Fall Amad A: „Unvergleichliches und blamables Rechtsstaatsversagen“

Der unrechtmäßig inhaftierte Syrer Amad A. verbrannte 2018 in einer Zelle der JVA Kleve. Bild: JVA Kleve

 

Im Fall Amad A. haben Beamte aus Polizei und Justiz auf der Grundlage von widersprüchlichen Daten Entscheidungen getroffen, die zum Tod eines Menschen führten. Konsequenzen haben die Täter nicht zu erwarten. Ein ähnlicher Fall kann sich in NRW jederzeit wiederholen.

Der Schlussbericht des Untersuchungsausschuss im Landtag (SB)  dokumentiert eine erbärmliche Kumpanei zwischen Innen- und Justizministerium und dem Sicherheitsapparat in Nordrhein-Westfalen. SPD und Bündnis90/Die Grünen distanzieren sich von dem Bericht.

Alles ist gut! – aus der Sicht der (noch) Regierungsmehrheit im nordrhein-westfälischen Landtag, die 1100 Seiten brauchte, um den amtierenden Ministern Reul (Innen) und Biesenbach (Justiz) zu attestieren, dass es im Fall des Syrers Amad A. keine Fehler gab, die diese politisch zu verantworten hätten. Der Mann ist tot, das ist dumm gelaufen, darüber sind sich heute alle einig. Aber Fehler, noch dazu solche, die vorhersehbar gewesen wären, aber nicht vermieden wurden. Oder gar solche, die man hinterher zugeben müsste und dafür geradestehen müsste?! Gab es nicht!

Cui Bono – Wem nützt diese Schönfärberei?

Diese Schönfärberei hat System, denn sie führt zu einer scheinbaren Win-Win-Situation für alle beteiligten Seiten:

  1. Die Beteiligten in den Sicherheitsbehörden

Für eine behördenübergreifende, ausländerfeindliche Verschwörung hätten sich keinerlei Anhaltspunkte ergeben. Ursache sei vielmehr eine Vielzahl von individuellen Fehlern von Bediensteten der mit der Causa Amad A. befassten Behörden und Justizvollzugsanstalten gewesen. So der Ausschussvorsitzende, Dr. Geerlings (CDU), in seiner Gesamtbewertung (SB, S. 1110).

Beim diesem erhobenen Zeigefinger bleibt es dann auch: Ernsthafte Konsequenzen gibt es für keinen der Beteiligten. Strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen diverse Beamte wurden eingestellt. Die zuständige Staatsanwältin ist so unabhängig, wie das für Angehörige im Geschäftsbereich des Justizministers in einem deutschen Bundesland eben möglich ist. Die bisher noch auf Eis liegenden Disziplinarverfahren gegen beteiligte Polizei- und Justizbeamte werden meiner Erwartung nach den strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bald folgen.

  1. Landesregierung und Regierungsfraktionen

Innenminister Reul verantwortet politisch den Betrieb des nach wie vor funktionell unzureichenden Softwaresystems ViVA (Verfahren zur integrierten Vorgangsbearbeitung und Auskunft): Das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste im Geschäftsbereich seines Ministeriums versucht nicht zum ersten Mal (nach den Eigenentwicklungen IGVP und FINDUS) und mit hohen zweistelligen Millionenbeträgen aus dem Konto des Steuerzahlers, sich als die beste Software entwickelnde Polizeibehörde in der Bundesrepublik zu profilieren. Dazu kaufte man sich vom Staatsunternehmen T-Systems ein in die Jahre gekommenes System aus Berlin, versorgte diesen Dienstleister, zuletzt ab Anfang 2020, mit einem Vertrag über 27,7 Mio Euro für die Weiterentwicklung und Pflege von ViVA über die nächsten sechs Jahre. Und stellt damit sicher, dass der Auftragnehmer tut, was sein Auftraggeber will. Die Beseitigung von katastrophalen Funktionsfehlern (Kreuztreffer / Nicht-Prüfung auf unterschiedliche Fingerabdrücke vor der Datensatzzusammenführung / Unbefugte konnten „gefährliche“ Funktion ausführen – siehe unten) hat das Schicksal nicht nur „begünstigt“, wie der Vorsitzende beschönigend formuliert (SB, S. 1110). Ohne diese Funktionsfehler hätte es niemals zu einer Datensatzzusammenführung kommen können.

