkel in Bukarest über den Nato-Beitritt von Ukraine und Georgien durchgesetzt hat, festhält.

Wobei Putin ja offensichtlich die EU schneidet und lieber mit USA den direkt spricht.

Andrej Hunko: Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, der auch natürlich angesprochen wurde in den Debatten.  Ich habe mich mit dem wichtigsten strategischen Vordenker der russischen Außenpolitik, Fjodor Lukjanow, getroffen. Er sagt, dass im Kreml nach dem Abzug von Afghanistan die Erkenntnis gewachsen sei, dass es überhaupt gar keinen Sinn macht, mit den Europäern zu verhandeln. Man müsse direkt mit den USA verhandeln, weil dieser Abzug gezeigt habe, dass die USA am Ende völlig unilateral handeln und sich letztlich auch nicht einbetten lassen. Also muss man versuchen, auf  Augenhöhe mit den USA zu verhandeln. Und in der Tat ist die EU,  sind Deutschland und Frankreich ein Stück weit außen vor. Das hängt aber eben auch damit zusammen, dass man es nicht geschafft hat, eine souveräne eigene Außenpolitik, auch ein Stück weit unabhängig von den USA, zu schaffen.

Das Gespräch wurde am 14.2.2022 um 18 Uhr geführt.

https://youtu.be/y75cwaL2tNk

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Ein Kommentar

  1. Was das Teilproblem Ukraine und speziell die aufständischen Gebiete anlangt, könnte Moskau den Druck in Richtung Umsetzung des Minsk-Vertrages erhöhen, indem eine konditionale Anerkennung für z. B. in einem Jahr beschlossen würde, die bei Vertragsumsetzung ausgesetzt würde.

    Eine Reduktion des Propagandadrucks in den deutschen Medien kann ich bisher nicht erkennen. Die TS der ARD z. B. hat aus Putins Antwort auf die Rechtfertigung des Angriffs auf Serbien – Genozidgefahrabwehr -, ohne diesen Kontext überhaupt zu erwähnen, in der er von einem Genozid an ethnischen Russen in der Ukraine spricht, ein wildes Spekulationsstück gemacht, in dem dies, ironischerweise, als Invasionsvorwand dargestellt wird.
    Nochmals, der Westen hat de facto unter diesem Vorwand angegriffen. Russland wird unterstellt, es tun zu wollen.

    Der Schulterschluss zwischen Russland und China ist bereits Tatsache. Das scheint auch Hunko nicht wahrhaben zu wollen. Und er ist auch nicht mehr rückgängig zu machen.

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