Auf genau dieses Risiko für Betroffene hatte ein Anwender schon fünf Monate vor der unrechtmäßigen Inhaftierung von Amad A. das LKA und das LZPD schriftlich hingewiesen. Passiert ist allerdings gar nichts: Der Fehler wurde nicht beseitigt.

Justizminister Biesenbach verantwortet nicht nur EIN unglaubliches Organisationsversagen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Mann namens Amed A. wurde in die JVA Geldern eingeliefert. Auf der Grundlage eines Haftbefehls auf den Namen Amedy G. Die unterschiedlichen Namen der Person, die vor ihnen stand und auf dem Haftbefehl hatten die „Bediensteten“ durchaus bemerkt. Die zwingend vorgeschriebene Klärung dieses Widerspruchs unterließen sie allerdings. (SB, S. 400ff, S. 1141, Ziff. 6)

  1. Die politischen Wasserträger

Und dann gibt es noch die politischen Wasserträger. Mitglieder der Regierungsfraktionen im Untersuchungsausschuss. Insbesondere solche, die sich den Aufenthalt in der ersten Reihe der politischen Futtertröge erst noch verdienen müssen. Wie zum Beispiel der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses von der CDU oder der Obmann der gleichen Fraktion im Ausschuss. Es blieb unklar, ob ihnen die intellektuelle Kapazität fehlt, um Fakten auch dann zu verstehen, wenn sie ihren politischen Interessen nicht entsprechen. Oder ob sie sich grundsätzlich gar nicht erst um lästige Fakten scheren. Jedenfalls war bei beiden noch nicht einmal ein Bemühen um Verständnis zu erkennen.

Für solche Leute macht Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen von Fakten das Leben auch erheblich einfacher. Man spart sich dann viel Zeit und braucht sich nur noch mit der Frage zu beschäftigen, wie persönlicher Nutzen und der der eigenen Partei am effektivsten zu mehren sind. Zum Beispiel als Covid-gebeutelter Einzelhandelsunternehmer auf dem Weg zu einer dauerhaft sicheren Existenz als Landtagsabgeordneter oder mit einem in dreieinhalb mühseligen Jahren als Ausschussvorsitzender wahrlich hart erarbeiteten Profil auf dem Weg zu höheren Weihen in der nächsten Landesregierung.

Diskreditierung zur Abwehr von unliebsamen Fakten

Anstelle einer Auseinandersetzung mit unliebsamen Fakten haben vor allem die CDU-Mitglieder im Ausschuss und ihr Anführer Diskreditierung betrieben. Wer sich ihren Ansichten nicht anschloss, war automatisch ein Verschwörungstheoretiker. Das ging mehrfach so, gerne auch auf Twitter, vor allem gegen Ausschussmitglieder von SPD und Bündnis 90/Grünen.

Oder auch gegen mich. Hatte ich es doch glatt gewagt, Protokolle aus dem polizeilichen Informationssystem INPOL über Veränderungen an den Datensätzen von Amad A. bzw. Amedy G. auszuwerten. Und die Ergebnisse in einem Beitrag des Magazins Monitor öffentlich zu machen. Es ergab sich aus den Protokollen deutlich, dass im Datensatz von Amedy G. regelwidrig manipuliert worden war. Ein Alias-Name war überschrieben worden mit dem Namen von Amad A. Welcher Nutzer das gemacht hatte, kann man aus einem INPOL-Protokoll nicht ersehen. Der verfälschte Datensatz ließ es aber so aussehen, als führe Amedy G. (unter anderem) auch den Namen von Amad A!

Das brachte mir eine Vorladung als „sachverständige Zeugin“ vor dem Ausschuss ein. Wo man sich für dieses Ergebnis jedoch wenig interessierte. Aber vehement Auskunft verlangte, wie ich zu den Unterlagen gekommen war. Ich beantwortete diese Frage nicht, verwies auf §53 StPO (Abs. 1, Ziff. 5) und wartete ab, bis sich der laute Tumult über diese Antwort beruhigt hatte. Seitdem war es aus CDU-Sicht anscheinend notwendig, diesen Fakt als „Verschwörungstheorie“ und mich als Quelle des Ganzen zu diskreditieren.

Was danach im Schlussbericht folgt, ist tendenziös (SB, S: 345ff): Wesentliche Teile meiner Auflistung von Ausbildung und einschlägiger Berufserfahrung bei der Entwicklung und Projektbetreuung polizeilicher Informationssysteme und ein entsprechendes Patent wurden weggelassen. Die Aussage, ich hätte eine zugesagte Information über die Quelle meiner Auswertung nicht wie versprochen nachgereicht, ist falsch. Die Titel der einzigen beiden Akten, die mir vorlagen, habe ich am 20.1.2020 per E-Mail an die „wissenschaftliche Referentin PUA III“ geschickt. Die beiden Akten sind im Schlussbericht unter den Anlage-Nummern A100020 und A10022 explizit aufgeführt. Die Behauptung (SB, S. 347), dass ein Abgleich der Unterlagen mit denen, die dem Untersuchungsausschuss vorliegen, daher (sic!) nicht stattfinden konnte, ist eine Schutzbehauptung.

Die Taktik der CDU ist nicht aufgegangen

Die Taktik der Regierungsfraktion ist nicht aufgegangen, mit der sie Öffentlichkeit und Medien von der Richtigkeit und Redlichkeit der Amtsführung von Innenminister Reul und Justizminister Biesenbach zu überzeugen versuchte. Durch die Bank sind Artikel nach Veröffentlichung des Schlussberichts in der letzten Woche überschrieben mit

Was alles NICHT rauskommt, wenn Polizei Ermittlungen gegen die Polizei führt

Die wesentlichen Mitwirkenden bei der Erarbeitung dieser so genannten Ergebnisse im Untersuchungsausschuss, bei den strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und im disziplinarischen Bereich, sind Untergebene im Geschäftsbereich des Innenministers Reul.

Ermittlungen des LKA – wenn auch nicht gegen sich selbst

Da wäre vor allem die EKHKin E. P. (EKHKin = Erste KriminalhauptkommissarIn) und „Fachfrau für Datenanalysen“ (SB, S. 1159) zu nennen, eine Beamtin im Landeskriminalamt NRW (LKA): Die einerseits die gesamten Ermittlungstätigkeiten nach dem Tod von Amad A. – vor allem im Auftrag der Staatsanwaltschaft – führte. Wozu sie geradezu prädestiniert war, nicht nur aufgrund ihrer Polizei- und IT-Kenntnisse, sondern vor allem, weil sie auch als Dienstvorgesetzte in die Umstände verstrickt war, die später zum Tod von Amad A. führten.

Diese doppelte Rolle hätte bei anderer Verfahrensführung durchaus zur Annahme eines Interessenkonflikts führen können. Im Schlussbericht der Regierungsmehrheit steht die EKHKin dagegen als eine Art Kronzeugin da. Daher bleibt unangetastet, was eigentlich am Montagmorgen, dem 09.07.2018 in ihrer Dienststelle geschehen ist. Man hätte da der Frage nachgehen können, ob auch die Mitarbeiterin der Frau P. Tomaten auf den Augen hatte oder noch träumte von den Erlebnissen des Wochenendes, als sie die Inhaftierung des Amad A. auf der Grundlage eines Haftbefehls für einen Amedy G., so wie es aus dem Justizsystem mitgeteilt worden war, einfach so ins polizeiliche Informationssystem – und damit auch in INPOL – übernahm.

Sie legte damit die Grundlage dafür, dass wenige Stunden später im INPOL (sic!)-Datensatz des Amedy G. ein vorhandener Aliasname überschrieben wurde mit einem Namen für den Amad A.; ein Sachverhalt, der fünf Tage nach der Zusammenführung der Datensätze in ViVA definitiv eine regelwidrige Manipulation bestehender Daten manifestierte, die es so aussehen ließ, als sei der Name von Amad A. ein verwendeter Aliasname von Amedy G. Der Sachverhalt lässt sich mit der (angeblichen) Datensatzzusammenführung in ViVA fünf Tage zuvor nicht erklären, sondern geht zurück auf die fehlerhafte Erfassung der Inhaftierung von Amad A. in der LKA-Dienststelle. Im Schlussbericht kommt dieser Umstand nicht vor.

Ermittlungsunterstützung durch das LZPD – das mitverantwortlich ist für technische Fehler

Hilfreich waren bei der Herbeiführung des politisch gewünschten Ergebnisses auch Mitarbeiter aus dem Landesamt für Zentrale polizeiliche Dienste (LZPD), das ebenfalls zum Geschäftsbereich des Innenministers gehört. In dessen Verantwortungsbereich liegt, dass das in NRW damals gerade neu eingeführte System ViVA noch ein gutes Stück entfernt war von funktioneller Verlässlichkeit und Benutzerfreundlichkeit.

Auch hier sollte man auf eine Personalie achten, um diesen Sachverhalt richtig einzuordnen: Sie betrifft einen gewissen Jürgen Mathies, seit 2017 Staatssekretär im NRW-Innenministerium und damit die rechte Hand von Innenminister Herbert Reul. Mathies war fast zehn Jahre lang der erste Direktor des damals neu gegründeten Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste Nordrhein-Westfalen (LZPD). Und damit eng verbunden mit dieser Behörde und allen, was die so an Produkten und Services hervorbrachte.

Herr Reul hatte ja mehrfach während der Causa Amad A. den schwarzen Peter für die Beschaffung von ViVA auf seinen Amtsvorgänger, den SPD-Innenminister Jäger geschoben. Er überspielte damit, dass die fachliche Entscheidung vom LZPD-Präsidenten Mathies zu verantworten war, den Herr Reul als seinen Innenstaatssekretär vom Amtsvorgänger Jäger übernommen hatte und der bis heute dieses Amt bekleidet.

Kritische Funktionsdefizite von ViVA, die sich zum Nachteil von Amad A. auswirkten

Ganz bewusst spreche ich nicht von Fehlern. Denn ein „Fehler“ würde vorliegen, wenn eine Programmfunktion gefordert war und nicht anforderungsgemäß funktioniert. Da wir nicht wissen, ob es solche Leistungsanforderungen überhaupt gab, ist es sicherer, bei den drei genannten Fällen von Funktionsdefiziten zu sprechen.

Da diese aber im Vorhinein absehbar (sic!) ein hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen darstellten, hätte der Verantwortliche (LZPD/MI/LKA) vorab eine Abschätzung der Folgen der vorhergesehenen Verarbeitungsvorgänge für den Schutz personenbezogener Daten durchführen müssen, die so genannte Datenschutz-Folgenabschätzung. Meine Anfrage bei der Landesdatenschutzbeauftragten NRW, ob dies für die relevanten ViVA-Funktion geschehen ist, blieb im Kern unbeantwortet.

  1. Der Kreuztreffer, der aus den Datensätzen von zwei Menschen einen machen

Das System ViVA brachte es nicht nur fertig, einen sogenannten Kreuztreffer schon dann anzuzeigen, wenn im Datensatz eines Amad A. ein Geburtsname „Amed“ auftaucht, und in einem Datensatz eines anderen Menschen der gleiche Allerweltsname erscheint.

Für jedermann stellt sich damit die Frage, warum dann eigentlich im System ViVA nicht ständig und viel zu viele Kreuztreffer angezeigt werden zwischen den vielen Müllers, Meiers, Schulzes, Thomas’sen und Denis’sen.

  1. Eine unbefugte Mitarbeiterin konnte eine für Betroffene hochgefährliche Funktion auslösen

Zu der Zusammenführung der Datensätze von Amad A. und Amedy G. in ViVA sei es gekommen, behauptet das LZPD und übernimmt es die Regierungsmehrheit, weil eine Mitarbeiterin in einer anderen Polizeidienststelle einen Hinweis auf die mögliche Identität erhielt (beide hatten den Namensbestandteil Amed!) und daraufhin die Datensätze zusammenführte. Damit hatte der Amad A. die Haftbefehle von Amedy G. in ViVA „geerbt.“ In INPOL wurde diese neue Sachlage nicht übernommen, weil es nicht den formalen Regeln von INPOL für die Datensatzzusammenführung entsprach. Allein das hätte schon zum Schrillen einer Alarmglocke führen müssen!

Von Zuhörern der entsprechenden Ausschusssitzung hörte ich, dass die Frau, die man hier zur Schuldigen abstempelt, sich bei ihrer Vernehmung daran nicht erinnern konnte. Eine Kollegin bzw. ihr Vorgesetzter sagten, sie war dafür weder befugt, noch ausgebildet. Doch ViVA unterband nicht, dass eine unbefugte Bedienkraft einen so schwerwiegenden Eingriff in den Datenbestand vornehmen konnte. Das weckt Zweifel an der Wirksamkeit des Rechtesystems in diesem System.

  1. ViVA erkannte nicht, dass die beiden Männer unterschiedliche Fingerabdrücke hatten

ViVA ist auch das INPOL-Landessystem für NRW. Im INPOL-Bestand ist für alle Personen, die bei der Polizei erkennungsdienstlich behandelt wurden, auch ein eindeutiger Schlüssel für deren Fingerabdrücke gespeichert, die so genannte D-Nummer. Denn zu diesem Zweck werden sämtliche Fingerabdrücke beim BKA ausgewertet und katalogisiert. Jeder Fingerabdrucksatz, für den das BKA kein Doppel in seinem Millionenbestand gefunden hat, erhält eine eigene, eindeutige Nummer. Sowohl der Amad A. als auch der Amedy G. waren (mehrfach) erkennungsdienstlich behandelt worden. Sie hatten also D-Nummern und zwar unterschiedliche!

Unterschiedliche D-Nummern bedeuten unterschiedliche Fingerabdrücke und sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich um unterschiedliche Personen handelt. ViVA hat nicht einmal das verglichen. Und machte daher aus zwei Datensätzen von zwei unterschiedlichen Personen einen Datenmischmasch, den den Amad A. hinter Gitter und ein viertel Jahr später ins Grab brachte.

Im vorgelegten – angeblich lückenlosen – Bearbeitungsprotokoll von ViVA fehlen Aufzeichnungsdaten

So wie eine Videokamera den Eingang zu einer Bank überwacht und aufnimmt, wer da wann hineingeht, so schreibt ein Protokoll im System ViVA fortlaufend mit, wer wann welche Informationen in einem Datensatz hinzufügt, ändert, löscht oder abfragt. Die Behauptung, dass die unbefugte und dafür nicht geschulte Bedienerin die Datensätze zusammengeführt habe, müsste daher leicht zu beweisen gewesen sein. Das LZPD – nur dort darf man das – könnte, ja müsste, lediglich einen Protokollauszug für den ViVA-Datensatz von Amad A. vorlegen, um damit die Darstellung des LZPD hieb- und stichfest zu beweisen.
Und auch hier wackelt die Beweiskette: Denn ausgerechnet aus dem Zeitraum vom 04.07.2018 bis zum 09.07.2018, das sind die Tage rund um die Verhaftung von Amad A., fehlen die Aufzeichnungen über Bearbeitungen in diesem Protokoll. Dabei war in den fünf Tagen eine ganze Menge passiert:

  • Der Amad A. war am 4.7. morgens nach einer Schwarzfahrt von der Polizei mitgenommen und befragt worden,
  • er war ED-behandelt worden, das landete allerdings erst Tage später in ViVA;
  • danach soll es zur Datensatzzusammenführung gekommen sein, aber darüber findet sich (auch) nichts in den Protokollaufzeichnungen.
  • Amad A. war, zwei Tage später, am 06.07. an einem Baggersee in Badehose aufgegriffen und in Gewahrsam genommen worden
  • und nach einer Identitätsfeststellung (als Amad Ahmad!) in Haft gekommen, nachdem man den Mischmasch-Datensatz in ViVA gefunden hatte, in dem nicht nur Bestandteile enthalten waren, die den Amad A. betrafen, sondern auch Fahndungsnotierungen und Haftbefehle aufgrund von Urteilen gegen einen völlig anderen Menschen namens Amedy G.

Nichts davon spiegelt sich in den Aufzeichnungen im Protokoll aus diesen Tagen wieder. Die Aufzeichnungsfunktion war auch gar nicht abgeschaltet, es fehlen nur die aufgezeichneten Daten in der Excel-Liste, die das LZPD in Form zu den Ermittlungsergebnissen für den Untersuchungsausschuss beisteuerte.

Auf meinen Hinweis dazu lieferte das LZPD eine Erklärung, die mit dem Sachverhalt wenig zu tun hat. Später sprang der ViVA-Hersteller T-Systems seinem Kunden zur Seite. Und der ganz spät noch vom Ausschuss beauftragte Gutachter schloss sich der Einfachheit halber deren Ausführungen an. Eigene Untersuchungen unternahm er nicht. Die Erklärungen beschäftigten sich gar nicht mit der Frage, warum die Aufzeichnungsdaten über Bearbeitungen am Datensatz von Amad A. in der vom LZPD vorgelegten Excel-Liste fehlten.

Und die interne Ermittlungsführerin, EKHKin E. P. aus dem LKA, ersetzte eigene Untersuchungen durch Verweise auf die Behauptungen des LZPD, gab auch als Kriminalistin und „Fachfrau für Datenanalysen“ der Möglichkeit keinen Raum, dass die Fehler von ViVA der Grund sein könnten, warum in der Excel-Liste des LZPD im tatkritischen Zeitraum keine Aufzeichnungsdaten enthalten sind. Obwohl das LZPD damit in Kauf nahm, seine eigene Behauptung über die angebliche Verursachung durch die unbefugte Mitarbeiterin nicht belegen zu können.

Schlussfolgerungen für jedermann

Der Fall des Amad A. hat ein Beschädigungspotenzial, das jedermann betreffen kann, der es mit Polizei und Justiz in NRW zu tun bekommt.

  1. Für eine behördenübergreifende, ausländerfeindliche Verschwörung hätten sich keinerlei Anhaltspunkte ergeben, sagt der Ausschussvorsitzende in seiner Gesamtbewertung (SB, S. 1110). Also kann sich ein ähnlicher Fall nicht nur zum Schaden von Syrern, Irakern oder Afghanen oder anderen Nicht-Deutschen wiederholen, sondern gegenüber jedermann, unabhängig von Herkunft, Aussehen und Staatsangehörigkeit des Betroffenen.
  2. Mehr als zwanzig „Bedienstete“ aus befassten Polizeibehörden und Justizvollzugsanstalten hätten eine „Vielzahl von individuellen Fehlern“ begangen (SB, S. 1110). Sie wären in der Lage gewesen, die Unrechtshaft von Amad A. zu vermeiden bzw. zu erkennen und die Fehlerkette zu beenden. (S. 1140 ff).
    • Da wurden von vielen Beteiligten zwei unterschiedliche Namen zur Kenntnis genommen: Amad A. und Amedy G. Keiner ist dem nachgegangen, es war den Beteiligten egal.
    • Ein Haftbefehl gegen Amedy G. lag vor und wurde vollstreckt gegen Amad A. Kann offensichtlich passieren und soll in der Zwischenzeit in NRW erneut passiert sein.
    • Immer wieder taucht der Name des KHK F. G. im Schlussbericht auf: Er „diente“ einer Kollegin ohne jegliche Substanz den Amad A. als angeblichen Vergewaltiger an, bei einer Tat, die sich später als erfunden herausstellte (SB, 1146ff). Er erhielt am 27.07.2018 einen Anruf von der Staatsanwaltschaft in Braunschweig mit dem deutlichen Hinweis, dass Amad A. nicht der von dort zur Verhaftung ausgeschriebene Amedy G. sei. Auch das ignorierte er. (SB, S. 1163f). Hätte er reagiert und den Hinweis überprüft, hätte Amad A. freigelassen werden müssen (SB, S. 1164) Der Schlussbericht macht deutlich, dass solches Verhalten für einen Kriminalhauptkommissar in NRW ohne persönliche Konsequenzen bleibt. Selbst wenn der Betroffene in Folge dessen ums Leben kommt.
    • Im LZPD war ein Hinweis des BKA aufgelaufen, demzufolge die Datensätze von Amad A. und Amedy G. in INPOL nicht mehr übereinstimmten mit dem Bestand im Landessystem ViVA (SB, S. 1164f). Daraufhin sorgte eine LZPD-Mitarbeiterin der so genannten „Verbundverfahrenskontrolle“ wieder für Übereinstimmung: Sie löschte die Datenanteile, die vom Amedy G. stammten, aus dem ViVA-Datensatz des Amad A. „Datentechnisch“ war also wieder alles bestens! Auf die Frage, warum sie nicht auch für eine Korrektur des Fehlers im realen Leben gesorgt hat – spätestens jetzt, im August 2018, hätte Amad A. aus der Haft entlassen werden müssen – antwortete sie: „So weit tauchen wir in die Datensätze (sic!) nicht ein … Diesbezüglich gab es keine Prüfung ….“ Daraus folgere ich: Eine solche Verbundverfahrenskontrolle sorgt für „Datenkonsistenz“. Für die Übereinstimmung zwischen Datenwelt und realer Welt fühlt sie sich nicht zuständig – dafür ist anscheinend keiner zuständig!!
    • Zeugen sagen, dass Amad A. in der Haft deutlich gesagt hat, er sei nicht Amedy G. und zur Zeit des Urteils, das dem Haftbefehl vorausging, auch gar nicht in Deutschland gewesen. Das war ja „nur eine Behauptung“ des Betroffenen und wurde ignoriert.
    • Amad A. war in seinem Heimatland Syrien in Haft gewesen und dort gefoltert worden. In der Haft drohte man ihm – substanzlos – die Abschiebung nach Syrien an, wo er um Leib und Leben fürchten musste und was ihn daher in große Angst versetzte (SB, S. 1141). Ist das normaler Umgang mit einem Inhaftierten?!

Nicht „individuelle Fehler“, sondern systemische Gleichgültigkeit der beteiligten „Bediensteten“

Ein solches Verhalten von diversen „Bediensteten“ aus Polizei und Justiz ist nicht Ausdruck „einer Vielzahl (sic!) von individuellen Fehlern“, sondern ein Zeichen von systemischer Empathielosigkeit und geistiger und sozialer Verrohung.Das gehte über den sonst gerne behaupteten Einzelfall im Hinblick auf die ganz unterschiedlichen Aufgaben, Dienstgrade und Behörden der Beteiligten weit hinaus. Zwischen Rückenlehne und Bildschirm ihrer Arbeitsplätze entschieden sie anhand von widersprüchlichen Daten über das Schicksal eines Menschen, der ihnen vollkommen gleichgültig war.

… gedeckt vom Innen- und Justizminister

Ein ähnlicher Fall kann sich auch in Zukunft gegenüber anderen Betroffenen jederzeit wiederholen. Denn der Innenminister sendet das deutliche Zeichen aus: Wir decken Euch!
Während das Justizministerium wohlwollend zur Kenntnis nimmt, dass die Staatsanwältin – eine offensichtlich weitsichtige Beamtin aus dem gleichen Apparat – „keine Ansatzpunkte“ für strafrechtliche Ermittlungen sieht.

Und aus der Polizei ist bisher auch noch niemand öffentlich aufgestanden und hat gesagt: „So sind wir nicht!“

Was für Sie und jeden anderen, der mit dieser Polizei und Justiz, in Berührung kommt, nur bedeutet: Es gibt weder Schutz vor einer solchen Kette von Fehlverhalten, noch eine nachträgliche Untersuchung, Ahndung der Fehler oder Wiedergutmachung von Schäden.
Die Nicht-Aufarbeitung der Ereignisse zum Schaden von Amad A. durch Polizei, Justiz und Politik und zuletzt diesen Untersuchungsausschuss ist eine arrogante Demonstration von „Wir tun es, weil wir’s können“; das Verhalten ist nur orientiert an den jeweiligen eigenen Interessen. Was dabei herauskommt, ist aus Sicht von SPD und Bündnis 90/Die Grünen (SB, S: 1142): „ein Vorgang, der als unvergleichliches und blamables Rechtsstaatsversagen in die Geschichte unseres Landes eingehen wird“.

Der Artikel ist zuerst auf PoliceIT erschienen, wo Annette Brückner kritisch über polizeiliche Informationssysteme und Datenbanken berichtet, die tief in unser Leben eingreifen, wir aber in der Regel davon kaum Kenntnis haben.

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